Wozu noch Christentum?

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Von Joseph Ratzinger die furche 27. 5. 1972

Die Ohren dröhnen uns von der allmählich zur Selbstverständlichkeit werdenden Behauptung, mit dem Glauben der Kirche sei heute nichts mehr anzufangen. Eine Sache als traditionell zu bezeichnen, ist inzwischen schon vielfach gleichbedeutend damit, sie als überholt und belanglos hinzustellen. Die Kirche aber lebt von der Tradition dessen, was sie von Anfang an empfangen hat, und scheint damit, jedenfalls in ihrer bisherigen Form, keinerlei Chance mehr zu haben. [...] In der Tat, wer an der christlichen Erfahrung nicht teilhat, kann kaum anders urteilen; das aber hat zur Folge, daß man anfängt, sich der christlichen Botschaft zu schämen und daß man mit greifbareren Erfolgen aufwarten will: mit sozialen und ökonomischen Leistungen, die niemand bestreiten kann, die faßbar Menschen befreien, aus ihrem Elend erlösen. Indes, die Not wächst schneller als die Hilfe, die ihr entgegengehalten wird, und mit dem Ausweichen ins Greifbare, das schamhaft Tradition vergessen machen und Christentum als Teil moderner Humanisierungsarbeit erklären will, nimmt zugleich die Zerrissenheit in der Kirche zu, die so nur für alle um so freudloser, um so hoffnungsloser, um so problematischer wird. [...]

Der Mensch braucht die Politik, das soziale und ökonomische Planen und Handeln. Aber wo es total wird, wo Politik sich als die Erlösung des Menschen ausgibt, da versucht sie die Rolle der Theologie beziehungsweise des Glaubens zu spielen und dann wird sie zur totalen Versklavung des Menschen. Ohne einen Sinn, der tiefer reicht als die Ordnung des Ökonomischen, geht der Mensch zugrunde. Vielleicht gab es in der Geschichte der Selbstemanzipation des Menschen in den letzten 1550 Jahren wirklich Augenblicke, in denen der Eindruck sich aufdrängte, der Mensch könne von der Gottesfrage weggehen, ohne Schaden zu leiden. Er könne sie als entbehrlich beiseite lassen. Vielleicht konnte es sogar scheinen, als hindere ihn die Gottesfrage wirklich, sich von Gewordenem zu lösen und sich nachdrücklich für seine eigene Sache einzusetzen. Aber wer auf die heutige Konstellation der Geschichte hinsieht, wird zumindest wieder sehr nachdenklich werden müssen. [...]

Seine (des Christentums; Anm.) Größe liegt darin, daß es dem Menschen sich selber gibt. Einen Weg zunächst, eine Richtung, wie er handeln und leben soll. Vielleicht erschien uns das noch vor zehn Jahren als bloßer Moralismus, den wir lieber entbehren würden. Heute wissen wir, daß der Mensch, der wesenlos ist (im Sinn Sartres), der immer erst sich selbst erfinden muß, genau daran physisch und psychisch zugrunde geht und wir vermögen das Geschenk des Weges neu zu schätzen. Freilich: ein Weg ist nur Sinn und ist daher nur zu leisten, wenn er Hoffnung auf ein Ziel gibt. Wenn er vorwärts führt. Hoffnung aber ist letztlich für den Menschen nur die Liebe. Sie aber ist als Grund der Welt dem Glaubenden in Jesus Christus anschaulich und gewiß geworden. Und auf ihn geht der christliche Weg zu. Ja, er selbst ist dieser Weg.

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