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Was wäre das „heutige Heute”

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Seit vor 20 Jahren das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende ging, sind viele neue Fragen aufgetaucht. Dieser Beitrag versucht, sie zu formulieren, nicht zu beantworten.

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Seit vor 20 Jahren das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende ging, sind viele neue Fragen aufgetaucht. Dieser Beitrag versucht, sie zu formulieren, nicht zu beantworten.

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Vor zwanzig Jahren, am 8. Dezember 1965, wurde das Zweite Vatikanische Konzil in St. Peter in Rom von Papst Paul VI. feierlich beendet. Wir werden also feiern, gedenken, bilanzieren, würdigen, beurteilen, vorausblicken und was sonst noch alles so üblich ist, tun.

Wir können aber auch auf die Grundanliegen zurückblicken und uns fragen, was wäre, wenn heute ein solches Konzil zusammenkäme. Was wäre, wenn der

Dialog mit allen Menschen innerhalb und auch außerhalb der Kirche von einer solchen Versammlung geführt würde, nicht nur von einzelnen Gruppen und Instanzen? Was wäre das heutige Heute, das Heute Gottes und der Menschen, dem sich die Kirche nach dem glücklichen Wort von Papst Johannes XXIII. in ihrem „aggi-ornamento” stellen wollte?

Ein neues Konzil würde sicher, so glaube ich, die Frage nach dem Menschen und seinen Hoffnungen, die Frage des Krieges und Friedens, nach offener und versteckter Gewalt behandeln. Das Zusammenleben mit den Weltanschauungen alter und neuer Herkunft, den Religionen und Konfessionen, der Wissenschaft und Technik, die zum Teil schon völlig anders ist als noch vor zwei Jahrzehnten, müßte neu überdacht werden. Neu gestellt würde sicher die Frage der Einheit der Welt, der immer wachsenden wechselseitigen Abhängigkeit und Verflochtenheit aller Menschen und Schicksale im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben.

Anders hingegen müßten die Fragen nach religiöser Erfahrung, nach der Deutung des „mystischen” Aspektes der Welt behandelt werden. Die Betrachtung der Schöpfung und der Evolution und unser Umgang mit der Erde als Lebensraum, die Fragen der Ökologie, der Gerechtigkeit, der Armut und Not, der Befreiung zur wahrhaften Menschlichkeit würden anders verlaufen, denn viel tiefer müßten die Fragen nach dem Selbstverständnis des Menschen, seinen Lebensdeutungen und Philosophien ansetzen.

Das Bemühen um ein anderes Verständnis der Zukunft des Menschen wäre ein weiterer Punkt. Aber nicht zuletzt auch den Fragen nach der Beziehung der Geschlechter, der Frauenfrage, den Fragen der Jugend, der menschlichen Beziehungen, dem Verständnis von Arbeit und Freizeit, der Bedeutung von sozialem Aufstieg und Bildung - aber auch des Abstieges und der Verelendung und Verwahrlosung - sowie der Heilung und des Heilseinkönnens des ganzen Menschen, müßten Gespräche und Auseinandersetzungen gewidmet werden.

Diese Fragen betreffen die Kirche nicht nur indirekt, sondern sie sind als Fragen aller Menschen auch unsere ureigensten Fragen. Dennoch kommen auch Fragen des kirchlichen Lebens im engeren Sinn hinzu. Wie tief und wirklich ist unser Verständnis des Evangeliums? Wiederholen wir nur korrekt Formeln oder vermögen wir in der Verkündigung und Praxis zu realisieren, was Erkenntnis des Dreifaltigen Gottes, der Menschwerdung, Erlösung und Gnade bedeutet?

