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Diskussion und Tat

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Von Zeit zu Zeit ist es notwendig, daß Rufer aufstehen, welche die Menschheit aus der Gewohnheit und Selbstzufriedenheit aufzuscheudien vermögen. In den fahren, in denen Menschen blitzartig auf Nimmerwiedersehen auseinandergerissen wurden, da lernten wir den Wert der Gemeinschaft kennen. Ist es nicht schon seit Jahrzehnten der Menschheit selbst so ergangen? Den großen Schlachtrufen: „Hie Bürgertum — hie Arbeitersdiaft“, liegt mehr zugrunde als das Aufkommen eines neuen Welt- und Standesbewußtseins. Es ist die Feststellung, daß die Gemeinschaft der Menschheit zerbrochen ist. Damit erhob sich die Frage, wer noch einmal ein solche zu schaffen verstehe, nachdem sie den Fehler begangen hatte, ihr Herz zu teilen. Oder wird sie von einer Krise zur anderen so dahinvegetieren müssen, bis der klaffende Schlund Menschheit und Kultur sie hinabreißt und nur mehr Öde und leere Krater die Welt erfüllen, weil der Geist getötet und der Mensch, Phantomen nachjagend, den Bruder feindlich überfiel?

Untergangsstimmung? Nein, aber vielleicht müssen wir uns fragen, warum wir oft an Formen und an dem Gehaben eines Lebens festhalten, die nidit nur unwahr, sondern manchmal sogar unmöglich sind. Wieviel bedeutet noch der Nebenmensch? Das ist eine wesentliche, ja eine grundlegende Frage unserer Existenz überhaupt. Sie bedarf der Antwort. So beginnt der Wille zum Leben im Sprechen miteinander und sucht eine neue Form. Aus diesem Grunde sind vor zwanzig Jahren schon bei uns Menschen aus der Bahn ihres geruhigen Lebens herausgetreten, um, auf sich gestellt, den Weg zum Menschen anderer Richtung zu finden, um als Mensch zum Menschen zu sprechen und ihm ihre eigenen verschütteten ewjgen Werte zum Bewußtsein zu bringen. Es geht ja wirklich nicht bloß darum, aus dem gleichen Suppenkessel zu essen, sondern das Menschsein vor- und gegeneinander zu ehren und zu achten.

Im Westen Europas, wo der Individualismus in seiner geistigen Konsequenz noch viel schärfer herausgetreten ist, haben darum Priester in bewußter Verantwortung den Weg zum vereinzelten Menschen gesucht und sich selbst in das Leben des proletari-sierten Arbeiters eingefügt. Dieser Tage waren in Wien eine Anzahl französischer Priester zu einem freundschaftlichen Besuch, um in gegenseitigem persönlichen Gedankenaustausch Fragen und Erfahrungen miteinander zu besprechen Es ist auch bei uns eine feststehende Tatsache, daß das Christentum vielen Menschen kein bewegendes Moment mehr ist und sie gedanken- und gefühllos an den Kirchen vorübergehen. Dazu drängt sie kein Akt der Bosheit, aber sie hegen auch kein Gefühl der Zuneigung zur Glaubensgemeinschaft, So brechen Fragen auf, die nicht bloß theoretisch zu beantworten sind, sondern einer tatsächlichen Lösung bedürfen. Eine neue Lebenshaltung ist die entscheidende Frage des Abendlandes und greift die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft überhaupt an.

Von daher ergibt sich die gleiche Ebene der Diskussion, wenn auch die Probleme in Frankreich viel deutlicher und schärfer hervorgetreten sind als etwa bei uns. Dies mag seine Ursache vor allem darin haben, daß die Proletarisierung weitere Kreise früher erfaßt hat und eine weitaus größere Zahl von Industriearbeitern isolierte, die bewußte Proletarier sind und als solche leben. Elendsviertel wie in Paris, Lyon, Marseille, um nur einige zu nennen, kennen wir wohl nicht in gleichem Ausmaß, aber der Kollektivismus und Materialismus ist darum nicht weniger stark ausgeprägt. Zu diesen Menschen hat die Kirche fast kein Verhältnis mehr. Vielleicht verlangt der eine oder andere gelegentlich noch ihre Zeremonien, .aber sie bedeuten ihm keine Gemeinschaft, noch sieht er in ihr sein Lebenszentrum. Was ist da noch Kirche? — Andererseits sprach ein französischer Pfarrer aus der Pariser Bannmeile von einem „bloc practi-quant“, den er mit einer Bastion verglich, weil es Menschen sind, die in .einem abgeschlossenen Lebensraume stehen und die am wirklichen Leben keinen Anteil haben: die Alten, die Kinder und Weltfremden. Aber nicht Turm, sondern Sauerteig bedeutet das Wesen der christlichen Haltung. Darum die vielen, oft mühsamen Versuche zum arbeitenden Menschen vorzudringen, der mitten in den Sorgen des Lebens steht, weil diesem die Menschenwürde wieder bewußt gemacht werden muß und er als verantwortliche Persönlichkeit sowohl in der menschlichen wie in der kirchlichen Gemeinschaft zu stehen hat. Dies ist der Grund zu den scheinbar absonderlichen Versuchen, daß Priester als Arbeiter in die Betriebe und Fabriken gehen, um so die Kluft der Menschheit zu schließen und dem Arbeiter als Mensch und Bruder zur Seite zu stehen.

