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Der jüdische Prozeß

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Man hat nun im 20. Jahrhundert die Geschichtlichkeit des Kaiphasprozesses überhaupt leugnen wollen. Ich nenne hier nur den jüdischen Gelehrten Jean Juster (1914), dem sich dann mein ehemaliger Lehrer in Berlin, Hans Lietzmann (1931), anschloß. Der Hauptgrund für diese Ablehnung, die wir neuestens wieder bei Günther Speicher* lesen, ist folgender: Die junge Christengemeinde konnte einfach nicht den Vertreter des römischen Kaisers als den Schuldigen am Tode Jesu anprangern, ohne ärgste Repressalien von seiten des Staates befürchten zu müssen. „Es gibt nur einen Ausweg: Nicht die Römer, sondern die Juden sind die eigentlich Schuldigen. Pontius Pilatus wird von den Evangelisten aus der Verantwortung entlassen — und mit ihm ist der Kaiser, der römische Staat schuldlos“ (Speicher, 318). Doch so ganz unschuldig ist Pilatus auch nach den Evangelisten nicht, im Gegenteil, seiner eigentlich ganz unrömischen Charakterschwäche ist es schließlich zuzuschreiben, daß Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Den jüdischen Anklägern muß man immerhin zugute halten, daß sie wenigstens subjektiv von Jesu Schuld überzeugt waren, was ihnen später Petrus ausdrücklich bescheinigt (Apg. 3, 17: „Ich weiß, Brüder, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, wie auch eure Vorsteher ...“). Pilatus dagegen hat wider besseres Wissen — sowohl er wie auch Herodes fanden keine todeswürdige Schuld an Jesus (Lk. 23, 14 ff.) — den Stab über das Leben dessen gebrochen, der gegeißelt und mit Dornen gekrönt vor ihm stand. Daß jene Verurteilung unter dem massiven Druck der anklagenden Synedristen erfolgte, ist richtig, aber unter normalen Umständen hätte ihm der Statthalter durchaus nicht so schmählich unterliegen müssen. Doch sein provozierendes, die religiösen Gefühle der Juden unnötig verletzendes Vorgehen, das wir aus Philo und Flavius Josephus kennen, hatte ihm ziemlich bald einen Verweis des Kaisers Tiberius eingetragen (Philo, Leg. ad Caium 38, 299—305). Er wagte deshalb nicht, es zum zweitenmal zu einer jüdischen Beschwerde in Rom kommen zu lassen. Wenn er jetzt aber einen, „der sich selbst zum König macht“ (Joh. 19, 12) und damit automatisch die Oberhoheit Roms ablehnt, für unschuldig erklärt, so kostet ihn das unfehlbar seine Stelle. „Dann bist du kein Freund des Kaisers“ (Joh. 19, 12), tönt es in seine Ohren, damit war die empfindlichste Stelle eines jeden römischen Beamten getroffen, und die Entscheidung herbeigeführt. Kaiphas und sein Anhang waren am Ziel.

Die sicherlich auffälligen wiederholten Versuche des Pilatus, das Todesurteil über Jesus zu vermeiden, entsprangen bestimmt nicht seiner (nicht vorhandenen) angeborenen Milde oder einer persönlichen Sympathie für den Angeklagten, die schroffe Frage an Jesus (Joh. 18, 35) zeigt das wohl zur Genüge. Der Widerwille des Statthalters, den Wunsch des Hohen Rates zu erfüllen, ist keine spätere christliche Erfindung, sondern beruht auf zwei handfesten Tatsachen: a) Er wird in Jesus einen politisch ungefährlichen, aber philosophisch angehauchten Wanderprediger gesehen haben („Was ist Wahrheit?“), wie sie damals nicht selten die Lande durchstreiften, b) Er möchte den Juden, die ihn beim Kaiser angezeigt hatten, möglichst wenig Entgegenkommen zeigen. Das Pilatusbild der Evangelien ist also mit dem der Profanquellen durchaus nicht so unvereinbar, wie heute immer wieder behauptet wird, im Gegenteil: Auf die juristisch völlig korrekte Frage des Landpflegers, welche Anklage sie „gegen diesen Menschen“ erheben, gaben ihm die Juden eine reichlich respektlose Antwort, die Pilatus nicht minder bissig mit einem ironischen Hinweis auf ihre politische Abhängigkeit quittierte (Joh. 18, 29—31). Eine bessere Bestätigung für das von den außerbiblischen Quellen berichtete sehr gespannte Verhältnis zwischen beiden Verhandlungspartnern als diese drei Verse kann man sich kaum denken.

