6645338-1958_20_12.jpg
Digital In Arbeit

Kinderkrankheiten?

Werbung
Werbung
Werbung

..Die christliche Welt ist eine mehr oder weniger gut gelungene Symbiose zwischen Kirche und einer bestimmten Zivilisation. Gewöhnlich wissen die Christen selbst nicht, was in ihren Ueberzeugungen und Handlungen wirklich aus dem Christentum kommt und was die Folge der Zivilisation, des soziologischen Milieus ist, aus dem sie stammen. Guten Glaubens meinen sie als Christen zu handeln, wenn sie in Wirklichkeit als Franzosen, als Deutsche, als Europäer oder, noch bescheidener, als Bürgerliche handeln.“ So zu lesen in dem Buche „Splitter und Balken“ (Von den Aergernissen einer christlichen Welt) von Ignace Lepp. (Verlag Styria, Graz. 276 Seiten. Preis 78 S.) Das ist wohl eines der drük-kendsten Probleme für uns Christen: die echte und nüchterne Uebersetzung des geschenkten Christseins und der christlichen Offenbarung in das tägliche gemeinsame Leben und in die täglichen, lebendigen Gedanken. Es ist dies für jeden einzelnen ein Unterfangen, das erst mit seinem Tode enden kann. Aber inzwischen müssen wir miteinander leben und versuchen, aus der subjektiven Heilsneurose herauszukommen, um das Schicksal der Menschheit an unserer Stelle mitzuerleben und mitzuformen.

In seinem Tagebuch geht Lepp so ziemlich alle Gebiete unserer „christlichen Welt“ durch und entdeckt auf Schritt und Tritt das Aergernis, das wir geben. An der „Würde des Christentums“ zweifeln wir nicht. Aber wir könnten verzweifeln an unserer Un-würde als Christen. Christus und sein Evangelium und seine Kirche stehen nicht zur Debatte. Darüber hat unser Glaube bereits entschieden. Was uns besorgt macht, ist unsere Unfähigkeit, in der Welt und mit der Welt zu leben, ohne sie vom Geiste des Herrn befruchten zu können. Wir haben eine Art Gettokomplex: Angst vor der Welt, die uns eine immer tiefer werdende Kluft aufreißen läßt zwischen unserer Innerlichkeit und unserem Weltauftrag. Die jeweils bestehende Ordnung halten wir für die geeignetste, darin das Reich Gottes zu etablieren. In Wirklichkeit ist kein Reich dieser Erde geeigneter als das andere, das Reich Gottes aufzunehmen — immer müssen wir durch Kompromiß oder Revolution die Welt verändern. Leider entscheiden wir uns zu oft für das Kompromiß: Wer am wenigsten Widerstand leistet und uns am bequemsten leben läßt, dem geben wir auch unsere politische Stimme. Damit ist dem Konformismus der Boden bereitet: Gleichschaltung im Denken und Handeln, die so starr wird, daß sogar (objektive) Unaufrichtigkeit und Gewalt als Waffe wider die eigenen Brüder verwendet werden. Der Klerikalismus fördert einen ganz genau umrissenen Stil, fördert Parteien und Organisationen, die von der Freiheit der Kinder Gottes nichts mehr übriglassen wollen: „Als ob die Kirche Christi mit einer Partei, einer Stilrichtung oder einer Philosophie gleichgesetzt werden könntel“ In einem „Heimweh nach Theokratie“ benehmen wir uns, als sei alle Welt noch gläubig und unsere Umwelt noch durch christlichen Geist bestimmt. Aber Gott ist schon lange aus der öffentlichen Welt ausgeschaltet — um wieder „christliche Welt“ zu bauen, müßten wir die Sprache der Feinde sprechen und verstehen können und alles Bisherige wiederum einmal neu durchdenken und meditieren und diskutieren: Zum Beispiel die Jugenderziehung, die religiöse und die weltliche. Die Frömmigkeit. Den Kommunismus ebenso wie den Kapitalismus. Das Apostolat und seine Streukraft im Bereich unserer Zivilisation. Das Verhältnis von Klerus und Laien sowie das Verhältnis der Kleriker untereinander. Es gibt wohl kein Gebiet unseres Weltamtes, das nicht erneuert werden müßte. — Vielleicht kämen wir dann auf eine echte Toleranz: daß wir auch fremde Ueberzeugungen gelten lassen, wenn es wirkliche Ueberzeugungen sind.

