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Jesus-Händler oder Menschenfischer?

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Eine gewisse Abwehr gegen die sogenannte Jesus-Bewegung, die in ihrem Ursprungsland Amerika nach wie vor kräftig am Leben ist, formiert sich in Europa. Man bezweifelt, daß es sich da um eine Erwek-kungsbewegung im christlichen Sinn handelt. Viel heftiger aber ist die Abwehr bei jenen christlichen Gruppen, die sich ganz dem „Engagement an die Welt“ verschrieben haben und von daher linken, revolutionären Tendenzen zuneigen. Das „Politische Nachtgebet“ in Köln hat sich zwei Abende lang mit der Jesus-People-Bewegung befaßt und sie mit Vorwürfen überhäuft. Die jungen Menschen der Jesus-Bewegung, so hieß es anklagend, zögen sich aus der Welt in die Innerlichkeit zurück und neigten sogar zu einem buchstäblichen Verständnis der Bibel. Anderseits gerät die Jesus-Bewegung besonders in Deutschland schon:wieder in Vergessenheit. Der Reiz des Neuen ist dahin. Ob freilich die Herausforderung durch Jesus-People damit für die Christen schon erledigt ist, bleibt abzuwarten. Albert van den Heuvel, der hier als Augenzeuge über die recht vielfältigen Gruppierungen der Jesus-Bewegung in Amerika berichtet, ist Direktor des Referates für Kommunikation beim Weltrat der Kirchen in Genf.

Zeitungsausschnitte über die Jesus-Bewegung stapeln sich in so großer Zahl auf meinem Schreibtisch, daß sie alles über Rassismus, Entwicklung, die Synode der römisch-katholischen Bischöfe, ja sogar die in den Medien vieldiskutierte Polarisierung innerhalb der Kirchen weit hinter sich zurücklassen. Es wäre nur logisch, mögen sich die meisten Christen auch daran stoßen, „Jesus Christ Superstar“ als den Mann des Jahres 1971 zu bezeichnen.

Die Jesus-Bewegung ist ökumenisch bedeutsam, ganz gleich, wie man den Begriff ökumenisch versteht. Sie ist international, ihre Anhänger reisen von Kontinent zu Kontinent, und überall, in Australien und in Österreich, in Deutschland und in Germantown, trägt sie gleichermaßen ihre Früchte. Ebenso wie die christliche Kirche ist sie vorwiegend in der nordatlantischen Gemeinschaft vertreten, hat aber Anhängerschaft auch in der sogenannten Zwei-Drittel-Welt.

Eins und ungeteilt

Uber konfessionelle Unterschiede setzen die Jesus-Leute sich hinweg: Das Volk Gottes ist für sie eins und ungeteilt. Sie bilden eine interkonfessionelle Gemeinschaft und werden über alle konfessionellen Grenzen hinweg gepriesen oder kritisiert, ökumenisch ist diese Bewegung insofern, als die Einheit und Erneuerung des Volkes Gottes ihr erster Grundsatz ist. Einige vertreten eine globale, aber nicht neue Konzeption des Ökumenismus und erklären sich kurzerhand als die einzig wahre Kirche; andere ' sind differenzierter und bezeichnen ihre Erfahrung als etwas, das für die Kirche insgesamt relevant ist und jedem einzelnen offensteht.

Ein starkes missionarisches Engagement wird neutralisiert durch die Betonung der Liturgie, aber auch der Erneuerung der Gesellschaft. Der Missionsbegriff ist modern: eine gewagte Erklärung des Evangeliums in zeitgenössischer Sprache, keine Forderung, der Kirche der Missionare beizutreten. In der Sorge um den anderen Menschen zeigt sich das, was in der internationalen Diskussion „Humanisierung“ heißt. Das Element der Feier ist in der sakramentalen Form und im Gebrauch der Heiligen Schrift meistens ziemlich „orthodox“. Die Erneuerung der Gesellschaft geschieht durch das gewandelte Individuum, nicht durch Konfrontation zwischen der Gemeinschaft und der übrigen Gesellschaft. In dieser Hinsicht erinnert die Jesus-Bewegung eher an „Re-veil“, die europäische Erneuerungsbewegung im 19. Jahrhundert, als an die „Social Gospel“-Bewegung oder die Bewegung für Praktisches Christentum. Aber es ist alles vertreten.

Für den Außenstehenden ist die Jesus-Bewegung ebensowenig verständlich wie die Kirche selbst. Es gibt hier die verschiedenen sektiererischen Glaubensformen und Formen des Mißbrauchs des Evangeliums. So wie die Kirche ihre Fundamentalisten hat, gibt es in der Jesus-Bewegung bestimmte „gangs“, fanatische Gemeinschaften, die für eine kritiklose Annahme und den buchstabengetreuen Gebrauch der Bibel eintreten und die Menschheit in zwei deutliche Lager aufteilen: diejenigen, die in den Himmel, und diejenigen, die in die Hölle kommen.

