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Priester in der Industriewelt

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Die Situation der Kirche in der Industrie und damit auch des Priesters in der Industrie wird durch zwei Tatsachen gekennzeichnet, die einander nur scheinbar widersprechen: Die Welt der Industrie ist eine unkirchliche Welt, gleichzeitig aber keine unchristliche oder gar gottlose Welt.

Eine unkirchliche Welt: Das Leben des Arbeiters wird geprägt von seiner Arbeit, dem Kampf um Lebensstandard, der Angst um den Arbeitsplatz, seinen Bemühungen um die Erziehung seiner Kinder und anderem mehr. Es wird nicht geprägt von der Kirche. Diese hat mit ihrem Lebensrhythmus und ihren Verhaltensweisen auf sein Leben so gut wiekeinen Einfluß. In gewissen Situationen des Lebens wie Geburt, Eheschließung, Tod räumt er ihr eine dekorative Funktion ein. Um darauf nicht verzichten zu müssen, treten auch die, die sich in Gesprächen als offene Kirchengegner bekennen, oft sogar als Atheisten bezeichnen, nicht aus der Kirche aus und zahlen ihr Leben lang die Kirchensteuer. Für das eigentliche Leben des Arbeiters aber spielt die Kirche kaum eine Rolle. Die Fragen, die ihn bewegen, sind nur zum geringen Teil die Fragen, die im Raum der Kirche zur Sprache kommen, und wenn sie dore aufgeworfen werden, dann finden sie nur sehr selten eine kompetente, lebensgerechte Antwort.

Die rein humanen Tugenden

Gleichzeitig aber ist die Welt der Industrie keine unchristliche oder gar gottlose Welt: So sehr zu hoffen steht, daß überall dort, wo die Kirche manifest wird, Gott durch Christus mit i’hr ist, so ist es erst recht sicher, daß die Anwesenheit Gottes -nicht nur für diesen Raum ! gilt. Wer das Wort der Schrift ernst nimmt, daß der in die Welt gekommene Gott überall dort ist, wo Liebe ist, der weiß, daß Gott im Leben des Arbeiters eine wesentlich größere Rolle spielt, als es sich der Arbeiter in der Regel bewußt ist und auf jeden Fall eine größere Rolle als die Kirche. Denn es gibt kaum eine Bevölkerungsgruppe, in der Kameradschaftlichkeit, Solidarität, Hilfsbereitschaft lebendiger sind als unter der Arbeiterschaft. Diese scheinbar „rein humanen” Tugenden sind für den Christen nichts anderes als Zeichen der Gemeinschaft Gottes auch mit dem Menschen, der den Namen Gottes nicht kennt oder zumindest nicht anerkennt.

Es gehört zu den Geheimnissen der Liebe Gottes, die gerade dem Priester in der Industrie Glaube und Hoffnung geben, daß Gott immer schon bei denen ist, zu denen die Kirche bis heute auf weite Strecken gesehen noch keinen Weg gefunden hat. Trotzdem darf sich die Kirche darüber nicht zur Ruhe setzen, weil sie so nicht den Auftrag erfüllt, den Christus selbst ihr gegeben hat: Zeichen der Anwesenheit Gottes unter den Menschen zu sein, damit die Menschen, die de facto bereits in Gemeinschaft mit Gott leben, diese Gemeinschaft mit Gott auch erkennen, anerkennen und immer tiefer zu leben lernen.

Aufgabe des Priesters in der Industrie ist es also nicht, die Welt der Industrie und die Menschen in ihr zu „verkirchlichen”, sondern umgekehrt die Kirche so zu vermenschlichen und in dieser Welt einzuwurzeln, daß sie zu einem glaubwürdigen Zeichen nicht für einen uninteressanten Gott über der Welt, sondern für den das Leben umwandelnden Gott in dieser Welt wird. Jede Reform der Kirche, die nur darauf aibzielen würde, .die Kirche attraktiver zu machen, wäre in ihren Motiven unlauter und im Grunde genommen nichts anderes als der alte Versuch der Verklerikalisierung der Welt mit neuen Mitteln. Reform der Kirche geschieht nur dann aus christlichen Motiven, wenn sie geschieht, damit die Kirche befähigt wird, ihren Beitrag zur Vermenschlichung der Welt zu leisten, gemeinsam mit allen anderen, denen ebenfalls ein menschliches und menschenwürdiges Leben der Inhalt ihrer Bemühungen ist.

Es ist sicherlich zuwenig, den Priester — so wie es heute manchmal geschieht — auf seine sakramentale Funktion in der Leitung der Gemeinde und seines Gottesdienstes einschränken zu wollen. Auch der Kult und das Sakrament sind nicht Selbstzweck, sondern stehen im Dienst der Verkündigung an dem Menschen, dem gedient werden muß, damit Gott der Dienst geleistet wird, den Er von uns erwartet. Die Verkündigung der Liebe Gottes zum Menschen, die die Liebe der Menschen zueinander fordert, richtet sich an alle Menschen, und so ist auch der Priester für alle Menschen gesandt und nicht bloß für den Kirchenchristen.

Im Bereich der Kirche hat der Priester den Versuch zu machen, den bewußt als Christen leben wollenden Menschen zu einem Leben zu helfen, das für den Außenstehenden so lange unerklärlich bleibt, als er Gott nicht als Kraftquelle dieses

Lebens anerkennen will. Gleichzeitig muß er aber die Gemeinschaft mit der großen Zahl der anderen suchen, um ihnen selbst ein solches Leben vorzuleben. Er muß den Christen zum Vorbild der Brüderlichkeit untereinander und den anderen zum Zeichgp der Solidarität Gottes mit der Welt, die die Kirche durch ihre Solidarität mit der Welt verkündet, werden.

Nichts anderes ist freilich auch die Aufgabe jedes Christen, und damit wird von neuem klar, daß die immer wieder versuchte Aufgabenteilung zwischen Priestern und Laien im Grunde genommen unsinnig ist. Nicht dn ihren Aufgaben unterscheiden sich Kleriker und Nichtkleriker voneinander, sondern bestenfalls in den Voraussetzungen und den Mitteln, mit denen sie die gemeinsamen Aufgaben zu erfüllen suchen.

Die Frage von morgen heißt daher auch nicht: „Wie sieht der Priester aus?”, sondern: „Wie sieht der Christ aus?” Wenn der Priester durch sein Leben mit anderen und im Gespräch mit anderen eine Antwort auf diese Frage sucht, dann ist damit immer auch seine eigene Existenz in Frage gestellt. Wenn Priester für kürzere oder längere Zeit in einer Fabik arbeiten, um eine Antwort auf die Frage zu suchen: „Wie kann der Arbeiter als Christ leben?”, dann geht es dabei immer auch um die Frage: „Wie kann der Priester nicht nur Religionsdiener und Kultusbeamter, sondern vor allem selbst Christ sein?”

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