Günther Speicher lehnt zur Sicherheit auch die Barabbasszene (Mk. 15, 15) als ungeschichtlich ab, denn „es gibt nicht eine einzige außerevangelische Quelle, die vom Brauch der Begnadigung in dieser Form spricht“. Nur der Kaiser hätte den Barabbas begnadigen können. Nun wies aber A. Deißmann schon vor Jahrzehnten auf einen Florentiner Papyrus aus dem Jahre 85 n. Chr. hin, in welchem der Statthalter von Ägypten Septimius Vege-tus einem Angeklagten namens Phibion zurief: „Du hättest verdient, Geißelhiebe zu bekommen ... ich will dich aber dem Volkshaufen schenken3.“ Weitere Beispiele ähnlicher Art könnte Speicher jetzt bei Jean Colin8 nachlesen. Die römischen Zentralbehörden waren klug genug, der einheimischen Bevölkerung in den Provinzen ein gewisses Mitspracherecht im Gerichtsverfahren zu konzedieren.

Auch beim Drama von Golgotha fehlte also nicht die Schuld, allerdings eine wahrhaft tragische Schuld. Der Held selbst aber ist frei davon. Die anfangs zitierte Auffassung des Isaias hat später Paulus ausdrücklich bestätigt: Gott „hat Ihn für uns zur Sünde gemacht“ (2 Kor. 5, 21). Ähnlich denkt der erste Papst über die letzten Hintergründe der Karfreitagstragödie: „Er trug selbst unsere Sünden an Seinem Leib hinauf auf das Kreuzesholz, damit wir der Sünde absterben und für die Gerechtigkeit leben“ (1. Petr. 2, 24). Ob beim Prozeß vor dem Hohen Rat alle damals geltenden Rechtsvorschriften auch wirklich eingehalten wurden oder ob mit Berufung auf den „Staatsnotstand“, auf Zeitdruck usw. manche von ihnen unbeachtet blieben, ist demgegenüber eine sekundäre Frage und bis heute sowohl bei jüdischen als auch bei christlichen Fachgelehrten umstritten. Für die ersteren nur ein Beispiel: J. Klausner, „Jesus von Nazareth“, Jerusalem 1952, spricht „von der Tragik Seines schrecklichen Todes ... der zu Unrecht (wenn auch in Übereinstimmung mit der formalen Gerichtsbarkeit seiner Zeit) über Jesus kam“. Anderer Meinung dagegen war zum Beispiel der jüdische Gerichtshof in Jerusalem, der (wenn die Angaben richtig sind) am

25. April 1933, also 1900 Jahre nach dem Tod Christi, nach einer genauen Überprüfung des ganzen Tatbestandes zu dem Ergebnis kam, daß das Todesurteil über Jesus „einer der schrecklichsten Irrtümer war, den Menschen je begangen haben, und daß sich das jüdische Volk es zur Ehre anrechnen werde, ihn wieder gutzumachen4“.

Dieser noblen symbolischen Geste steht auf der anderen Seite jetzt die bekannte Judendeklaration des II. Vatikanischen Konzils gegenüber, die — trotz ernster Gegenstimmen, ja sogar gefährlicher Drohungen — in aller Form eine Kollektivschuld des jüdischen Volkes als unrichtig ablehnt und die große Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum hervorhebt. Kein vernünftiger Mensch wird heute dem nächstbesten Athener Vorwürfe machen, daß einer seiner Ahnen am Tod des Sokrates schuld war oder jeden einzelnen Deutschen ohne Ausnahme für die Greuel der jüngsten Vergangenheit bestrafen wollen. Lange vor dem Konzil hat schon die christliche Bibelwissenschaft eine Kollektivschuld des damaligen Judentums abgelehnt, denn viele Juden in Stadt und Land liebten Jesus und glaubten an Ihn, man denke nur an die Begeisterung beim Palmeneinzug. C. Dekker wies erst kürzlich darauf hin, daß der Odilos (= große Volksmenge) wohl als Rufer des „Hosannah“ genannt wird (Joh.. 12, 12), in der Leidensgeschichte jedoch kommt dieser Ausdruck überhaupt nicht mehr vor. „Der Ochlos ist Jesus treu geblieben, aber die Obrigkeit der Judäer hat in früher Morgenstunde ein römisches Urteil erwirkt, ehe er sich für Ihn einsetzen konnte“ New Test. Stud. 13 (1966). Es waren also wesentlich weniger und andere Menschen, die Crucifige schrien, als die „Hasannah“-Rufer am Palmsonntag.

Als Beweis für die oben vorgetragene Behauptung sei abschließend der Satz von P. Fiebig in den Theol. Studien und Kritiken 104 (1932) angeführt: „Was Pilatus tat, ist kein Grund, sämtliche Römer aller Zeiten dafür verantwortlich .zu“machen. Was kaiphas und die sonstigen jüdischen Oberen jener Zeit getan haben, ist kein Grund, das gesamte jüdische Volk jener Zeit oder gar späterer Zeiten bis zur Gegenwart dafür verantwortlich zu machen.“

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