Hat Jesus das Alte Testament überboten?

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Der Evangelist Johannes und die dogmatische Tradition des 4./5. Jahrhunderts prägen die Sicht | des Papstes auf Christus: Beobachtungen zum zweiten Teil von Joseph Ratzingers Jesus-Buch.

Joseph Ratzinger ist ein Theologe, der seit vielen Jahrzehnten dogmatisch und fundamentaltheologisch arbeitet. Sein Vorgänger im Papstamt, Johannes Paul II., warf durch seine Praxis die Frage nach der Bedeutung des Judentums für das Christentum markant auf. Beides führte vor mehr als zehn Jahren zu einer spannenden Positionierung dieser beiden Männer im Vatikan: Nach dem Besuch Israels von Johannes Paul II. im Frühjahr 2000 und dem Gebet an der Klagemauer mit der Verpflichtung "zu echter Brüderlichkeit mit dem Volk Deines Bundes“ veröffentlichte viereinhalb Monate später der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, das Dokument "Dominus Iesus“, das zumindest eine Spannung zu diesem Gebet des damaligen Papstes darstellte. Denn in "Dominus Iesus“ wurde das Judesein Jesu und seine dauerhafte Zugehörigkeit zu Israel nicht erwähnt.

Das ist heute verstehbar: Joseph Ratzinger ging nie so weit in die Anerkennung der dauerhaften Bedeutung des Judentums für das Christentum hinein wie Johannes Paul II., weil er als dogmatischer Theologe ahnt(e), dass solche Anerkennung die Fundamente christlicher Lesart Jesu direkt betreffen wird. Denn ein forcierter jüdisch-christlicher Dia- log lässt sich wohl nicht verbinden mit der dogmatischen Lesart der Christusgestalt, die Joseph Ratzinger vor allem beim Evangelisten Johannes und in der dogmatischen Tradition der Kirche des 4. und 5. Jahrhunderts als fundamental und irreversibel ansieht.

Historisch-kritische Methode abgefertigt

In dieser Linie kann man sein neues Buch über Jesus von Nazareth verstehen und lesen. Dem Theologen und Papst - er nennt sich als Autor wie auch schon im ersten Band Joseph Ratzinger und Benedikt XVI. - dürfte eben auch angesichts dieses Dialogs eine ganz entschiedene Konturierung und Konsolidierung der Christusgestalt wichtig sein. Dafür sprechen viele Elemente, die sich in diesem zweiten Band finden, der dem Weg Jesu vom Palmsonntag bis zu Ostern in neun Kapiteln nachgeht und an den Schluss einen Ausblick setzt, der direkt aus dem Glaubensbekenntnis der Kirche genommen ist und so auf die kirchlich-begriffliche Durchdringung und Vollendung des biblischen Zeugnisses zielt. Vier dieser signifikanten Elemente seien hervorgehoben.

Da fällt als erstes einmal der Denk- und Schreibstil auf. Schärfer als im ersten Band fertigt er die historisch-kritische Methode ab: Sie habe "in 200 Jahren exegetischer Arbeit ihr Wesentliches gegeben“ (11).

Dass der historische Jesus "inhaltlich zu dürftig (ist), als dass von ihm große geschichtliche Wirkungen hätten ausgehen können“ (13), ist ein Urteil, das dazu führt, dass der Papst mehrfach theologische Detailarbeit beiseitesetzt, die allerdings im Zusammenhang der Passion Jesu so unbeträchtlich nicht ist, wie es nach ihm den Anschein hat. Davon gleich mehr. Jedenfalls geht es in diesem Buch nicht um kritische Arbeit, sondern um die Meditation des Christusmysteriums, die auch stilistisch kenntlich wird und die Lesenden direkt mitnimmt auf den Weg des Christus, den der Papst hier nachgeht (169, 173 f, 242, 284, 310, 315-317).

Ein zweites Element sind die sprachlichen Entscheidungen, die der Papst an einer Stelle auch verdeutlicht. Er schreibt im Umkreis des Abendmahles Jesu nicht von Pessach, sondern, "da dieses Buch ein Dialog mit dem Neuen Testament ist“ (125), von Pascha. Diese Entscheidung ist nicht nur sprachlich wichtig, sondern hat prinzipielle Bedeutung. Sie zielt durch die neue, griechische Sprache (die Sprache der frühen Kirche im Neuen Testament und in der Dogmatik) auf die Überbietung der bisherigen biblischen Überlieferung (Altes Testament) durch Christus - das ist das dritte und wohl entscheidende Element.

Pilatus: Repräsentant römischer Toleranz?

