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Statt Beichtväter - Psychiater

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Die Ohren dröhnen uns von der allmählich zur Selbstverständlichkeit werdenden Behauptung, mit dem Glauben der Kirche sei heute nichts mehr anzufangen. Eine Sache als traditionell zu bezeichnen, ist inzwischen schon vielfach gleichbedeutend damit, sie als überholt und belanglos hinzustellen. Die Kirche aber lebt von der Tradition dessen, was sie von Anfang an empfangen hat, und scheint damit, jedenfalls in ihrer bisherigen Form, keinerlei Chance mehr zu haben. Solche Worte und Gedanken würden keine derartige Macht ausüben, wenn ihnen nicht eine Erfahrung zugrunde läge, der sich kaum jemand entziehen kann: einerseits das Erlebnis, daß alles anders wird in der Welt; sie scheint sich immer schneller so grundsätzlich zu ändern, daß keiner der vertrauten Maßstäbe hält und nur völlig neue Wege einer völlig veränderten Menschheit helfen können; daneben tritt anderseits die Erfahrung der Wirkungslosigkeit des Christlichen, das den Menschen seinem Elend nicht entreißen kann und so für viele auf eine bloße Vertröstung hinausläuft, auf eine Schein-Erlösung, die an der Wirklichkeit vorbeigeht. In der Tat, wer an der christlichen Erfahrung nicht teilhat, kann kaum anders urteilen; das aber hat zur Folge, daß man anfängt, sich der christlichen Botschaft zu schämen und daß man mit greifbareren Erfolgen aufwarten will: mit sozialen und ökonomischen Leistungen, die niemand bestreiten kann, die faßbar Menschen befreien, aus ihrem Elend erlösen. Indes, die Not wächst schneller als die Hilfe, die ihr entgegengehalten wird und mit dem Ausweichen ins Greifbare, das schamhaft Tradition vergessen machen und Christentum als Teil moderner Humanisie-rungsarbeit erklären will, nimmt zugleich die Zerrissenheit in der Kirche zu, die so nur für alle um so freudloser, um so hoffnungsloser, um so problematischer wird. Von Frohbotschaft scheint wenig geblieben, statt dessen Streit und Verlegenheit.

Wozu noch Christentum? An die Stelle der christlichen Erlösung aus dem Glauben sind heute zwei neue Wege getreten, wie Menschen sich zu erlösen versuchen: der politisch ökonomisch-soziale und der psychologische. Auf der einen Seite sucht die Wohlstandsgesellschaft immer mehr nach jenen Beichtvätern, deren wissenschaftlichen Erkenntnis der menschlichen Seele ihr zerrüttetes und leergewordenes Dasein wieder ordnen soll: Was Liebe ist, was Wort ist, all das Ursprüngliche des Menschen will erst wieder entdeckt sein. Aber helfen diese Arzte wirklich? Sie können wohl sagen, wie die einzelnen Kräfte der menschlichen Seele funktionieren, aber nicht, wozu. Der Zerfall der menschlichen Seele beruht indes gerade darauf, daß ihre Kräfte sich leer bewegen. Man kann eigentlich im Blick auf diese Bemühungen recht deutlich sehen, daß die menschliche Seele so gebaut ist, daß sie sich nicht aus sich selbst erklärt.

Sie ist nicht wie eine Uhr zusammenzusetzen, ein geschlossenes Ganzes, das funktioniert, wenn man weiß, an welchen Ort jedes einzelne Stück gehört. Sondern sie lebt in einem offenen Kreislauf, besser in einer offenen Parabel und ist ohne den Bezugspunkt, der außerhalb ihrer selbst liegt, nicht zu heilen.