Aber Lepp meint wohl mit Recht, daß unsere Intoleranz, unsere Vorliebe fürs Getto eine „Kompensation eines gebrechlichen Glaubens“ ist. Weil es immer so war — das ist kein Motiv, alles beim alten zu lassen. Aber auch das Gegenteil ist gefährlich: auf alle Fälle nun etwas anders zu machen als bisher. Kierkegaard hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß Angst und Glaube Todfeinde sind: Wo die Angst herrscht, ist der Glaube erloschen: wo der Glaube vorherrscht, wird die Angst überwunden. Unsere Verschrobenheit in der Welt ist ein Aergernis für die Welt. Wir werden nur dann, wenn wir ohne Angst aus dem Glauben zu denken und zu leben lernen, das ärgste Aergernis aus der Welt schaffen.

Das demokratische Durcheinander der Gegenwart hat das patriarchalisch-hierarchische Reich früherer Ordnung abgelöst — daran ist nichts mehr zu ändern. Daß es dazu kam, beweist nur, daß wir die alten Ordnungen ebensowenig wirklich konnten, wie wir die neue Unordnung bewältigen werden. Lepp ließ sich durch einen verfolgten Priester trösten, der ihm sagte, daß wir weltgeschichtlich noch zu den ersten Christen gehören und daß alle gegenwärtigen „Probleme“ Kinder- und Jugendkrankheiten sind, die wir überstehen müßten wie ein Kind die Masern. Wenn wir von der ewigen Kirche sind, muß man die Maßstäbe größter Zeiträume anlegen, selbst wenn noch heute das Ende der Welt hereinbrechen sollte. „Die Gestalt dieser Welt vergeht.“ Wir verstehen schon nicht mehr, wie man sich einst über das Geschlecht der Engel streiten konnte — so werden künftige Jahrhunderte nicht mehr unsere gegenwärtigen Streitigkeiten verstehen. — Aber man kann auch durch Kinderkrankheiten zugrunde gehen. So bleibt bei allen erößten Maßstäben doch die Aufgabe, unsere Probleme zu unserer Zeit mit unserem Glauben und Mut zu überstehen. Die Kirche bleibt, unsere Liebe zu ihr bleibt, aber die Weltformen, in denen wir unser christliches Leben leben, ändern sich: ob zur christlichen Lebenssteigerung oder zu noch schlimmeren Krankheitserscheinungen hin, das hängt von uns Zeitgenossen ab.

Wir verdanken Ignace Lepp eine christliche Gewissenserforschung, die er uns mit viel Mut in seinem Buche vorlegt: „Splitter und Balken.“

Von Marx zu Christus. Von Ignace Lepp. Verlag Styria, Graz. 377 Seiten. Preis 99.50 S.

Wie Douglas Hyde hat auch der Autor des vorliegenden Buches, nunmehr katholischer Priester, vom „Gott, der keiner war“, vom Glauben an die Heraufkunft eines kommunistischen Reiches in dieser Welt zur katholischen Kirche gefunden. Dabei ist Lepp, nach seiner Bekehrung, der Kommunismus nicht das schlechthin Verabscheuungswürdige, sondern ein Durchgang zum Glauben, eine notwendige Phase seines Lebens, geeignet, ihm den Sinn für eine rechte Ordnung zu schärfen. Man kann darüber hinaus sagen: Ohne Kommunismus wäre der Verfasser kaum Katholik geworden.

Ignace Lepp schildert uns im ersten Teil des Buches seine plötzliche Hinwendung zum Kommunismus und seine gleichzeitige Abkehr von einer bürgerlichen Welt, eine Abkehr, die so drastisch ist, daß er alles verläßt, Familie und alte Umwelt, um nur ja jene Unabhängigkeit zu sichern, die er benötigt, um dem „reinen“ Glauben ohne Befangenheit anhängen zu können. Wir erfahren von der Tätigkeit des Verfassers als Propaganda- und Schulungs-mann, von seiner Dozententätigkeit in Rußland und davon, wie er seine Glaubensthesen mit der Wirklichkeit des kommunistischen Alltags vergleicht. Dabei unterläßt es Lepp nicht, uns kurz in die Haupttheorien des Kommunismus-Leninismus einzuführen.

Dann kommt die Bekehrung. Nicht plötzlich, aber unvermeidbar.

Der Verfasser spart nun nicht mit der Wiedergabe der Erfahrungen, die er als Christ gewonnen, mit den Hinweisen auf das Formalchristentum und die Schwierigkeiten, die es dem Christen schwer machen, Christ zu sein. Die Kritik des Verfassers am Christentum ist die Kritik eines Menschen, der die Wirklichkeit des Christlichen erst erfahren mußte, sehr zum Unterschied von den vielen, für die ihr Glaube von eh und je gesichert war.

Ein ernstes Buch. Keine Summe von Enthüllungen, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, wobei dieser durchaus auch als Reaktion auf eine falsche Gesellschaftsordnung gesehen und demgemäß gewertet wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung