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Christen im Aufbruch

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Perestrojka heißt wörtlich Umbau und signalisiert Hoffnung, neuen Anfang. „Der Stein, den die Bauleute verwarfen, ist zum Eckstein geworden, Alleluja“ jubeln wir in der Osterliturgie, und viel andächtiger, lebendiger noch empfinden die Auferstehung seit Jahrhunderten unsere Brüder im Osten.

Selbst der düstere Skeptiker Nikolaj Gogol zum Beispiel hat knapp vor seinem Tod noch „Betrachtungen über die göttliche Liturgie“ verfaßt. Darin heißt es „Lasset uns zu denen, die uns hassen, sprechen: Brüder, ob der Auferstehung wollen wir uns alles verzeihen, und so lasset uns denn rufen: Christus erstand von den Toten, nachdem er durch den Tod vernichtet den Tod, den in den Grüften Ruhenden geschenkt das Leben“.

Trotz Verfolgung, Kerker, Vernichtung von Kirchen und Ikonen ist es in keinem der „sozialistischen“ Länder gelungen, den Glauben aus der Welt zu schaffen. Daß das einmal in dreißig Jahren vollbracht hätte sein sollen, ist längst vergessen, und in allen Oststaaten interessieren sich vor allem junge Leute wieder mehr für die Kirche: Tröstliche Wahrheit, beinahe ein Gottesbeweis, denn nichts hat die dunkelsten Zeiten so hartnäckig überdauert wie der unerschütterliche Glaube des Volkes an den Auf erstandenen, der alle Wunden heilt und dem Leben Sinn gibt.

Eben dieses strebte vor sieben Jahrzehnten, die Kirche verachtend, auch die kleine intellektuelle Elite der kommunistischen Revolutionäre an. Nicht anders als die Religionen wollten sie, daß die Bürger einander lieben und keiner den anderen übervorteilt oder ausnützt. Weil sich die Menschen dann aber als nicht gut und selbstlos genug erwiesen, kamen die Marxisten nicht ohne Exekutionen aus. Sie verlegten sie nur auf die Welt, machten die Polizei zum Jüngsten Gericht, mißbrauchten ihre Macht und mordeten, während sie Fürsten und Bischöfen vorwarfen, ähnliche Praktiken angewandt zu haben. Das ändert nichts daran, daß auch die Kirche immer schon aus schwachen Geschöpfen bestanden hatte und nicht alle Vorwürfe, die man ihr gemacht hatte, ungerecht gewesen waren.

Heute bieten sich ihr langsam wieder Chancen, die zu nützen aber gar nicht einfach ist. Wieviel Spielraum die Religion vor allem in der Sowjetunion zurückgewinnen wird, ist noch nicht abzusehen. Von 55.000 Kirchen, die vor der Revolution auf dem Gebiet der heutigen Sowjetunion gezählt wurden, sind heute etwa siebentausend „in Betrieb“, und von tausend Klöstern nicht einmal zwanzig. Bücher und Bibeln gibt es kaum. Mündlich wurde der Glauben weitergegeben und nahm oft starke Züge von Aberglauben an.

Einige Klöster sollen nun der Orthodoxie zurückgegeben, ein neues Gesetz zur Regelung religiöser Angelegenheiten soll bald diskutiert werden. Der Priesterausbildung wird schon jetzt etwas mehr Bedeutung zugemessen. Grund zu übertriebener Euphorie besteht aber noch lange nicht. Die katholische Kirche in der Ukraine ist weiterhin verboten, und die größere Bewegungsfreiheit, derer sich Glaubensgemeinschaften in Moskau bereits erfreuen, wird den Gläubigen in der Provinz noch keinesfalls zugestanden. Religiöse Schriften werden gelegentlich noch beschlagnahmt, und in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten sitzen Christen immer noch ihres Glaubens wegen. Immerhin besteht Grund zur Hoffnung, daß sich die Lage weiter bessert.