Aber greifen wir nicht vor. Neben der psychologischen Erlösung steht die sozio-ökonomische, der Weg der totalen Politik. Alles ist politisch, hören wir heute; darum kann nur die bewußte Politisierung von Kirche, Glaube, Liturgie den Weg in die Zukunft öffnen und den Menschen „erlösen”. Wer die ungeheure Not der Menschen in Indien und Indochina, in den Slums der Großstädte von Nord- und Südamerika, sieht, wer wahrnimmt, wie der Prozeß der Industrialisierung wachsend den Menschen programmiert, ihm seine Seele zu nehmen droht, der wird gewiß die Bedeutung der Politik für das Heil des Menschen nicht unterschätzen. Er wird verstehen, warum die Kirche von Anfang an — darin eins mit der Synagoge — durch ihr Gebet für die Lenker der Welt den politischen Bereich als einen Teilbereich des menschlichen Heils anerkannt hat. Insofern gibt es eine politische Verpflichtung des Christen, ohne deren Einlösung er den Wirklichkeitscharakter des Glaubens entleert. Die Redlichkeit und Ernsthaftigkeit des Glaubens erweist sich gerade auch in seiner Fähigkeit zum positiven politischen Handeln wie zum politischen Widerstand dort, wo er geboten ist. Die politische Sorge gehört zum Heil des Menschen. Aber die totale Politik wäre das sichere Unheil des Menschen. Der Mensch braucht zwar Brot zu seinem Heil, aber er wird durch Brot allein nicht erlöst; die gerechte Verteilung der Macht hat mit seinem Heil zu tun, aber ihre Neuverteilung kann nicht seine Erlösung sein.

Der Mensch braucht die Politik, das soziale und ökonomische Planen und Handeln. Aber wo es total wird, wo Politik sich als die Erlösung des Menschen ausgiebt, da versucht sie die Rolle der Theologie beziehungsweise des Glaubens zu spielen und dann wird sie zur totalen Versklavung des Menschen. Ohne einen Sinn, der tiefer reicht als die Ordnung des ökonomischen, geht der Mensch zugrunde. Vielleicht gab es in der Geschichte der Selbstemanzipation des Menschen in den letzten 150 Jahren wirklich Augenblicke, in denen der Eindruck sich aufdrängte, der Mensch könne von der Gottesfrage weggehen, ohne Schaden zu leiden. Er könne sie als entbehrlich beiseite lassen. Vielleicht konnte es sogar scheinen, als hindere ihn die Gottesfrage wirklich, sich von Gewordenem zu lösen und sich nachdrücklich für seine eigene Sache einzusetzen. Aber wer auf die heutige Konstellation der Geschichte hinsieht, wird zumindest wieder sehr nachdenklich werden müssen. Die Situation von heute ist bestimmt durch das Gegenüber von Positivismus (als der neuen Form des Liberalismus) und Marxismus als politischer Heilsprophetie: Zwischen beiden geht der Streit um den Menschen, philosophisch etwa als Streit zwischen dem Neopositivismus und der Frankfurter Schule. Wenn der Positivismus allen marxistischen Philosophien nachweisen kann, daß sie geheime Theologien seien, die sich an den Tatsachen nicht verifizieren lassen, so kann der Marxismus dem Positivismus beweisen, daß seine Sachlichkeit ohne Maßstab und ohne Ziel ist. Die eigentliche Schwelle aber, an welcher der Mensch nach sich selbst fragt, nach seinem Warum und nach seinem Weg, wird weder da noch dort überschritten. Zuletzt haben beide über Macht und Konsum hinaus nichts zu sagen. Damit aber bleibt gerade das Eigentliche des Menschen leer. Das Bedrük-kende an manchen Formen modernen Christentums besteht darin, daß auch sie für alles, was nicht Macht oder Konsum ist, blind geworden zu sein scheinen Daß auch sie Kirche nur noch unter dem Aspekt der Macht oder der Genußbefriedigung verstehen können.

Damit kann man das Christentum gewiß nicht retten. Seine Größe liegt darin, daß es dem Menschen sich selber gibt. Einen Weg zunächst, eine Richtung, wie er handeln und leben soll. Vielleicht erschien uns das noch vor zehn Jahren als bloßer Moraläs-mus, den wir lieber entbehren würden. Heute wissen wir, daß der Mensch, der wesenlos ist (im Sinn Sartres), der immer erst sich selbst erfinden muß, genau daran physisch und psychisch zugrunde geht und wir vermögen das Geschenk des Weges neu zu schätzen. Freilich: ein Weg ist nur Sinn und ist daher nur zu leisten, wenn er Hoffnung auf ein Ziel gibt. Wenn er vorwärts führt. Hoffnung aber ist letztlich für den Menschen nur die Liebe. Sie aber ist als Grund der Welt dem Glaubenden in Jesus Christus anschaulich und gewiß geworden. Und auf ihn geht der christliche Weg zu. Ja, er selbst ist dieser Weg. So könnte man, ein bißchen zu theoretisch vielleicht, die christliche Grundformel so benennen: Die geglaubte und in Jesus Christus anschaulich gewordene Liebe ist als Weg die Hoffnung des Menschen.

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