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Kein Protokoll der Worte Jesu

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Evangelische und katholische Theologen und Historiker meinen, daß die bisher übliche Datierung der Abfassung der vier Evangelien um einige Jahrzehnte zu spät angesetzt ist, meldete kürzlich die Katholische Presseagentur. Dazu ein Gespräch mit Professor Jacob Kremer.

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Evangelische und katholische Theologen und Historiker meinen, daß die bisher übliche Datierung der Abfassung der vier Evangelien um einige Jahrzehnte zu spät angesetzt ist, meldete kürzlich die Katholische Presseagentur. Dazu ein Gespräch mit Professor Jacob Kremer.

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FURCHE: Bei einem Gespräch von Historikern und Theologen in Paderborn wurde von einigen Wissenschaftlern die Hypothese verteidigt, daß die Datierung der Abfassung der Evangelien frühef als bisher angenommen anzusetzen ist, nämlich höchstens bis zum Ende der sechziger Jahre des 1. Jahrhunderts. Wie beurteilen Sie diese Hypothese?

KREMER: Die Hypothese, die unter anderem auch der anglika-, nische Bischof John A. T. Robinson vertritt, ist mir längst bekannt. Sie wird in der Regel von Fachkollegen nicht sehr hoch bewertet; auch bei der Paderborner Tagung haben keineswegs alle Wissenschaftler dieser These zugestimmt.

Zu der Frage nach dem Alter der Evangelien ist zu sagen, daß in den Evangelien selbst keine Angaben über deren Abfassungszeit stehen, daß die ältesten Hand- schriftenfragmente, aus der Zeit um 120 nach Christus stammen; älteste vollständige Handschriften — Papyri - stammen aus dem 3. und 4. Jahrhundert. Bis vor etwa 50 Jahren haben im kirchlichen Bereich die meisten Autoren die Auffassung vertreten, daß die Evangelien zu Lebzeiten der Apostel geschrieben und vor den Jahren 60 oder 70 abgeschlossen wurden, da man für zwei die Apostel Matthias und Johannes als Verfasser angenommen hat.

Eingehende Untersuchungen in den letzten 200 Jahren haben aber die meisten Bibelwissenschaftler zu der Erkenntnis geführt, daß kein Evangelium in der vorliegenden Fassung aus der Hand eines Apostels stammt, auch nicht Matthäus-Evangelium und Johannes-Evangelium. Das war Anfang dieses Jahrhunderts sehr umstritten, heute vertreten aber auch fast alle katholischen Exege- ten diese Meinung.

FURCHE: Welche Indizien sprechen dafür?

KREMER: Ein Vergleich der Evangelien untereinander läßt darauf schließen, daß beispielsweise das Markus-Evangelium dem Verfasser des Matthäus- Evangeliums bekannt war. Es ist anzunehmen, daß ein Apostel wie Matthäus für die Niederschrift seines Buches die Schrift eines Nicht-Apostels, nämlich Markus, zur Grundlage genommen hat, so- daß also dieses Evangelium nach dem Markus-Evangelium entstanden ist.

Wenn also die Datierung heute durchwegs für Markus um 70, für Matthäus und Lukas um 80 bis 90, für Johannes um 90 bis 100 angenommen wird, sind dafür innere Kriterien ausschlaggebend. Im Markus-Evangelium finden sich - jedenfalls für die meisten Ex- egeten - keine direkten Bezugnahmen auf die Zerstörung Jerusalems, wohl aber auf die unmittelbar vorangehende Situation (Mk f3); bei Lukas und Matthäus aber gibt es solche. Man kann also sagen, daß das Markus- Evangelium entweder kurz vor 70 oder kurz nach 70 entstanden ist, das Matthäus- und das Lukas- Evangelium dürften dann erst nach dem Jahr 70 entstanden sein.

Dafür spricht auch die in beiden Evangelien vorausgesetzte theologische Sicht, mit der Jesu Worte und Taten wiedergegeben werden. Das Johannes-Evangelium ist wahrscheinlich nicht von einem Augenzeugen geschrieben worden, weil die Worte Jesu so stark theologisch geprägt sind und sich von den Worten Jesu in den früheren Evangelien unterscheiden. Außerdem spiegelt das Johannes-Evangelium eine Situation, die erst Ende des 1. Jahrhunderts anzusetzen ist, es werden beispielsweise die Sadduzäer überhaupt nicht mehr erwähnt.

FURCHE: Wenn also diese heute übliche Datierung falsch wäre, müßten neue Forschungsergebnisse beispielsweise auf den Gebieten der Archäologie oder der Textuntersuchungen vorliegen und dies bestätigen.

KREMER: Solche Ergebnisse liegen nicht vor. Vor einigen Jahren hat ein römischer Gelehrter damit Aufsehen erregt, daß er meinte, ein Text des Markus- Evangeliums sei auch schon in den Texten von Qumran zu finden. Dies war aber ein Trugschluß.

FURCHE: Würden sich aus einer früheren Datierung der Evangelien irgendwelche Konsequenzen ergeben?

KREMER: Jeder Wissenschaftler ist sich bewußt — das wurde ja auch in Paderborn gesagt -, daß unsere Annahmen über das Alter der Evangelien hypothetisch sind, weil wir nur rückschließen können. Nach vielen Gesprächen mit Kollegen weiß ich, daß sich die Annahme der Abfassung um 70 beziehungsweise nach 70 als sehr fruchtbare Arbeitshypothese erwiesen hat.

FURCHE: Ergäben sich durch eine frühere Evangeliendatierung innerkirchlich Auswirkungen?

KREMER: Die Hypothese, die Evangelienabfassung möglichst früh anzusetzen, findet natürlich da ein offenes Ohr, wo man den Ergebnissen der modernen Bibelwissenschaft kritisch gegenübersteht, da man meint, jetzt regelrecht Niederschriften der Worte, wie Jesus sie gesagt hat, zu besitzen.

Dabei verkennt man aber meines Erachtens die Eigenart der biblischen Sprache. Diese bedarf immer einer Übersetzung, ob sie im Jahre 50, 70 oder 90 niederge- schrieben wurde. Auch schon eine Niederschrift von Worten Jesu im Jahre 50 ist kein Protokoll dessen, was Jesus gesagt hat. Das Interesse, das in manchen konservativ eingestellten Kreisen existiert, erwächst letzten Endes aus einer Skepsis gegenüber den Ergebnissen der modernen Bibelwissenschaft.

Der gläubige Leser darf überzeugt davon sein, daß eine im Jahre 90 niedergeschriebene Formulierung des Evangeliums genauso glaubwürdig ist wie eine im Jahre 50 nieder geschriebene. Für den gläubigen Christen ist eine spätere wie eine frühere Niederschrift Wort Gottes, und schließlich bürgt Gottes Führung (Inspiration) dafür, daß sie authentische Wiedergabe dessen ist, was Jesus gesagt und getan hat, und was zu Ostern und in den nachfolgenden Jahren geschehen ist.

Jacob Kremer ist Vorstand des Instituts für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien; das Gespräch führte Leono re Rambosek.

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