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Verbindliches Gotteswort

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Die Diskussion über die Datierung der vier Evangelien ist oft ein Stellvertreter-Disput. Es geht dabei vielfach nicht um eine rein sachliche Erhebung der Abfassungszeit. Vielmehr steckt das Interesse dahinter, den Anteil historisch zuverlässiger Jesus-Überlieferung durch eine frühe Datierung möglichst groß zu halten, beziehungsweise durch Annahme einer späteren Niederschrift den Einflüssen theologischer Reflexion der ersten christlichen Gemeinden einen breiten Spielraum zu belassen.

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Die Diskussion über die Datierung der vier Evangelien ist oft ein Stellvertreter-Disput. Es geht dabei vielfach nicht um eine rein sachliche Erhebung der Abfassungszeit. Vielmehr steckt das Interesse dahinter, den Anteil historisch zuverlässiger Jesus-Überlieferung durch eine frühe Datierung möglichst groß zu halten, beziehungsweise durch Annahme einer späteren Niederschrift den Einflüssen theologischer Reflexion der ersten christlichen Gemeinden einen breiten Spielraum zu belassen.

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Auch extreme (und deshalb falsche) Interpretationen von Schrift-Inspiration sind oft im Spiel. Die eine läßt nur das als verbindliches Wort Gottes gelten, was zweifellos auf den historischen Jesus zurückgeht; für die andere sind nur mehr die verkündigenden Gemeinden in den Texten greifbar, und die Frage, ob den Aussagen auch historische Sachverhalte zugrunde liegen, ist uninteressant oder zumindest in keiner Weise mehr zu beantworten.

Das katholische Verständnis von der Bibel als schriftgewordenes Gotteswort ist ausgewogener. In der Konzilskonstitution „Dei Verbum" heißt es in Artikel elf: „Da alles, was die inspirierten Verfasser oder Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte." Es kommt demnach nicht darauf an, ob ein Satz so und nicht anders von Jesus gesprochen wurde. Als inspiriert gilt ein Text dann, wenn die Kirche in den Ausführungen des Evangelisten eine authentische Wiedergabe dessen sieht, was Jesus uns vermitteln wollte. Deshalb braucht sich der Gläubige nicht ängstlich nur an das zu klammern, was historisch gesichert ist.

Glaubensverunsicherung?

Dieser Priorität der Geistwirkung in den biblischen Verfassern ist allerdings hinzuzufügen, daß ihre Ausführungen den entscheidenden Impuls durch das Wirken des historischen Jesus empfangen haben (vergleiche Dei Verbum Artikel 19).

Aus dieser Sicht von Offenbarung ist es möglich, an die Frage der Abfassungszeit der Evangelien nüchtern und sachlich heranzugehen. Denn von ihrer Beantwortung ist keine Verunsicherung in einem wesentlichen Glaubensinhalt zu befürchten.

Die Mehrzahl der Forscher datiert die Entstehung der Evangelien in die Jahre 65 bis 100 nach Christus. Die wichtigsten Argumente für diese Sicht seien kurz zusammengefaßt:

Ein sicheres historisches Faktum ist die Eroberung Jerusalems und die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 nach Christus. Zumindest bei Matthäus und Lukas wird bereits rückblickend auf dieses Ereignis Bezug genommen:

Mt 22,1-14 beinhaltet die Parabel vom Gastmahl eines Königs, der für seinen Sohn die Hochzeit vorbereitet. Die Knechte rufen die Geladenen zum Fest, diese wollen nicht kommen. Auf die wiederholte Aussendung der Diener durch den Gastgeber reagiert ein Teil der Gäste höchst eigenartig: sie packen die Boten, mißhandeln und töten sie (Vers 6).

Ebenso überzogen erscheint auch die Vergeltungsmaßnahme des Königs: er schickt seine Streitmacht, vernichtet die Mörder und steckt ihre Stadt in Brand (Vers 7). In diesem, vom Zusammenhang her eigenarti-

gen Handeln, ist eine allegorische Anspielung auf die Tötung der Propheten und die Zerstörung Jerusalems zu sehen. Diese Sicht wird auch durch die entsprechenden Paralleltexte bei Lukas (14,15-24) und im apokryphen Thomasevangelium (Nummer 64) bestätigt. Die beiden sehr ähnlichen Texte wissen von diesen eigenartigen Reaktionen nichts.

Vergleicht man Lk 21,20-24 mit der entsprechenden Passage bei Markus (13,14ff), so ist leicht festzustellen, daß der dritte Evangelist eine ursprünglich recht rätselhafte Rede durch den Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems verdeutlicht. Seine Angaben über den Hergang dieser Vernichtung entsprechen auch den außerbiblischen Aussagen bei Flavius Jose-phus: ein heidnisches Heer umschließt die Stadt, die Bewohner werden als Gefangene in alle Länder verschleppt; Lk 19,43 ergänzt: die Feinde werfen rings herum einen Wall auf und schließen die Stadt dadurch von der Umwelt ab.

