Index: Prüfstein des Vertrauens
Eine Reform des "Index" ist dringend vonnöten.
Eine Reform des "Index" ist dringend vonnöten.
Den Themen der zweiten Periode des Vatikanischen Konzils ist ohne Zweifel die Reform des „Index“ zuzuzählen. Kardinal Bea hat in einer Rede über Toleranz und Gewissensfreiheit in der Kirche vor 500 Delegierten aus 20 christlichen und nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften (13. Jänner 1963, Pro-Deo-Universität, Rom) das Thema mit verkennbarer Tendenz bereits angeschlagen.
Die Hierarchie hat ihre Hirtensorgen; zu allen Zeiten gibt es Häresien und häretische Literatur, zu allen Zeiten gibt es Pornographie; es wäre temerär, aber auch unrealistisch, wollte man leugnen, daß in diesen Tatsachen für den Gläubigen viele Anfechtungen und Versuchungen beschlossen liegen. Niemand wird es den Hirten verübeln, wenn sie bemüht sind, subversive Einflüsse von ihren Gläubigen fernzuhalten. Die christliche Gemeinde selbst ist ein solches Mittel; sie hat ihre Atmosphäre, ihre sozialen Kontakte, ihre Methoden der Wortverkündigung, ihre Paränese, sie feiert ihre geschlossenen Gottesdienste, sie besitzt ihre Sorge für Kranke und Notleidende. Daneben existieren Schulen und Internate, agitieren katholische Publizistik. Man kann, wenn man will, in einer, gesellschaftlich und bildungsmäßig gesehen, katholischen Welt leben und die Begegnung mit Andersdenkenden als unliebsame Störung dieser geschlossenen Existenz empfinden. Allerdings wird dieser Versuch in der weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft von heute immer schwieriger.
Kirche in der Diaspora
Diese Phänomene sind bekannt und längst registriert. Haben wir aber deshalb auf sie gebührend Rücksicht genommen? Wie nimmt sich ein Verbot, bestimmte Bücher zu lesen, in einer Welt aus, der sich die Christen nicht entziehen können? Die Abstinenzidee, der Isolierungsvorgang haben offenbar ihre physischen und psychischen Grenzen. Das christliche Ghetto (und darum handelt es sich bei dieser Schutzmaßnahme) ist offensichtlich nicht mehr aufrechtzuerhalten. Wir leben in der Diaspora wie das alte Israel. Nur mit dem Unterschied, daß es keine sichernden Ghettos mehr gibt. Die Interdependenz, die Abhängigkeit aller von allen, die totale Kommunikation aller mit allen sind Charakteristika der sich schon bildenden post- und supranationalen Gesellschaft.
Christ kann man nur im bewußten Gegensatz zur „Welt“ sein, das heißt zur korrupten und korrumpierenden Schöpfung, die zum Instrument des „Herrschers '-.diese Welt“ geworden ist. Das Sakrament der Firmung, der Bestärkung im Glauben und der mannhaften Konfession des Glaubens gegenüber der Welt, dieses Sakrament der Reife und Erwachsenheit der Glaubenden, sorgt für die Möglichkeit der Weltnisexistenz der Christen. Christentum aber ist noch mehr als ein Sichbewahren, ja ein Sichbewähren in der Welt; es ist seinem Wesen nach Weltmission. Kirche und Welt sind korrelative Wirklichkeiten und Begriffe. Die „apostolische“ Kirche ist nicht nur die auf den Zwölfen in historischer Kontinuität aufruhende, also echte, wahre Kirche Christi, sondern eben die Kirche von Glaubensboten, von Verkündern der Freudensbotschaft Gottes; sie ist zur Welt hingehende Kirche. („Geht hin und verkündet die Freudenbotschaft aller Kreatur.“) Mission erfordert Weltkenntnis, Weltkontakt, Weltbegegnung der Kirche. Dieser Vorgang kann nicht auf abgesicherte, geschulte Spezialisten oder den Klerus im allgemeinen oder theologische „Gnostiker“ eingeschränkt werden; gerade die durch Ehe, Berufe und öffentliche Tätigkeiten in ständigem Weltkontakt lebenden Christen, „Laien“, sind es, die gar nicht Laien, sondern Fachleute der Weltbewältigung sind und sein müssen, wenn die Kirche, trotzdem sie „kleine Herde“ in der Welt ist und immer mehr wird, bestehen bleiben soll. Im Zeitalter des Apostolates der Christen, dieses spirituellen „levee en masse“, im Zeitalter der ökumenischen Begegnung, in dem die Kirche den Charakter des Gespräches mit denen, „die draußen sind“, annimmt, hat ein prohibitiver Index kaum Platz mehr und wird im Empfinden, vor allem der Intellektuellen, immer mehr zum Anachronismus.