So, wie in der Kirche, gibt es auch hier die Jesus-Süchtigen, denen das Evangelium Opium ist, das den Schlaf ewiger Seligkeit verspricht — als gäbe es keine Welt, keine Gerechtigkeit, mit der man sich auseinandersetzen müßte. Diese Anhänger haben auch schon alle anderen Formen des Escapismus, die unsere moderne Gesellschaft bietet, versucht, angefangen bei sexueller Freiheit bis hin zur Drogenfreiheit. Jetzt wenden sie sich der Religion als der Super-droge zu, die einen noch besseren Trip verspricht. So, wie in der Kirche gibt es auch die Jesus-Händler, für die das Evangelium ein weiterer Bestseller auf dem Markt ist. „Jesus Christ Superstar“ ist das goldene Symbol, und ein millionenschwerer Dollarmarkt mit Kitschware bietet alle nur erdenklichen Artikel: Jesus-Uhren, Jesus-Aschenbecher usw. Man braucht wohl kaum eifriger Student der Kirchengeschichte zu sein, um die historischen Parallelen zu sehen.

So, wie in der Kirche gibt es aber auch echte Anhänger, die jene uralte Glaubenserfahrung gemacht haben: daß nämlich Jesus Christus wirkt. Sie fanden Heilung, Liebe, Hoffnung, Glauben, Freiheit, ein neues Ziel. Diese Erfahrung machte eher besonnene Menschenfischer aus ihnen, die ihre Erfahrung in Wort und Tat bezeugen. Die Worte der Bibel verrieten ihnen eine Stimme und ließen sie erkennen, daß das Leben eine herrliche und unerwartete Bedeutung in dem Ja zur Königsherrschaft Gottes erhält; und sie haben bemerkt, daß der Glauben vor allem dann lebt, wenn er im eigenen Leben und dem anderer hilfsbedürftiger Menschen wirksam wird.

Alles scheint vertreten zu sein, so daß einige Beobachter bereits bemerkten, dies sei mehr als nur eine neue Bewegung, dies sei die Kirche der Gegenkultur, so vielgestaltig und komplex wie die Kirche der herrschenden Gesellschaft. Dies seien die „unabhängigen Kirchen des Nordens“, die Pfingstler der siebziger Jahre, die Heilsarmee des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts.

Eine Ethik der Liebe

Weil diese Bewegung so umfassend ist, führt es auch nicht weiter, wenn man fragt, ob sie eine Mode, eine missionarische Bewegung, Reaktion oder Erweckung sei. Sie ist dies alles zugleich. „Jesus Christ Superstar“ ist vielleicht eine Mode, Kleidung und Haartracht sind vielleicht reaktionär, die Sprache ist vielleicht .wirklich missionarisch, und für viele Kinder guter Kirchenleute ist die Bewegung vielleicht Erweckung. Nicht einmal das Verhältnis zur Gesellschaft, das so manchem liberalen Beobachter zu denken gibt, ist festgelegt. Schon heute gibt es mehr Jesus-Leute, die gegen den Krieg in Vietnam sind, als vor nur wenigen Monaten. Und die Gruppe, die ich im Juli letzten Jahres besuchte, hatte an die Wand geschrieben: „Gesellschaft — unsere nächste Feststellung.“

Inzwischen fangen sie dort an, wo die Kirche begann, bei einer Ethik der Liebe, die sie entweder direkt aus unserer Gesellschaft herausträgt oder aber diese unsere Gesellschaft zum Explodieren bringt. Sie werden kaum stärker als das Evangelium sein und etwas daraus machen können, das auf die Dauer lediglich den eigenen Ideen dient. Früher oder später wird das Evangelium stärker sein. Dann werden sie es entweder ablehnen oder sich von ihm zurücktragen lassen, mitten in das Leben hinein. Bleibt die Gegenkultur bestehen, um dem sozialen Gefüge eine weitere

Ebene hinzuzufügen, dann mag die Jesus-Bewegung ihre Kirche sein; verschwindet sie aber, nachdem sie unsere Sozialstrukturen einmal bereichert und korrigiert hat, dann wird die Bewegung sich unter den Sekten und Kirchen finden, die die Geschichte hervorbringt.

Bislang haben die Kirchen die Rolle des Beobachters gespielt. Viele christliche Führer priesen die Bewegung, ohne jemals daran zu denken, hier mitzuarbeiten. Andere verurteilten sie lediglich auf Grund der Presseberichte. Kurz gesagt, die Reaktion ist typisch für die etablierte religiöse Gemeinschaft. Die Kommentare verraten aber auch viel Sehnsucht. Diese christliche Gemeinschaft, in der alles geteilt und das Heil zur persönlichen Erfahrung wird, in der die Gaben des Geistes verfügbar sind und das Charakteristische des Glaubens, sowie seine Offenheit für alle Menschen, eine Einheit bilden — eine solche Gemeinschaft ist der heimliche Traum vieler Kirchenleute. Genauso wie die gesamte Gegenkultur für jeden, der sich in der Komplexität der Strukturen gefangen fühlt, attraktiv ist, so mobilisiert die Jesus-Bewegung bei vielen Christen verborgene Wünsche und Schuldgefühle.