Diese Überbietungen berühren alles, was Israel war und ist; besonders markant sind die neue Universalität über den "nationalen Rahmen“ hinaus (30), "Abbrechen des alten Tempels“ (36, 62, 78) und des "alttestamentlichen Kultus“ (97, 233, 240, 247, 254f, 260, 262), "Neuheit der Gestalt Jesu Christi“ (99) als ontologische Immanenz Gottes über das Alte Testament hinaus (109) und das alles überbietende Neue der Auferstehung (266f, 293). Das alles hat ein Zentrum, das die Alternative im Umgang mit den heiligen Texten der Schrift klar macht: die "Lektüre mit Christus, von den Propheten her, und die rabbinische Lektüre“ (49).

Wie ist das zu verstehen? Gibt es demnach keine Verbindung zwischen den Propheten und dem rabbinischen, also dem heutigen Judentum? Wenn das hier gemeint ist, dann gibt es christlich keinen Platz mehr fürs heutige Judentum nach Christus; es wäre erfüllt als Zugang und Vorbereitung und damit an sein Ende gekommen. Dass "Dominus Iesus“ die Christusgestalt ohne Bezug auf Israel thematisiert hat, wäre damit einsichtig. Das Zurücksinken der Bedeutung des Judentums in die Zeit vor Christus wird durch den Gewährsmann des Papstes gestärkt, den Evangelisten Johannes, der, schon im ersten Band immer wieder zugegen, hier noch stärker den Ton der biblischen Interpretation angibt; bei ihm werden die Juden in den dunkelsten Farben gemalt, die das Neue Testament kennt.

Damit bin ich beim vierten Element, der Passion Jesu. Hier ersteht ein Gedanke auf, den man zwar erwarten konnte, weil er vom Geleit des Johannes bestimmt ist, der aber dann doch überrascht, auch verstört. Der Papst schreibt, dass Jesus vom Sanhedrin (dem Hohen Rat) "der Blasphemie für schuldig befunden wurde …, aber die Blutgerichtsbarkeit den Römern vorbehalten war“ (207). Damit werden die Leute des Sanhedrins und wenigstens einige bezahlte Juden, die Jesus ans Kreuz wünschen, zu den treibenden Agenten der Kreuzigung Jesu, die Pilatus möglich macht, der jedoch in Jesus nur einen unbedeutenden Schwärmer gesehen habe (212f) und in diesem Kontext gegen die historischen Fakten (Abberufung durch die Römer im Jahr 36 n. Chr. wegen seiner Gewaltexzesse) als Repräsentant römischer Toleranz interpretiert wird (212).

Durch eine große rechtshistorische Untersuchung des ehemaligen Generalstaatsanwaltes von Israel, Chaim Cohn, ist nachgewiesen worden, dass die religiöse Gerichtsbarkeit auch bei Kapitalverbrechen in dieser Zeit beim Sanhedrin lag. Anders wäre es ja auch unverständlich, warum knapp nach dem Prozess Jesu Stephanus ohne irgendein juridisches Problem mit Erlaubnis des Sanhedrins gesteinigt werden konnte, worauf der Papst auch hinweist (52). Zwischen beidem liegt ein Widerspruch vor, der zu vermeiden wäre, wenn man der historischen Kritik ein wenig mehr Recht eingeräumt und auch jüdische Gelehrte herangezogen hätte, besonders für die Sachfragen der Passion (Schalom Ben-Chorin, David Flusser, Pinchas Lapide für den deutschsprachigen Raum).

Auf die Stimmen Israels genau hinhören

Am Ende des Buches wird man zum Segen Christi geleitet und dieser ist trotz allem, was einem drohen mag, "der bleibende Grund christlicher Freude“ (318). Der Papst hat einen Weg Jesu gezeigt, auf dem er die Kernmomente dieses Weges abschreitet und zum Mitgehen einlädt. Es ist eine Einladung und Aufgabe mitzugehen und dabei zu erinnern, dass Lebens- und Denkwege weithin noch unbegangen sind, auf denen man den Jesus aus Nazareth trifft, durch den der sehr strikte Monotheismus und Glaube Israels die dauerhafte Gabe für die Völker ist und bleibt. Das kann in Ergänzung zu diesem Buch ein genaues Hinhören auf die Stimmen Israels damals und heute beitragen. Auf sie zu hören, verbirgt Jesus aus Nazareth nicht, sondern trägt neue und überraschende Motive des Lebens, Glaubens, Liebens, Leidens, Sterbens und Auferwecktwerdens Jesu ein, lebendig und zukunftsträchtig.

Jesus von Nazareth - Band II: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung

Von Joseph Ratzinger - Benedikt XVI.

Herder 2011. 352 Seiten, geb., € 22,70

* Der Autor ist Prof. f. Fundamentaltheologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Uni Wien

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