Auch koptischer Papyrus ist geduldig

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Die apokryphe Schrift des „Thomasevangeliums“ erfreut sich großer Beliebtheit, nimmt der Text doch in Anspruch, „verborgene Worte Jesu“ wiederzugeben.

Innerhalb der sogenannten apokryphen Texte zum Neuen Testament nimmt das Thomasevangelium eine Sonderstellung ein. Dem Philippusevangelium ist die zweifelhafte Ehre zuteil geworden, dass es – aufgrund der dort erwähnten, vermeintlichen besonderen Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena – einen entscheidenden Beitrag zur Inspiration von Werken wie „Sakrileg“ von Dan Brown lieferte, das Thomasevangelium faszinierte hingegen vor allem die neutestamentliche Bibelwissenschaft. Der einzige vollständig erhaltene Text dieses Evangeliums fand sich unter den Ende 1945 in Nag Hammadi gefundenen koptischen Handschriften, daneben existieren noch einige griechische Fragmente. Es gibt die wissenschaftlich begründete Vermutung, dass das Evangelium im syrischen Raum entstanden sein könnte. Wer die Benutzer der Bibliothek aus Nag Hammadi nun wirklich waren, darüber ist sich bis heute die wissenschaftliche Forschung nicht sicher.

Das Thomasevangelium ist tatsächlich etwas Besonderes. Und dies vor allem dadurch, dass es, um es paradox zu formulieren, eigentlich gar kein Evangelium ist. Zumindest nicht das, was man gemeinhin unter einem Text versteht, der als Evangelium bezeichnet wird. Der Beginn des Lukasevangeliums bringt es sehr gut auf den Punkt (Lk 1,1–4): „Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.“

Was ein guter Erzähler macht

Ein Evangelium, so erfährt man bereits aus diesem Vorwort, ist eine geordnet strukturierte Erzählung, in welcher der Evangelist darlegt, was denn so alles geschehen ist. Da Lukas auch tatsächlich ganz am Anfang beginnen will, fängt er mit der Geburtsgeschichte Jesu an und hört mit seiner Himmelfahrt auf, dazwischen packt er, wie ein guter Erzähler dies macht, all das, was geschehen ist. Aber, Lukas verrät noch mehr in diesem Vorwort. Er stützt sich auf ihm vorliegende mündliche Traditionen. Er hat sorgfältige Erkundigungen eingezogen und sich sehr genau unterrichten lassen, bevor er anfing, sein Evangelium zu verfassen. Diese mündlichen Traditionen, die eine Vorstufe der Evangelien darstellen, so eine der wichtigen Hypothesen bezüglich der Entstehung der Evangelien, diese mündlichen Traditionen hätten auch schriftlich vorgelegen. Es handelt sich dabei um die so genannte „Logien-Quelle Q“. Diese „Logien“, zu deutsch „Sprüche“ Jesu, habe man gesammelt und aufgeschrieben. Es habe sich dabei um kurze Sprüche, um Gleichnisse und Aussagen Jesu gehandelt, die dort zusammengetragen wurden, ohne dass sie bereits durch den Rahmen einer Erzählung verbunden gewesen wären. Von dieser Logien-Quelle ist allerdings nichts erhalten, man kann sie nur aus dem verwendeten Material vor allem im Matthäus- und Lukasevangelium erschließen. Aber von der wissenschaftlichen Rekonstruktion her betrachtet, sieht eine solche Logien-Quelle eben so aus, wie auch das Thomasevangelium: Dieses enthält 114 so genannte Logien – die Bezeichnung ist in sich aufschlussreich –, die aneinandergereiht fast ausschließlich kurze Aussprüche Jesu enthalten.

Die Stilmittel der Antike

Die Ähnlichkeit des Thomasevangeliums mit der rekonstruierten Quelle der Evangelien erklärt einen bedeutenden Teil der Faszination dieses „verborgenen Evangeliums“, das (auch in der Öffentlichkeit) breiteren Raum einnimmt als die zahlreichen anderen Texte, die gerne zu einer „Bibel der Häretiker“ zusammenfasst werden. Die Struktur des Textes wirkt archaisch, und zwar archaischer als die kanonischen Evangelien.