Wie viele neue Bewegungen ist auch die Jesus-Bewegung weniger eine Bedrohung als vielmehr eine Anklage der etablierten Kirchen. Allein die Tatsache, daß die Jesus-Leute nicht einmal daran denken, ein „etabliertes“ Gotteshaus zu betreten, selbst wenn sie dort willkommen wären, ruft den Gemeinden die eigenen Klassen- und Kulturzwänge in Erinnerung. In neueren Veröffentlichungen über die Kirche liest man den Vorwurf nur allzuoft: die Kirchen sind bourgeois. Die Jesus-Leute zeigen es durch ihre Abwesenheit.

Merkwürdigerweise versuchen viele Christen eine Verurteilung der Bewegung zu vermeiden, indem sie zum Gegenangriff übergehen: die Bewegung habe keine Sozialethik; ihre Anhänger seien naiv, arrogant, fundamentalistisch, nicht authentisch. Einer meiner Freunde, selbst Mitglied der Bewegung, bemerkte daraufhin ganz richtig: Warum entwerfen die Kirchenleute immer ihr eigenes Bild, wenn sie andere kritisieren?

Einige Kirchen stellen ihren Mitgliedern jetzt frei, „in der Bewegung mitzuarbeiten“. Ich wäre beeindruckt, wenn die Kirchen den besten unter den Gruppen ein wenig mehr helfen würden. In vielen Fällen ist ein Minimum an Wohnraum notwendig, ein Ort, von dem aus gearbeitet werden kann. Einige wünschen sich auch Unterstützung von Seiten der professionellen Soziologen oder Theologen. Auf keinen Fall wollen sie Geld, denn Armut ist das erste ihrer Gelübde, Keuschheit das zweite.

Faktisch werden wir durch diese Bewegung wieder einmal mit der Forderung nach pluralistischen Strukturen in den Kirchen konfrontiert. Jesus-Leute mit normalen Gemeinden „vermischen“ zu wollen, hat keinen Sinn. Erforderlich sind Anerkennung, Bejahung und Kritik; das, was eine echte Freundschaft ausmacht, oder, wie man heute so gern sagt, wahrer Dialog.

Wie immer in der christlichen Kirche, ist die Ortsebene von größter Bedeutung. Nur dort, wo Christen wirklich leben, werden die Formen christlicher Disziplin deutlich. Nur dort findet Mission ihren authentischen Ausdruck, wird Feier Engagement und Glaubensdisziplin Aktion. Die Jesus-Bewegung ist also eine Erscheinung, die zuallererst eine Herausforderung an die Ortskirchen bedeutet. Hier muß es zu Kontakten kommen, damit überlieferte Formen und neue Erfahrungen sich gegenseitig bereichern und korrigieren können. Die Jesus-Leute treffen auf der Ebene der „Charismata“ (Gaben des Geistes) zusammen. Das heißt, sie lernen voneinander, wie sie besseren Dienst leisten und ihre Erfahrung allen zuteil werden lassen können. Könnten einige Ortskirchen nicht in diesem Sinne „Experimente des Dialogs“ versuchen? Schon die Bekundung von Interesse könnte für alle bereichernd sein.

Die Jesus-Bewegung ist eine der vielen spontanen christlichen Bewegungen, die es heute gibt. Denken wir nur einmal an den Jugendrat der ökumenischen Gemeinschaft in Taize oder die „unabhängigen afrikanischen Kirchen“ oder die vielen tausend ökumenischen Aktionsgruppen, die überall auf der Welt gebildet werden. Das Verhältnis zwischen Ortsgemeinden und Aktionsgruppen ist nicht sehr klar. Dabei käme es der Kirche insgesamt zugute, wenn mehr Verständigung gesucht würde.

Nicht verurteilen!

Wir sollten nichts übereilen, weder auf nationaler noch auf international kirchlicher Ebene. Allzuviel Schaden schon wurde angerichtet durch Urteile und Kritiken, die sich nicht auf wirkliche Erfahrungen stützten und Gutes wie weniger Gutes wahllos in einen Topf warfen. Die Jesus-Leute, bei denen ich einige Tage gelebt habe, standen den Kirchen feindseliger gegenüber als sie eigentlich wollten — eine Reaktion auf die Art und Weise, wie das weit entfernte Establishment über sie schreibt und urteilt. Die ökumenische Bewegung tut angesichts derartiger spontaner Ausbrüche des Engagements besser daran, sich auf den eigenen Gehorsam hin zu prüfen, als andere zu verurteilen.

Noch ärgerlicher ist das Verhalten jener Christen, die diese Bewegung gönnerhaft unterstützen und kolonisieren. So las ich kürzlich einen Artikel, der die Jesus-Bewegung als die langersehnte Ablehnung, des Liberalismus in den Kirchen darzustellen versuchte. Ich möchte darauf mit einem Mitglied der Jesus-Bewegung antworten: „Ich komme aus einer guten christlichen Familie, und ich habe alles versucht. Die Liberalen haben mich etwas über die Gesellschaft, die Konservativen etwas über die Doktrinen gelehrt. Die Befreiung und die Freude des Evangeliums aber hatte mich bisher niemand gelehrt. Und genau das könnte ich ihnen zeigen.“

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