Johannes aus dem Kamin herausholen

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Markus, Matthäus, Lukas und Johannes lautete die bislang unumstrittene Reihenfolge der Evangelien. Zu Unrecht, behaupten jetzt Exegeten, wurde Johannes auf den letzten Platz verwiesen. Er gehört zeitlich gesehen ganz nach vorne, was nicht ohne Auswirkungen für das gängige Jesusbild bleibt.

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Markus, Matthäus, Lukas und Johannes lautete die bislang unumstrittene Reihenfolge der Evangelien. Zu Unrecht, behaupten jetzt Exegeten, wurde Johannes auf den letzten Platz verwiesen. Er gehört zeitlich gesehen ganz nach vorne, was nicht ohne Auswirkungen für das gängige Jesusbild bleibt.

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Fahren Sie nach Israel, lassen Sie sich impfen, und greifen Sie in jedes Loch hinein, vielleicht finden Sie was!" Diesen Rat gab bereits vor Jahren der mittlerweile emeritierte Salzburger Neutestamentler Wolfgang Beilner seinen Studentinnen und Studenten auf die Frage, ob und wie es heute noch möglich sei, in der Bibelwissenschaft den großen Wurf zu landen, völlig neuen exegetischen Erkenntnissen zum Durchbruch zu verhelfen.

Wieviele schließlich dem Rat gefolgt und ins Heilige Land aufgebrochen sind, läßt sich nicht sagen. Statistiken über Schlangenbisse in Israel könnten wahrscheinlich helfen, den Forschergeist der Salzburger Theologiestudenten in Zahlen zu fassen. Allein gebracht hat es bisher noch nichts. Das historisch-kritische Theoriegebäude präsentiert sich krisensicher und steht nach wie vor so, wie es schon seit geraumer Zeit verfaßt ist. Daran änderten sogar die in den letzten Jahren publicitywirksam präsentierten vermeintlichen Enthüllungsgeschichten nichts, auch wenn sie vorgaben diese oder jene angebliche Verschlußsache geknackt zu haben.

Gibt es noch Neues?

"Es gibt nichts Neues unter der Sonne", brachte es Kohelet, der Skeptiker im Alten Testament, auf den Punkt. Gilt das auch für die neutestamentliche Bibelwissenschaft? Ist schon alles erforscht, entdeckt, gedacht was es über den Ursprung des christlichen Glaubens zu forschen, entdecken und denken gibt? Als vorläufige Antwort sei ein zweites Mal Kohelet zitiert: "Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben ..." Wie wahr, und warum sollte in dem einem oder anderen der vielen Bücher nicht einmal etwas Neues präsentiert werden?

"Im Anfang war Johannes" nannte Klaus Berger, evangelischer Bibelwissenschaftler in Heidelberg, sein 1997 erschienenes Buch, in dem er das Johannesevangelium an den Beginn der Evangelientradition stellte. Dieses Buch, das bald in zweiter Auflage erscheinen wird, hat die Diskussion um die lange Zeit für unumstößlich gehaltene Reihenfolge der Evangelien wieder in Gang gebracht. Zugegeben, Berger hat nichts absolut Neues vorgebracht. Friedrich Schleiermacher plädierte schon 1845 für die Priorität des Johannesevangeliums. Und auch dazwischen gab es immer wieder einzelne Stimmen, die den letzten Evangelisten an den Anfang stellten. Doch erst das Gewicht, das Berger in dieser Frage auf die Waagschale legte, war schwer genug, um eine breite Debatte loszutreten. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die wissenschaftliche Auseinandersetzung letzte Woche in Salzburg. Patrologieprofessor Peter Hofrichter initiierte ein Symposion "Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums", und Vertreter beider Richtungen folgten der Einladung.

Verschärft wird der Gelehrtenstreit um die Position von Klaus Berger noch dadurch, daß dieser nicht nur für eine Frühdatierung des Johannesevangeliums eintritt, sondern auch noch die literarische Einheit des Werkes vertritt. Von der ersten bis zur letzten Zeile stammt für Berger dieses Evangelium aus der Hand eines Verfassers. Die Brüche im Aufbau und in der Gliederung der Erzählung, angebliche Ungereimtheiten, aufs erste unverständliche Wiederholungen seien nicht durch die Mitarbeit und spätere Korrektur von einem oder mehreren Redakteuren entstanden, sondern wurden vom ursprünglichen und einzigen Verfasser absichtlich so geschrieben. Den Auslegungsproblemen könne man nicht mit der Einteilung in verschiedene Schichten begegnen. Vielmehr gelte es, den Intentionen des Evangelisten mit Hilfe der scheinbaren Unverständlichkeiten auf die Schliche zu kommen.

Krönung der Theologie Starker Tobak für das Gros der Bibelwissenschaftler, die, wie sich ein skeptischer Symposionteilnehmer ausdrückte, ja nicht einfach Althergebrachtes nachplapperten, sondern aufgrund eigener Überlegungen die gängige Theorie bestätigt gefunden haben. Was ist nun die bislang fast unumstritten geltende Lehrmeinung?