Die übrigen Argumente für die Datierung von Matthäus

und Lukas um 80 nach Christus hängen vor allem an der gegenüber dem älteren Markus-Evangelium fortgeschrittenen Situation, wobei auch für Markus bereits eine gewisse Zeit der Entwicklung nach dem Tod Jesu (zirka 30 Jahre) angenommen werden muß: Bei Matthäus und Lukas werden verstärkt Ämter und Ordnungen in den Gemeinden sichtbar (Mt 18, 15-20; Lk 22,26 „der Führende"); dem Wirken Jesu werden Kindheitserzählungen vorangestellt (Mt und Lk 1+2); der über weite Teile beibehaltene Aufbau des Markus wird durch Texte aus zusätzlichen Quellen erweitert; besonders bei Lukas ist die Diskussion über die enttäuschte Erwartung eines nach außen hin sichtbaren Anbruchs des Gottesreiches spürbar (19,11 und andere); und so weiter.

Das Johannes-Evangelium weist ein noch späteres Stadium in der Geschichte des frühen Christentums auf (90 bis 100 nach Christus): Jesus spricht nicht mehr wie bei den Synoptikern als jüdischer Wanderprediger in prophetisch-provokanter Sprache, sondern als bereits zum Vater erhöhter Offenbarer, der in aller Deutlichkeit der Sohn ist, in dem man auch den Vater sieht (14,9) - der Stil mutet fast mystisch an; das Interesse an einer exakten Biographie Jesu tritt noch weiter zurück - den Schwerpunkt bilden meditative Reden; jene Wundererzählungen, die mit Texten aus Mt, Mk und Lk verglichen werden können, lassen eine Steigerung im Wunderbaren erkennen.

Wunschdenken eines Autors

Am schwierigsten ist das Abfassungsdatum des Markus-Evangeliums zu bestimmen. Wohl gibt es etliche Wissenschaftler, die in der Endzeitrede (Mk 13) verschlüsselte Hinweise auf die Zeit unmittelbar vor, während oder nach dem Jüdischen Krieg finden wollen: der „unheilvolle Greuel" (Vers 14) könnte die Entweihung oder Vernichtung des Tempels bedeuten; die Flucht in die Berge Judäas (Vers

14), die Winterzeit (Vers 18), die auftretenden Messiasanwärter (Vers 21) könnten zum Kolorit der Jahre 66 bis >70 passen. Doch es muß zugegeben werden, daß diese Hinweise nicht so sicher sind wie jene bei Matthäus und Lukas.

Deutlicher gegen eine frühe Abfassungszeit spricht die Beobachtung, daß Markus seiner Gemeinde jüdische Sitten und Einrichtungen an einigen Stellen erklären muß (7,3f; 14,12; 15,42): Wenn man bedenkt, daß die Debatte um die Beachtung des jüdischen Gesetzes auf dem sogenannten Apostelkonzil von Jerusalem frühestens im Jahr 45 nach Christus stattgefunden haben kann, so bedarf es doch einer längerfristigen Entwicklung, bis die Entfremdung zwischen Juden und Christen so groß geworden war, daß Erläuterungen notwendig wurden.

Dazu kommt, daß die Exegeten bereits schriftlich vorgegebene Sammlungen von Texten als Urbestand des Evangeliums eruieren konnten - auch das setzt eine längere Zeit für die Entstehung der Endfassung voraus. Weiters steht fest, daß Markus kein Augenzeuge des Lebens Jesu war, da er gelegentlich ungenaue Ortsangaben macht (etwa 5,1; 7,31). Aus all diesen Gründen wird die Abfassungszeit meist zwischen 65 und 70 nach Christus angesetzt.

Man kann heute kaum über die Entstehungszeit der Evangelien sprechen, ohne die Diskussion über das kleine Papyrus-Fragment 7Q5 in den Höhlen von Qumran zu berücksichtigen. Nur einige wenige Buchstaben sind darauf zu entziffern. Einige Forscher meinen, ein um das Jahr 50 nach Christus zu datierendes Schriftstück gefunden zu haben,das den Vers Mk 6,53 enthalte.

• Die Richtigkeit dieser Behauptung stößt bei Fachleuten auf Skepsis. Doch: auch wenn man 7Q5 für ein altes Markus-Fragment hält, ist damit lange nicht sichergestellt, daß „Markus sein Evangelium wenige Jahre nach dem Tod und der Auferstehung Christi niederschrieb", wie dies die Zeitschrift „30 Tage in Kirche und Welt" (6/ 91) auf der Titelseite behauptet hat. Es könnte höchstens heißen, daß die dem Markus vorliegenden Traditionen noch umfangreicher waren, als dies bislang angenommen wurde. Die ebenda aufgestellte Behauptung, 7Q5 würde „ein Jahrhundert moderner Bibelinterpretation geradezu unter den Tisch kehren" (S.10), erscheint eher als Wunschdenken eines Autors, der nicht verstanden hat, daß die Bibel auch dann Wort Gottes bleibt, wenn sie nicht in allen Punkten die Geschichte exakt wiedergibt.

Der Autor ist Pfarrer in Wien.

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