Mit Ausnahme von Rumänien sind auch in den anderen ost- und südosteuropäischen Staaten die starren Fronten aufgebrochen. Die Zeiten brutaler Unterdrük- kung sind vorbei. Selbst in jenen Ländern, in denen dieser Prozeß schon weiter fortgeschritten ist als im fernen Rußland, lastet aber die Vergangenheit schwer, wenn auch in sehr verschiedener Weise, auf der Kirche.

Ohne auf die Besonderheiten aller Staaten eingehen zu können, seien einige Beispiele zur Demonstration der Schwierigkeiten herausgegriffen.

In Ungarn wurden vor wenigen Wochen etwa fünfzig Kommunisten und Christen gemeinsam in die politische Hochschule geladen, um über Religion und Gewissensfreiheit zu diskutieren. Es ging um die Grundlagen zu einem neuen Religionsgesetz, das dort bereits in Arbeit ist. Die Kirche war nicht wie bisher in vergleichbaren Fällen mit einem fertigen Entwurf konfrontiert; vielmehr wurden die Bischöfe eingeladen, selbst Vorschläge zu unterbreiten.

Auf diesen Dialog waren die kirchlichen Teilnehmer dennoch kaum vorbereitet. Bisherige Praktiken der Partei und Mängel wurden von nachdenklichen Professoren in Frage gestellt. Wer die fehlende Gewissensfreiheit im Lande mit der Verfassung imvereinbar fand, waren nicht die Theologen, sondern marxistische Philosophen. Dann erst wagte ein Theologe die Frage, wie viele Probleme im Atheismus ihre Wurzeln hätten. _

Die Chance der Kirchenleitung, den aufregenden politischen Prozeß im Lande in christlichem Geist mitzugestalten, wird kaum wahrgenommen. Daß das auf andere Weise möglich wäre als durch Gründung oder Einflußnahme auf die Führung einer Partei, kommt den Bischöfen nicht in den Sinn. Menschen aus den verschiedenen Lagern sprechen von Aufbruchstimmung, Kardinal Läszlo Paskai aber ist fest entschlossen, „sich in die Politik nicht einzumischen“.

Jahrzehnte intensiver Bevormundung scheinen die Kirchenleitung der Fähigkeit beraubt zu haben, auf die Bedürfnisse der Menschen zu reagieren und die bösen Erfahrungen der Vergangenheit positiv zu verwerten. Kürzlich wurde es zum Beispiel als großer Fortschritt gefeiert, daß der Kardinal zu einem „freien“ Treffen der Bischöfe mit katholischen Basisgruppen einladen konnte, die bisher im Untergrund, wenn auch längst toleriert, gearbeitet haben. Zum Abschluß der Tagung gab er seiner Freude Ausdruck, daß bei dem Treffen nie über Politik gesprochen worden war — gleichzeitig rief er aber die Teilnehmer dazu auf, „als Salz und Sauerteig der Gesellschaft zu wirken“.

Die Tür gewiesen hatte er allerdings den ältesten und mutigsten Basisgruppen Pater György Bulänyis, den „bösen“, wie sie immer noch heißen, weil sie - ihrer Zeit ein wenig voraus — schon lange erkannt haben, daß die Kirche Gottes in Ungarn weniger pompöser Bischofsauftritte, denn un- spektakulärer Seelsorge und der Förderung mündiger Laien bedarf. Das allein ist offenbar Grund genug für Diskriminierung, wobei unbestritten ist, daß die besten Geistlichen und wohl auch die gescheitesten und aktivsten Laien des Landes zu diesen Gruppen gehören.