Man kommt damit zu der wissenschaftlich höchst faszinierenden Frage, ob das Thomasevangelium Text vielleicht neben den kanonischen Evangelien authentisches Material Jesu überliefern könnte, das – aus welchen Gründen auch immer – die Aufnahme in den neutestamentlichen Kanon nicht geschafft hat. In der wissenschaftlichen Diskussion klafft ein Graben zwischen den vor allem amerikanischen Publikationen, die teilweise eine hohe Reichweite haben, und den europäischen Publikationen. Der Bestseller von Elaine Pagels bringt bereits eine weitverbreitete Sicht im Titel zum Ausdruck: „Beyond Belief: The Secret Gospel of Thomas“ (2003, der Titel der Übersetzung lautet: „Das Geheimnis des fünften Evangeliums: Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt“). Die Begeisterung für das Thomasevangelium ist unverkennbar, die skeptischen Stimmen aus Europa oftmals viel leiser und verhaltener.

Bücherfunde sind bereits in der Antike ein beliebtes Stilmittel, um Traditionen einzuführen. Oftmals kann nicht mehr nachgeprüft werden, ob es sich um einen tatsächlichen Fund handelt oder ob es sich um die literarische Fiktion eines Bücherfundes handelt, der dafür verwendet wird, um eine nur mündlich vorhandene Tradition zu begründen. Bei den Nag-Hammadi-Texten und damit auch beim Thomasevangelium hat man es mit einem tatsächlichen Bücherfund zu tun, der sicher auch durch den Umstand noch mehr fasziniert, weil bereits zu Beginn dieses Evangeliums bemerkt wird, dass es sich um „verborgene Worte“ Jesu handelt. „Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf“ (Logion 1). Dies ist jedoch auch der Aspekt, der als erster – bei aller Begeisterung für diesen Text – zur Vorsicht mahnen sollte. Gerade weil der unbekannte Verfasser, der in die Gestalt des Apostels Thomas schlüpft, betont, dass es sich um „verborgene Worte“ handele, ist vorauszusetzen, dass andere Worte bereits bekannt waren. Dies allein deutet auf ein – im Vergleich zu den kanonischen Evangelien – jüngeres Alter hin, ist doch zu vermuten, dass es diese sind, gegenüber denen sich das Thomasevangelium als „verborgene Überlieferung“ durchsetzen möchte.

Abwertung der jüdischen Wurzeln

Inzwischen mehren sich Stimmen, die einen anderen Aspekt betonen, der keinesfalls vergessen werden darf. Im 6. Logion des Thomasevangeliumsheißt es: „Seine Jünger fragten ihn, und sie sagten zu ihm: ‚Willst du, dass wir fasten? Und in welcher Weise sollen wir beten und Almosen geben? Und auf welche Speisen sollen wir achtgeben?‘“ Die Antwort auf diese Frage findet sich im 14. Spruch: „Jesus sprach zu ihnen: ‚Wenn ihr fastet, werdet ihr euch Sünde hervorbringen. Und wenn ihr betet, werdet ihr verurteilt werden. Und wenn ihr Almosen gebt, werdet ihr Schlechtes für euren Geist tun. Und wenn ihr in irgendein Land geht und wandert von Ort zu Ort und wenn sie euch aufnehmen, dann esst das, was man euch vorsetzten wird … Denn was in euren Mund hineingehen wird, wird euch nicht beflecken. Vielmehr das, was aus eurem Mund herauskommt, das ist es, was euch beflecken wird.‘“

Während sich die Ablehnung der jüdischen Speisegebote auf Paulus berufen kann, ist die in diesem Logion vorgestellte Sicht der zentralen Elemente jüdisch-christlicher Tradition aus der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe wohl nur schwerlich anders zu deuten, als dass die Gruppe, die das Thomasevangelium verwendete, einen größeren Abstand zur frühchristlichen Überlieferung und ihren jüdischen Wurzeln gewonnen hatte. Und so wird man die Ergebnisse der neueren Forschungsdiskussion dahingehend zusammenfassen müssen, dass eine Begeisterung für das Thomasevangelium implizit die jüdischen Wurzeln des Christentums abwertet.

Der Verfasser ist – gefördert vom Wissenschaftsfonds FWF – Forscher der Universität Wien in der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek; er arbeitet an koptischen Papyrusurkunden.

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