Ich meine, daß wir auch unsere eigene Geschichte, die Kirchengeschichte, reflektieren müßten, den Schmerz der Bearbeitung unserer Vergangenheit auf uns nehmen müßten, nicht nur im Fall Galilei. Wir sollten nicht nur aus der Geschichte unserer Wahrheiten, sondern auch aus der unserer Irrtümer und Sünden lernen. Aufarbeiten statt verdrängen, vermitteln und versöhnen statt vergessen und liegenlassen.

Neu stellen müßte sich die Kir-V che den Fragen nach dem Leben, den Lebensmöglichkeiten, ja Uberlebensmöglichkeiten der Gemeinden. Die Frage nach der Eucharistie erreicht in Europa bald Dimensionen, die wir bisher nur aus den Ländern der Dritten Welt und der Mission gekannt haben. Wie steht es um die Ämter und Dienste in der Kirche, die charismatische Struktur der Gemeinden? Was sagen wir zu den vielen, die überhaupt nicht mehr in der Gemeinde beheimatet sind, denjenigen, die in die innere und äußere Emigration gegangen sind, den Leidenden, Gescheiterten und Verzweifelten, für die wir keine wirkliche Antwort, keine Solidarität und Hoffnung haben oder zu haben meinen? Was tun wir mit den „Sündern”? Sind sie nur allein durch ihre Schuld sündig geworden oder auch durch unsere „Gerechtigkeit”?

Was trennt uns voneinander? Wo hat die Gemeinschaft der Liebe den Vorrang vor der Gemeinschaft der Uberzeugungen und des Rechtes? Wo enthalten wir den Menschen die Barmherzigkeit Gottes vor? Wie steht es um die Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit in den Beziehungen des Klerus zu den Laien und beider zu den Bischöfen und der Kirchenleitung? Wer vertraut noch wem? Leben wir noch miteinander oder schon längst aneinander vorbei? Wie steht es um die wirkliche Kollegialität der Bischöfe? Ist der neue Codex tatsächlich das „gewissermaßen letzte Dokument des Konzils”, oder darf man darüber nicht mehr sprechen? Wie steht es um die Offenheit, den

Freimut im Umgang miteinander, in der Suche nach der Lösung unser aller Anliegen? Ist der einzelne Mensch, jeder einzelne, für die Kirche überhaupt wichtig, liegt ihr etwas an ihm und wie zeigt sich das?

Wie steht es um die Ökumene? Wie steht es um unsere Solidarität mit den Ortskirchen in der ganzen Welt? Wo und wie leben wir in der Communio, der Kommunion, der Gemeinschaft der Liebe mit allen, die an Christus glauben?

Kommt etwas Neues?

Ich habe ein paar Fragen gestellt, denen sich ein heutiges Konzil vermutlich stellen müßte. Aber würde ein Konzil in der bisherigen Form sich diesen Fragen überhaupt stellen können? Hat nicht der Apparat der Kirche einen Grad an Kompliziertheit erreicht, daß er damit gar nicht zurechtkäme? Sind die Fragen nicht so komplex, daß ein Konzil in der traditionellen Zusammensetzung einfach überfordert wäre? War das nicht schon auf dem letzten Konzil zum Teil der Fall? Wer kann für wen welche Fragen überhaupt entscheiden? Wer ist wofür kompetent? Sind das nicht auch Fragen der Zeit, in der wir leben, die sich in allen übernationalen Gremien stellen? Kommt nicht etwas Neues herauf? Muß nicht etwas Neues heraufkommen?

Gibt es überhaupt ein allen gemeinsames Heute, oder gehen nicht auch die Uhren rund um die Welt anders?

Meine Absicht war es, Fragen zu stellen, nicht Antworten zu suchen. Das Jesajabuch läßt in einer wichtigen Stunde der Geschichte Israels den Herrn der Geschichte sagen: „So spricht der Herr...: Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?” (Jes 43,18,19).

Dieser Beitrag von P. Josef Scherer SVD (St. Gabriel) ist der KA-Wien-Zeitschrift „Informationen-Ar gumente-Initiativen” (Nr. 2/1985) entnommen.

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