Sie sind keinesfalls interessiert an politischen Positionen, wohl aber sind sie sich ihrer Verantwortung in der Gesellschaft bewußt und fühlen sich verpflichtet, als Christen in ihren Berufen aus gezeichnete Arbeit zu leisten. Vor Augen stehen ihnen deshalb wohl auch die Gefahren, die mit einer Restaurierung überholter christlicher Vereinsmeierei verbunden wären. So entziehen sie sich der Einflußnahme von oben und bleiben ein Stein des Anstoßes. Christen, die nicht weltliche Macht, sondern Anteilnahme an der Neugestaltung der Gesellschaft wollen, sind Staat und Kirchenleitung in gleicher Weise suspekt, obzwar oder besonders dann, wenn sie sich nichts zu Schulden kommen lassen.

Mit ganz anderen Schwierigkeiten als Ungarn ist derzeit Jugoslawien konfrontiert. Die Kluft, die sich zwischen den

Teilrepubliken zusehends vertieft, wird auch auf dem Rücken der Kirchen ausgetragen. Serben werden mit der Orthodoxie und Kroaten mit dem katholischen Glaubensbekenntnis identifiziert. Die Brücken zwischen den beiden Völkern und den Religionsgemeinschaften sind am Zerbrechen. Dennoch ist auch hier ein Prozeß der Demokratisierung im Gange.

Die Kirche wird von Partei und Politikern nur in Slowenien nicht weiterhin als Überbleibsel der sozialen Entwicklung dargestellt, ihre historische Rolle wird seitens der Macht vorwiegend negativ beurteilt. Es gibt eine katholische Presse, Wallfahrten, Marienerscheinungen und immer weniger Behinderung der Gläubigen, die Kirche aber bleibt unerwünscht. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit hat an ihrer Klerikalisierung lange und erfolgreich gearbeitet. Religionsgemeinschaften dürfen sich ungehindert mit Liturgie beschäftigen, in der Gesellschaft aber haben Gläubige keine Rolle zu spielen.

Staat und Kirche sind ideologisch streng getrennt, die in Jugoslawien derzeit höchst wichtige Ökumene findet auch unter den Laien nicht statt.

Ein wirklicher Aufbruch der Kirche scheint derzeit vor allem in jenen Ländern stattzufin den, in denen die Kirche bis heute noch kaum Bewegungsfreiheit hat. In der CSSR zum Beispiel, wo Gläubige sich aus ihrem christlichen Gewissen heraus an der Charta 77 beteiligen und gegen schreiendes Unrecht und Verletzung der Menschenrechte protestieren, wo sich Seminaristen konsequent um ihre theologische Ausbüdung bemühen, obzwar die Verhältnisse in den Ausbildungsstätten jeder Beschreibung spotten. Wo früher dreißig Bewerber studieren durften, werden heute fünfundsechzig Alumnen zugelassen, denen aber nur derselbe Raum zur Verfügung steht. Damit soll verhindert werden, daß sich Studenten weiterhin im Untergrund ausbilden und weihen lassen.

Der greise Kardinal František Tomašek fühlt sich als Diener seiner Gläubigen, erfreut sich großer Hochachtung und steigender Beliebtheit in dem schon seit der Gegenreformation antiklerikal eingestellten Land und gibt ein leuchtendes Beispiel auch über die Grenzen seines Landes hinaus. In der CSSR versuchen Christen unter großen Risken die Botschaft des Evangeliums zu leben und offenbar nicht nur deshalb, weil die Institution Kirche eben derzeit keine öffentliche Rolle spielen darf.

Ein ganz anderes Beispiel ist Slowenien. Auch dort ist der Prozeß schon weit fortgeschritten — aus dem Slogan,.Religion ist Privatsache“ wurde für die Christen Religion zu einer persönlichen Angelegenheit, zu ihrem Anliegen. In Laibach (Ljubljana) fordert auch der Bischof die Laien auf, sich selber die Frage zu stellen: Habe ich alles getan? Damit sind die Christen in diesem Lande in einen sehr fruchtbaren Dialog mit den Marxisten und Kommunisten getreten. Beide haben das alte Schwarz-Weiß-Denken aufgegeben und festgestellt, daß es Aufgaben gibt, die auch Andersdenkende miteinander verbinden. Auf dieser Basis können dort Christen auch schon Forderungen durchsetzen. Die Haltung katholischer Gynäkologen beispielsweise wird respektiert, sie müssen

Abtreibungen nicht mehr durchführen.