Die Frage nach dem Verhältnis des Johannesevangeliums zu den übrigen drei kanonischen Evangelien reicht bis in die Antike zurück. Nach Auffassung der frühen Kirchenväter ist es das jüngste Evangelium. Der Lieblingsjünger Jesu hätte es in hohem Alter geschrieben, um die drei anderen Evangelien "geistlich" zu unterstützen. Das Johannesevangelium sei die Krönung der neutestamentlichen Theologie - und könne dies nur sein, weil es nicht am Anfang, sondern am Ende der kanonischen Evangelientradition stehe. Im 20. Jahrhundert tendierte man in der Forschung zu einer von den anderen Evangelien (den sogenannten Synoptikern) unabhängigen Entstehungsgeschichte aufgrund eigener Quellen. Auch der Apostel Johannes als Lieblingsjünger Jesu und Verfasser wurde zunehmend angezweifelt. Hingegen setzte sich die Theorie durch, der Evangelist habe sein Werk unvollendet hinterlassen. Diesen Nachlaß soll ein Redakteur geordnet, teilweise korrigiert und um anstößige Aussagen zu entschärfen, "rechtgläubig" eingerahmt haben. Unberührt von allen Diskussionen blieb nur ein einziges Axiom: Nach wie vor galt und gilt das Johannesevangelium als zuletzt entstanden.

Einer Meinungsänderung in die andere Richtung unterlag das Markusevangelium. Im Altertum als Auszug aus Matthäus und Lukas wenig geschätzt und im Gottesdienst nicht gelesen, erkannte man erst im 19. Jahrhundert seine tatsächliche Bedeutung. Das Markusevangelium wird nun neben einer anderen später verloren gegangenen "Redenquelle" als Grundlage für Matthäus und Lukas angesehen: Die "Zwei-Quellen-Theorie" entstand; und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gilt Markus als die wertvollste und älteste Quelle für das Leben Jesu und avancierte zum wichtigsten Gegenstand der neutestamentlichen Forschung.

"Akademischer Terrorismus" der Zwei-Quellen-Theorie nennt der Linzer Neutestamentler Albert Fuchs ironisch die Angriffe der Verfechter einer Johannes-Priorität. Und tatsächlich, an dieser Vorrangstellung des Markus scheiden sich die Geister. Für Klaus Berger ist die theologische Entwicklung des Urchristentums kein enger Kamin, wo einer auf den Schultern des anderen steht. Paulus ganz unten, dann die Synoptiker und schließlich Johannes.

Berger diagnostiziert verschiedene Stränge und viele Querverbindungen: Das Johannesevangelium sei das letzte Bindeglied zwischen Brief- und Evangelienliteratur. Hüten solle man sich vor der Annahme, so Berger, daß die Nachrichten über Jesus immer in der Art der Synoptiker verlaufen seien. "Was man bisher als johanneisch und spät zu mißachten gewöhnt ist, könnte sich weithin als historisch ernstzunehmende Variante früher christlicher Überlieferungen entpuppen. Im Klartext: Im Johannesevangelium haben wir viel, sehr viel zu lesen, das durchaus zu Jesus von Nazaret passen könnte." Eine Korrektur des einseitigen Jesusbildes sei angebracht. Wobei Berger betont, daß eine Frühdatierung nicht fundamentalistisch als historisch "echter" oder "richtiger" auszulegen sei.

Was heißt nun Frühdatierung genau? Anstatt der bisher favorisierten Zeit der Entstehung, der Endredaktion im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts nennt Klaus Berger als Abfassungsdatum die Zeit zwischen den Jahren 66 und 70. Einerseits stehe das Abschlußkapitel unmittelbar unter dem Eindruck, den der Tod des Petrus und des Lieblingsjüngers gemacht haben, andererseits werde die Zerstörung Jerusalems und des Tempels nicht thematisiert. Diesbezügliche Aussagen im Evangelium meinten vielmehr den Tod der Person Jesu.

Je früher, desto besser Mit der Frühdatierung und auch mit Bergers Vorschlag, die hohe Christologie des Evangeliums als gutjüdisch und deswegen keineswegs spät zu qualifizieren, können auch Peter Hofricher und der britische Qumran-Spezialist James Charlesworth mitgehen. Hofrichter publizierte bereits 1986 ein Buch mit dem Titel "Im Anfang war der Johannesprolog", in dem er das Johannesevangelium als rechtgläubige Interpretation des Johannesprologs ("Im Anfang war das Wort ...", Joh 1,1-18) darstellte, was wiederum für Markus erst den Anlaß für seine Abfassung eines Evangeliums bot. Charlesworth datiert die Entstehung des Johannesevangeliums zwischen Juni 68 und Juni 70 und meint zur Theologie des Werkes: "Die frühesten Denker waren die brillantesten!" Nur der von Berger favorisierten literarischen Einheitlichkeit gewinnen Hofrichter wie Charlesworth nichts ab. Kein Konsens also beim Symposion in Salzburg. Über eine Fortsetzung der Diskussion herrscht jedoch große Einigkeit.

Nach soviel Bibelwissenschaft nun ein Eingeständnis. Der anfangs genannte Text aus dem Buch Kohelet war - und das soll in der Exegese ja des öfteren vorkommen - nur unvollständig zitiert. Im ganzen Wortlaut heißt er aber: "Es nimmt kein Ende mit dem vielen Bücherschreiben, und viel Studieren ermüdet den Leib. Hast du alles gehört, so lautet der Schluß: Fürchte Gott und achte auf seine Gebote! Das allein hat jeder Mensch nötig." Ein guter Hinweis - auch für jede gute Bibelauslegung: damit das Wichtigste nicht im Eifer verloren geht.

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