Das Prinzip der Denuntiation
Mit halben Maßnahmen ist nicht gedient, mit Exemtionen und Dispensen etwa für wissenschaftlich Arbeitende, Journalisten, Theologen, im ökumenischen Gespräch Befindliche. Teilweise Durchlöcherungen des Gesetzes durch gehäufte Ausnahmen machen es unwirksam, ja mindern seinen Ernst. Will man bestimmten Christen Glaubensfestigkeit und Bildungsreife zuerkennen, wird man automatisch die anderen beleidigen, denen Urteil und Überzeugtheit nicht zugetraut werden. Bei konsequentem Denken müßte der „Index“ auf Filme, Theater, Presse, Fernsehen, Rundfunk ausgedehnt werden. Wer hätte dazu den Mut, wer sähe auf diesen Gebieten die praktische Möglichkeit der Bewältigung? Außerdem hat sich etwa im Filmwesen bereits ein sehr vernünftiger Modus eingebürgert und bewährt. Katholische Filmkommissionen beurteilen die anlaufende Produktion, man sorgt an den Anschlagtafeln der Kirchen und in der Kirchenpresse für Publikation dieser Rezensionen und treibt damit zugleich Propaganda für das Wertvolle.
Allzulange haben die Katholiken zu den Phänomenen des jeweils modernen Lebens nein gesagt und sich als Zensurbehörde gefühlt. Die Folge war ein weitgehendes Ausscheiden aus der jeweils zukunftsweisenden Entwicklung. Gewiß müssen Urteile gefällt werden, auch kritische, auch ablehnende. Literaturkritik, wenn auch nach anderen Prinzipien, kennt die literarische Fachwelt, kennt jede weltanschauliche Gruppe; der Kommunismus besitzt auch für diesen Sektor des geistigen Lebens seine Generallinie. Der spezielle Teil des Index bleibt weit hinter den Erfordernissen einer kritischen Sichtung der Literatur zurück. Das Prinzip der Denuntiationen bringt es mit sich, daß belanglose, höchstens lokal interessierende Schriftchen indiziert werden, wesentliche Werke von starker Ausstrahlungskraft hingegen übersehen werden.
Diese Unverhältnismäßigkeit kann nur vermieden werden, wenn die Beurteilung der riesig angewachsenen Literatur im allgemeinen der katholischen Publizistik überlassen wird, die zwar nicht unfehlbar und begreiflicherweise nicht immer einheitlich urteilt, aber zur Information der Katholiken ausreicht. Die offizielle Kirche sollte nur in seltenen, wichtigen und kontroversen Fällen ihr Urteil fällen. Aus der fast unübersehbaren Masse der zeitgenössischen Literatur soll sie zu Büchern Stellung nehmen, denen ein signifikanter Charakter oder fast ein symbolischer Rang zugesprochen werden kann.
Das Christentum ist keine Gesetzesreligion
Die Liquidierung des prohibitiven Index würde dem Bildungsstand und dem Bildungswesen der Katholiken ein lobendes Zeugnis ausstellen, ihre Anstrengungen auf diesem Sektor ermutigen und vervielfältigen. Es hat sich schließlich schon herumgesprochen, daß wir uns mit Riesenschritten der Bildungsgesellschaft nähern und daß der „zweite Bildungsgang“ nach Absolvierung des schulischen, die Erwachsenenbildung, zu den Charakteristiken des kommenden Jahrtausends gehören wird. Gewiß zählt die Kirche, etwa in Südeuropa und in Lateinamerika, noch Millionen von Analphabeten zu ihren Gliedern; aber auch sie werden den kommunistischen Flugzettel zumindest gleichzeitig mit dem Katechismus in die Hand bekommen und werden eher durch Aufklärung als durch Schriftenverbote im Glauben erhalten werden können. Das Christentum ist keine Gesetzesreligion im Stile des Rabbinismus und seiner Synagoge; auch Thomas von Aquin, der die Lev nova im Instructus Spiritus sancti, der Triebkraft des Heiligen Geistes, erkannt hat, weist darauf hin, daß sich das Neue Testament vor allem auch durch die quantitative Reduktion der Gebote unterscheide. Die Kirche soll sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und strukturell von den Diktaturen unserer Zeit unterscheiden, damit sie im Weltkampf um die Freiheit nicht als „schwarzes Moskau“ verdächtigt werde.
Das Bücherverbot hatte den Sinn, die Sünden des Glaubensschwundes oder der Unsittlichkeit einzuschränken. Behält das Bücherleseverbot noch seinen Sinn, wenn seine Übertretungen mehr Sünde schaffen als verhindern? Der Index verbietet ja nicht Sünden, was ebenso überflüssig wie selbstverständlich wäre, sondern will Gefährdungen ausschalten.