Anfang dieses Monats fand in Abbazia (Opatija) ein Treffen katholischer Journalisten aus jenen Oststaaten statt, die schon genügend Freiheit haben, ihr Land anläßlich solcher Veranstaltungen zu verlassen. (Siehe auch Seite 3.) Einen der einleitenden Vorträge hielt Ivica Maštru- ko, marxistischer Philosoph und Parlamentarier, der demnächst als Botschafter Jugoslawiens beim Heiligen Stuhl akkreditiert werden soll. Ivica Maštruko kritisierte schonungslos das eigene Lager, bekannte sich zu dem Fehler der Partei, politisches Engagement von katholischen Laien in der Gesellschaft als untragbar bezeichnet zu haben.

Er räumte ein, daß von den politischen Verhältnissen und der Demokratisierung der politischen Organisationen abhängen wird, ob sich das Laienapostolat zu einer funktionierenden kirchlichen Gemeinschaft entwickeln könne. Das große Problem des Sozialismus liege darin, daß eine nur mehr historisch „verifizierte“ Meinung entsteht, wenn man eine Idee institutionalisiere. Dann nämlich „vergißt man die Idee und dient der Institution“. Unrecht hatte Ivica Maštruko aber nicht, als er auch in der Kirche Zeiten registrierte, in denen sie sich viel mehr Sorgen um die Institution machte und selbst vergaß zu überprüfen, „ob sie noch auf dem Boden der Idee steht, auf deren Grund sie entstanden ist“.

Wenn Professor Maštruko von einem Prozeß grundlegender Veränderungen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems in Jugoslawien sprach, so stimmt das in unterschiedlicher Weise für alle Oststaaten und ist ein Anlaß für die bestehenden politischen Organisationen, aber auch für die religiösen Institutionen, mitzuhelfen,’die Grenzen und Trennlinien zwischen Gläubigen und Nichtglaubenden niederzureißen.

Auch wenn man sehr wohl weiß, daß Maštruko nicht repräsentativ für die Vertreter der kommunistischen Gesellschaft ist, so kann es für Christen eigentlich keinen Grund geben, eine Hand’nicht zu ergreifen, die ihnen entgegengestreckt wird. Ohne Abbau von Mißtrauen, ohne ernsthaften Dialog auf allen Ebenen werden die Religionsgemeinschaften ihre neuen Chancen im Osten nicht nützen. Wenn ihnen das aber gelingt, können sie zum Vorbild weit über die Grenzen der sozialistischen Staaten werden.

Der Klerikalismus, in den die Kirche in fast allen sozialistischen Ländern gedrängt wurde, ist eine große Gefahr. Wenn Christen eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft spielen wollen — und die Möglichkeiten dazu waren noch nie so groß —, dann müssen sie als mündige Gläubige auf dem Boden des Evangeliums frei und in Liebe ihre Aufgaben wahrzunehmen lernen. In den kommunistischen Parteiprogrammen steht heute noch, daß jedes Mitglied der KP Atheist sein muß. Gegenwärtig gibt es aber in manchen Ländern bereits Möglichkeiten, sich außerhalb der Partei zu engagieren.

Die Zukunft der Kirche in den kommunistischen Staaten wird von der Frage abhängen, ob Christen persönliche Verantwortung übernehmen. Am Episkopat ist es, zu entscheiden, ob das Gottesvolk, ob Christen die Möglichkeit haben werden, sich im Sinne des Zweiten Vatikanums auch innerhalb der Kirche frei zu artikulieren. Das ist im Osten, ähnlich wie vielleicht auch in Südamerika, zur Uberlebensfrage geworden.

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