Aber all das ist nicht letztes Ziel, sondern Mittel und Zweck. Wozu? Um eine Organisation aufzustellen, um Zahlen zu buchen oder Erfolge einzuheimsen? Etwa um für Parteien Mitglieder anzuwerben oder um Geld zu verdienen? Gerade die Kirche in Frankreich gibt das Exempel, daß sie das alles nicht will. Die neue Seelsorgebewegung, die echten missionarischen Charakter trägt, ist keineswegs darauf bedacht. Im Mittelpunkt steht die Sorge und die Arbeit um die Familie, um den christlichen Menschen. Vater, Mutter, Kind sollen alle zugleich vom christlichen Geist erfaßt und belebt werden, nicht etwa eine Sektion der Männer, der Frauen und Kinder. Die Umgebung des Arbeiters muß menschlich und wieder christlich werden, dann wird auch seine Konversion, seine innere Veränderung auch in seiner Umgebung Bestand haben und sich so sein Wirken festigen. Denn nidit darum geht es, daß irgendein Priester irgend etwas tut oder organisiert, sondern daß der Christ in der Welt steht und sie formt. Die Brüderlichkeit erhält damit einen neuen, eigentlich ihren alten tiefen Sinn, weil sie die Grundlage der christlichen Gemeinschaft bildet. Ein Seelsorger der katholischen Jugend Frankreichs deutete seine Stellung und Aufgabe dahin, daß er nicht an der Spitze zu stehen habe, sondern daneben hergehen und die Seele der Gemeinschaft verkörpern wolle.

Damit wird wohl die entscheidende Aufgabe der Kirche in der Menschheit und vor allem in der ihr entfremdeten Welt der Arbeiterschaft von selbst charakterisiert. Die Kirche hat die natürliche und über-natürlidie Gemeinschaft zu sein, von der her der Mensch in seinem Tun beseelt wird und die sein Kollektivdasein allein zu ent-materi.ilisieren “vermag. Darum will sie auch alles vermeiden, was zu Mißdeutungen in der Öffentlichkeit führen könnte. Die Katholiken Frankreichs haben sich in ihrer Gesamtheit für keine politische Partei entschieden; sie fordern vielmehr von allen die Annahme ihrer weltanschaulichen Grundsätze. Oder weil niemand das Empfinden haben darf, daß das Geld und sonstige Machtpositionen in der Kirche eine Rolle spielen, hat der Klerus, der wohl zu den ärmsten gehört — es gibt viele Priester, die im Jahre nicht soviel erhalten, als ein Arbeiter in der Woche verdient —, auf wichtige materielle Beihilfen freiwillig verzichtet. Diese Unsicherheit kann Gefahr werden, doch sie bedeutet Gnade für den, der den Willen Gottes in ihr erkennt. Damit hat die Kirche ein Wagnis in dem Maße auf sich genommen, daß es beispielhaft für das Abendland werden kann. Sie versucht den Weg zur Gemeinschaft der Menschheit auf dem Weg zur Seele des Menschen neu zu finden und erinnert an die Menschlichkeit und Menschenwürde, die durch Christus auf die Welt kam und sie erneuerte. Vielleicht hat es auch seine besondere Bedeutung, daß von dem Lande, das als das klassische Land des Individualismus gilt, das Gemeinschaftsbewußtsein des Abendlandes eine neue Wendung erfährt. Denn es war geradezu auffallend, wie in allen Besprechungen und Darlegungen der Gedanke von der „equipe“, der Arbeitsgemeinschaft, in jeder Richtung, sowohl innerhalb des Klerus, wie auch der Laien untereinander und beider Stände zusammen, weit mehr in den Vordergrund stand, als wir es sonst gewohnt sindl zu hören. Die Tat des einzelnen ist ein selbständiger Teil der gemeinsamen Arbeit um das Reich Gottes, und die Gemeinschaft ist nur so viel, als sie durch den einzelnen wird, der selbst wirkt. Im Ziele aber werden beide eins.

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