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Müssen Wunder geschehen ?

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Wnn ich jetzt, in den Tagen vor Pfingsten, diese Zeilen an die „Furche“ richte, so geschieht es im Zeichen des Vertrauens, das ich als ein unbekannter Angehöriger der Sozialistischen Partei Österreichs zum führenden Blatte der Katholiken habe. Ich bin Mitglied der SPÖ und Angehöriger der katholischen Kirche. Ich bemühe mich in meinem Leben, die fruchtbaren und guten Gedanken des Sozialismus zu vertreten, und ich versuche mit Gottes Hilfe, Christ zu sein. Was ich sagen will, sage ich einfach als Mensch, ' als Bürger des Staates; ich spreche nur in meinem eigenen Namen, meine Worte sind von keiner kirchlichen oder Parteistelle autorisiert.

Ich meine es ernst mit dem Sozialismus und meine es ernst mit meinem christlichen Bekenntnis und deshalb empfinde ich Schmerzen wegen vielem, was heute — und nicht nur heute — geschieht.

Ausländische Freunde, die mich in diesen Tagen besuchten (Schweizer, die Sozialisten und Christen sind, wie ich), fragten mich, ob die Kampfstimmung zwischen Sozialismus und Kirche,' die sie den aktuellen Zeitungen entnähmen, ein Dauerzustand sei. Es dränge sich ihnen das Bild zweier feindlicher Armeen auf, die nicht übel Lust zeigen, übereinander herzufallen. Ich schwieg tief beschämt, beschämt als Österreicher, als Sozialist, als Christ.

Die letzten Wochen haben gezeigt, daß es in Österreich einflußreiche Kräfte gibt, die in der Geisteshaltung eines lediglich vertagten Kulturkampfes leben. Das, was in den letzten Wochen zum Beispiel zur Sache des Erzbischof-Koad-jutors und zu den Bahnhofgottesdiensten an üblem gesagt und geschrieben wurde, kann leider nicht nur als ein teeres Geschwätz zanksüchtiger Journalisten angesehen werden. Es steht mehr dahinter. Mit den gehässigen Auseinandersetzungen wurde, wie Äußerungen aus allen Schichten zeigen, dem österreichischen Volke eine unnötige quälende seelische Belastungsprobe zugemutet. Das Volk hat die Probe glänzend bestanden, führende Funktionäre und Journalisten aber haben vor Gott und den Menschen versagt. Während ein Trommelfeuer von tödlichen Gefahren auf die Welt, auf Europa, und damit auch auf Österreich, herniedergeht, ist eine Anzahl von einflußreichen Männern bemüht, wo immer sich eine echte oder vermeintliche Blöße des „Gegners“ zeigt, die Dolchklinge herzloser und bösartiger Angriffe in dessen Leib zu stoßen. Ein erbärmliches Schauspiel, das vielen Österreichern Anlaß gibt, über ihren Standpunkt als Bürger des Staates, als Christen, als Parteiangehörige nachzudenken.

Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß die Christen, geschwächt durch die Entfaltung des Liberalismus im 19. Jahrhundert und im ersten Teile des zwanzigsten, nicht in der Lage waren, befriedigende soziale Lösungen durchzuführen. In einer Art von Verlassenheit griffen weltliche Menschen zu weltlichen Methoden. Die Geburtsstunde des marxistischen Materialismus schlug. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, da ernste Theologen und Philosophen die anima naturaler christiana in der alten Sozialdemokratie, aber auch im gegenwärtigen Sozialismus noch, gründlich erforschen und beschreiben werden. So wie ich sind zahllose Menschen mit einem (meistens unbewußten) absolut christlichen Anliegen in die Sozialistische Partei eingetreten: mit dem Anliegen der Liebe zum Nächsten. Das dürften jene Christen, die selbst nicht Sozialisten sind, nie übersehen. Aber auch die sozialistischen Führer sollten immer daran denken, daß ihre Anhänger nicht des Kampfes willen, sondern der Liebe willen gekommen sind. Der Heilige Geist weht, wo er will. Er ist nicht an den Kirchenraum gebunden.