Vollends unangemessen scheinen die Strafsanktionen zu sein, die mit dem Bücherverbot verbunden werden; gewiß betreffen sie nur jene Werke, die Apostasie, Häresie oder Schisma propagieren, sowie jene Bücher, die namentlich mit apostolischen Schreiben unter Zensur verboten sind. Dennoch ergeben sich krasse Unverhältnismäßigkeiten. Wer etwa ein so indiziertes Drama liest, kann der Exkommunikation verfallen; wer es im Theater, eindrucksvoll aufgeführt, erlebt, verfällt keiner Sünde noch Zensur. Wer Jahrzehnte ohne Messe, ohne Eucharistieempfang, womöglich im Konkubinat lebt, erfährt keine Exkommunikation, wohl aber der gebildete Leser einer vielleicht längst veralteten Schmähschrift gegen Klerus und Kirche.
Die Rolle der Bischöfe
Bei Beibehaltung, ja Verfeinerung eines judikativen Index könnten auch noch manche Reformen nützlich sein: nicht alle Bücher, die zu verurteilen sind, sind für die gesamte Kirche bemerkenswert; manches besitzt nur lokale Wichtigkeit und findet keine Übersetzung in fremde Sprachen. In diesem Falle genügt ein nationaler Index, der von der zuständigen Bischofskonferenz gehandhabt werden könnte. Weiter: Nicht alle theologischen Fachwerke dringen in eine breitere Öffentlichkeit; sie finden ihre Fachkritik in der geschlossenen Welt der Sachverständigen. Katholische Theologen bedürfen im allgemeinen keiner Indizierung. Die kirchliche Autorität kann auf andere Weise mit ihnen in Kontakt treten und so die weitere Publikation abwegiger Ideen verhindern. Den Bischöfen wird dabei die primäre Rolle zukommen. Statt einer feierlichen Verurteilung können Warnungen oder Gegenartikel in kirchlichen Amtsblättern veröffentlicht werden. Indizierungen sollten nie aus heiterem Himmel den Autor treffen; die Vorzensur des kirchlichen Imprimaturs gibt reichliche Möglichkeit, mit ihm zu diskutieren.
Die römische Verurteilung von Werken, die ein bischöfliches Imprimatur besitzen, sollte aus begreiflichen Gründen nach Möglichkeit vermieden werden; die Korrektur einer Autorität durch eine andere, wenn auch übergeordnete, untergräbt das Vertrauen der Gläubigen. Die körperschaftliche Anonymität der verurteilenden Behörde wird nicht aufgegeben werden können, handelt es sich doch um das Urteil einer Institution, nicht einzelner Zensoren. Die Angabe einer Begründung der Verurteilung legt sich jedoch dringend nahe. Der zensurierte Autor hat auch ein Recht, zu erfahren, worin er geirrt und gefehlt hat, und das Gewissen der Öffentlichkeit kann nur aufgeklärt und geweckt werden, wenn die Häresie als solche deklariert und definiert werden kann.
Theologie ist immer im Werden
Und endlich: Indizierungen müssen mit geistiger Behutsamkeit vorgenommen werden. Oft mögen der Zensurbehörde Ideen suspekt erscheinen, weil sie neu, weil sie ungewohnt sind. Oft sind Ideen im Zustand der Ungeklärtheit nicht akzeptabel, werden aber später zu tragenden Fundamenten theologischen Denkens.
Die Theologie ist immer im Wachsen und Werden begriffen, sie hat das erste Wort in der Exegese der Offenbarung: die kirchliche Autorität wird erst dann sprechen, wenn abschließende Urteile möglich sind und die Entwicklung durch Vertrauen und Geduld fördern. Es gibt auch niemals d i e Theologie, sondern immer Theologien, die durchaus koexistieren können, auch dann, wenn sie in einzelnen Punkten einander widersprechen und deutliche strukturelle Verschiedenheiten zeigen. Der Pluralismus aus theologischen Richtungen entspricht der Katholizität der Kirche und der Unerschöpflichkeit der Offenbarung selbst, die von keiner Individualität, keiner Schule und keinem Zeitalter ausgeschöpft werden kann. Nicht immer muß das Neue „besser“ sein, es genügt, daß es neue Aspekte eröffnet; nicht immer muß das Neue orthodox sein, aber auch im Alten gibt es schlechte Orthodoxie, die engstirnig, einseitig und einfallslos ist.
Wenn Johannes XXIII. darauf Wert gelegt hat, daß in den Kommissionen des Vaticanum II neben bewährten konservativen Theologen auch konstruktive Köpfe zu finden sind, so könnte das für alle kirchlichen Zensurbehörden zum Vorbild genommen werden: im Gegensatz der Generationen und Tendenzen ergibt sich das umfassende „katholische“ Bild der Wahrheit, einer unwandelbaren Wahrheit, die immer neue Aspekte zeigt und deren Tiefen nie auszuloten sind.
Die Behandlung des Indexproblems auf dem Konzil wird zu einem Kriterium des Vertrauens werden, das die Kirche ihren Gliedern und deren geistiger Reife entgegenbringt.