Heute, da der Materialismus als Weltanschauung in die Defensive gedrängt ist, ist es nicht vornehm, wenn Männer, die Christen sein wollen, mit dem Zeigefinger auf die „gewordenen Sozialisten“ zeigen, die sich in Wort und Ausdruck vergreifen. Sie sollten sich lieber jener ihrer christlichen Vorfahren erinnern, deren Versagen auf der sozialen Ebene den Sozialismus hervorgerufen hat. Der Mangel an echter Weltanschauung, an Religion, der jetzt deutlich wird, ist der wunde Punkt des Sozialismus. Von dem Vorgefühl dieser Tatsache bis zu ihrer Erkenntnis und endlich bis zu der Folgerung, daß über der weltlichen Parteiaufgabe doch der religiöse Glaube steht, führt ein weiter Weg. Es tut weh, wenn man einen totalen Anspruch, den man aus ehrlicher Überzeugung verfocht, aufgeben muß. Es tut doppelt weh, wenn Pharisäer und Besserwisser am Wegrand stehen und hämische Bemerkungen machen. Und es erbittert, wenn, etwa bei Wahlgängen, das Gewicht der Religion in die Waagschale eines politischen Gegners gleitet.

Solche Dinge, aus welchen Bedingungen immer sie geschehen, werden nicht so bald vergessen. Verpolitisierte Menschen — und Parteiführer und Parteijournalisten sind verpolitisiert — neigen dazu, alte Rechnungen bei Gelegenheit zu begleichen. Aus diesen Gedankengängen ist die beklagenswerte Haltung der Sozialistischen Partei in den als Beispiel genannten Fällen zu begreifen. Dies sage ich als Christ zu meinen christlichen Brüdern.

Und als Sozialist muß ich zu meinen sozialistischen Freunden sagen: Wenn auch die Christen, Klerus und Laien, Fehler begangen haben, so sind sie doch voll guten Willens, als Menschen jedenfalls ebenso voll guten Willens wie die Sozialisten. Die Sozialisten sollten Gott danken, daß es die Christen gibt, die Christen sollten Gott danken, daß es die Sozialisten gibt. Fehlte eine der beiden Kräfte, so wären wir — es sei nur das große Tagesproblem genannt — wahrscheinlich bereits in der Volksdemokratie gelandet. Wozu die Bischofsweihe in Rom haßvoll als eine Angelegenheit hinstellen, die sich „ebensogut in Moskau“ hätte ereignen können? Wozu solch kränkendes Gift streuen? „Die gestellte Anwesenheit einiger Figuren der ÖVP bei diesem Akt“ — schreibt die „Arbeiter-Zeitung“ weiter. Hier sind wir bei einem Kernpunkt angelangt. Warum ist es nicht möglich, daß prominente sozialistische Führer solch einem Akt beiwohnen? In Österreich ist es so, daß die Gegner sich meistens erst vor dem Sarge des einen oder anderen bedeutenden Menschen in würdiger Haltung zusammenfinden. Sollen wir, das österreichische Volk und seine Parteien, uns erst dann die Hände reichen, wenn wir, wie schon einmal in den KZs, vor dem Sarge Österreichs stehen, wenn es zu spät ist? Warum erheben sich zum Beispiel nicht auch unter den sozialistischen Führern Köpfe, die für die Beibehaltung der Bahnhofgottesdienste plädieren? Und Kräfte, die den Standpunkt der Christen in den Fragen der Ehegesetzgebung und der Jugenderziehung respektieren? Immer wieder ist es die ÖVP, deren zum Großteil traditionell katholische Führerschaft einzig und allein für die christlichen Belange öffentlich eintritt. Das müßte keineswegs so sein. Solange die SPÖ nicht bereit ist, das Christentum zu schützen, schließt sie sich von der innigsten Gemeinschaft mit einem großen Teil des Volkes aus, bewirkt sie, daß viele Christen, zum Teil gegen ihre sonstige Überzeugung, Anlehnung und Schutz bei der ÖVP suchen. Dagegen dann Zeter und Mordio zu rufen, ist unfair und unweise.

Auch die vom österreichischen Sozialismus oft zitierte britische Labour Party ist eine echte Arbeiterpartei, obwohl ihre Führer fast durchwegs — Christen sind. Echte Christen sind keine Gegner des echten Sozialismus, im Gegenteil. Sie sind nur Gegner eines Materialismus, der sich als Religion ausgibt oder die Religion als unnötig hinstellt. Der Sozialismus, der sich unvergängliche soziale Verdienste erworben hat, sollte, frei von Hochmut, den Christen die Möglichkeit geben, ohne Gewissenskonflikte am Weiterbau seines sozialen Werkes mitarbeiten zu können, wie in aller Welt, so auch in Österreich. In den Fragen, die dem Christen am Herzen liegen, liegen müssen, sollte man nicht starr an alten und unlebendigen Formeln festhalten. Das wären Taten, würdig einer Generation wahrhaft fortschrittlicher Sozialisten.

Es ist so, daß jeder disziplinierten Parteiapparatur naturgemäß gewisse mechanische Gesetze innewohnen. Viele Sozialisten, besonders der jungen Generation, haben das beängstigende Gefühl, daß die Parteilinie sich in wichtigen Punkten dem Einfluß des fließenden Lebens entzieht. Wenn ein sozialistischer Spitzenfunktionär etwa anläßlich eines Parteitages oder am 1. Mai öffentlich erklärte: „Ich glaube daran, daß das Evangelium, die Zehn Gebote, die Bergpredigt die Grundlage für das Leben der Menschen auf der Erde darstellen und ich glaube weiter, daß ich durch diese Erkenntnis dem Sozialismus besser als je zuvor dienen werde“ — dann wäre dieser Mann der Wegbereiter für eine Zeit der Kraftentfaltung des Volkes, wie sie seit Jahrhunderten nicht mehr möglich war. Ob ihn ein Tumult aufgeregter Parteifreunde hinwegfegen würde? Nein, gewiß nicht, im Gegenteil: er wäre der Erfüller einer heimlichen Sehnsucht so vieler Herzen. Und er könnte es sein, der eine Entwicklung einleitet, die dazu führt, daß das österreichische Volk sein politisches Schicksal einmal für eine Wahlperiode einer sozialistischen Mehrheit anvertraut, einem Sozialismus, der erkennt, daß die Liebe Christi die größte soziale Kraft aller Zeiten ist.

SPÖ und ÖVP als klar abgegrenzte Parteien, ohne Haß gegeneinander, und beide dem Christentum in Freundschaft verbunden — das wäre ein Ziel, des Schweißes der Edelsten wert. Die Situation Österreichs, die schwierig und gefährlich genug ist, wäre mit einem Schlage gewendet. Ist nicht jeder Christ kraft seines Glaubens und jeder Sozialist kraft seiner Lehre verpflichtet, sein Möglichstes zu tun, den größten Nutzen für das ganze Volk zu schaffen? Müßten nicht aus den Kirchenportalen und Parteihäusern die Menschen aufeinander zueilen und sagen: Versuchen wir's einmal zusammen!

Muß man denn immer die Kräfte messen als Gegner? Wie unsinnig! Zeigen wir doch einmal unsere Kräfte als Freunde!

Europa beginnt sich zu einigen. Die Leiden eines Jahrhunderts beginnen Früchte zu tragen. Eine deutsch-französische Verständigung zeichnet sich ab, deren Wirkung ungeheuerlich werden kann. Und wir? Soll uns die Welt so sehr beschämen? In diesen Tagen wird mancher im Volke sich die Frage stellen, welche Personen es im einzelnen sind, die die Eintracht verhindern. Die Antwort könnte bedrohlich ausfallen.

Was uns von einer Epoche glücklichen Aufstiegs trennt, soweit er sich durch die Kräfte der Heimat erreichen läßt, sind festgefahrene Meinungen, Gespenster der Vergangenheit, fahle Schemen, die im Tageslicht der Vernunft nicht bestehen können. Diese Schatten sind unser Schicksal, wird mancher sagen, sie lassen sich nicht verjagen, außer es geschähe ein Wunder.

Vor zwei Jahrtausenden ist ein großes Wunder geschehen. Es kam mit Brausen, gleich einem gewaltigen Sturm, mit Zungen wie von Feuer. Und als die Apostel redeten, sagten die Leute: „Wie kommt es, daß ein jeder von uns sie in seiner Muttersprache hört?“

Wir aber reden noch in der großen Sprachenverwirrung, reden aneinander vorbei in den Sprachen des Hasses, des Zornes, der Feindschaft. Wir lauschen nicht auf die erhabene Muttersprache der Liebe und Freundschaft. Und doch liegt es nur an uns, das Wunder mit Gottes Hilfe zu vollbringen.

Das Wunder wird kommen, wenn nur genügend Menschen daran glauben.

Das Pfingstwunder unserer Tage.

Das österreichische Wunder 1950?

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