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Das letzte Ufer

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Jede Zeit hat ihre Einmaligkeiten, aber unsere ist in besonderer Weise damit ausgezeichnet. Die wesentlichsten Momente dieser Einmaligkeiten sind nun meiner tiefen Überzeugung nach:

Zunächst das Schrumpfen unseres Erdballs infolge der modernen Verkehrsmittel. Natürlich ist der Erdball nicht absolut kleiner geworden, aber doch relativ, gemessen an den Möglichkeiten der Verkehrsmittel, deren Entwicklung dabei keineswegs abgeschlossen ist, vielmehr sich noch in vollem Fluß befindet. Das Näherrücken aller Kulturen, Völker und Rassen ist ein außerordentlich bedeutsames Phänomen. Denn es vermittelt direkte menschliche Kontakte, die noch vor zwanzig Jahren ungleich schwieriger und kostspieliger waren.

Weiterhin gibt uns die Technik heute ungeahnte Möglichkeiten, mit Hunger und Not fertig zu werden, zugleich aber auch die Bildung aller Menschen entscheidend zu heben.

Wir können Wüsten bewässern und Sümpfe trockenlegen, vielleicht das Eis des Nordpols wegschmelzen und ihn zum See machen. Also könnten wir Not und Elend zum Verschwinden bringen und uns näher kommen wie nie zuvor. Wir können die Freizeit verlängern und so die geistige Freiheit und geistige Entwicklung in einem unerhörten Maß allen eröffnen. Der Genuß höchster Kultur ist nicht mehr Privileg von wenigen, sondern sie ist über Buch und Photo, Film und Fernsehen allen zugänglich.

Denn es gehört zu den bemerkenswertesten Eigenschaften geistiger Güter, daß der nichts verliert, der sie schafft und dann weitergibt. Im Gegenteil. Während nämlich materielle Güter für den verloren sind, der sie hergibt, sind dies geistige nicht. Ja, ein Autor, der ein Buch schreibt, legt hier seine Ansichten, seine Gedanken, Meinungen, seine mehr oder weniger schwer erarbeiteten Erkenntnisse nieder. Er läßt dth-cTi das-Büch andere -daran“ t'erthabmrohYie-daß er nun weniger von dessen Gütern besäße.

Er teilt mit, ohne zu verlieren: Ja''es'fs'f'kein Zweifel, daß jeder, der ein solches geistiges Werk schafft, froh ist, wenn möglichst viele von ihm Besitz ergreifen, wenn möglichst viele es sich mitteilen lassen Und die Technik ermöglicht es uns, in einer bislang ungeahnten Weise, geistige Güter zu verbreiten und eine ebenso ungeahnte Zahl von Menschen damit vertraut zu machen. Diese Aspekte der Entwicklung, wobei wir zu bedenken haben, daß es sich dabei ausschließlich um Möglichkeiten handelt, die erst entsprechend ergriffen werden müssen, sind von außerordentlicher Faszination.

Aber diesen Möglichkeiten zum Positiven, deren Verwirklichung eine ungeheure und umfassende Anstrengung von uns allen fordert, steht gegenüber eine andere, ebenfalls erstmalige Möglichkeit in der Geschichte: Die Möglichkeit zum totalen Untergang der Menschheit durch den Menschen selbst.

Früher war der Weltuntergang zwar auch möglich, etwa als kosmische Katastrophe oder als Wunder Gottes. Jetzt allerdings gibt es eine völlig neue Möglichkeit, nämlich eben den Untergang der Menschheit durch den Menschen selbst. Das ist nun wirklich neu, denn diese Möglichkeit war bisher nicht abzusehen. Und daß der Mensch für die Menschheit als Ganzes eine Gefahr darstellt, ist heute nur zu gewiß.

Hier hilft kein Hinweis auf die kollektive Krise, die apokalyptischen Erwartungen des Jahres 1000, vor welchem die Menschen wegen der Magie der drei Nullen Angst hatten. Denn damals wartete man auf das Weltenende als ein mögliches Wunder, als einen direkten Eingriff Gottes. Heute aber kann der Mensch von sich aus das Ende der Menschheit herbeiführen.

Damit ist die Menschheit als Ganzes, universell neu bedroht. Und so entsteht auch ein neues Bewußtsein, tritt ein ganz neues Moment ins Spiel. Denn eine universelle Bedrohung schafft ein universelles Bewußtsein der Gemeinsamkeit. Es gibt wenige Dinge, die sosehr eine gemeinschaftsbildende Kraft haben, wie gemeinsame Bedrohung. Und diese gemeinsame Bedrohung greift an die Wurzel der Existenz. Obwohl es immer schon galt, daß die Menschen Brüder sind und auf einer gemeinsamen Basis stehen, daß sie eine natürliche Gemeinschaft bilden, war es doch niemals noch so deutlich, daß wir alle im gleichen Boot sitzen, das übrigbleibt oder untergeht. Jede rassische, soziale, nationale Diskriminierung, jedes Abschließen vom andern ist illusorisch und völlig unsinnig, fundamental unsinnig gegenüber dem tiefgreifenden Bewußtsein der gemeinsamen Bedrohung.

Diese universelle Gefahr durch einen direkten Akt des Menschen wird nie mehr von der Erde verschwinden. Sie ist endgültig. Die Möglichkeiten hiezu werden noch beträchtlich zunehmen, denn der Fortschritt der Wissenschaft ist nicht aufzuhalten.

Ich möchte nun nicht näher auf die Frage eingehen, ob die statistische Wahrscheinlichkeit nicht zur Annahme zwingt, daß früher oder später einmal diese Möglichkeit auch ergriffen wird. Ich möchte hier nur auf die psychologische und ideologische Bedeutung der bloßen Möglichkeit des Untergangs der Menschheit durch den Menschen hinweisen, die noch dazu als eine Dauereinrichtung zu betrachten ist. Denn auch das Bewußtsein der Möglichkeit von etwas formt die seelische Substanz des Menschen.

Und die Bewußtwerdung dieser neuen Möglichkeit hat, recht besehen und auf lange Sicht betrachtet, weitreichende Folgen.

Es besteht wohl kein Zweifel, daß schon die bloße Möglichkeit eines Menschheitstodes jeder Diesseitsreligion, das heißt, jeder Ideologie, die ein paradiesisches oder himmlisches Ziel auf Erden verkündet, die Glaubensgewißheit nimmt.

Wenn etwa jemand für eine, wenn auch noch so ferne Zukunft die angeblich notwendig aus den Entwicklungsgesetzen der Menschheit sich verwirklichende klassenlose, kommunistische Gesellschaft verkündet, wenn diese pseudowissenschaftliche Glaubensüberzeugung gepredigt wird, dann nimmt auch die bloße Möglichkeit

Luies. totalen Unterganges der Menschheit diesem Glauben die Gewißheit und damit auch seine Absolutheit und Überzeugungskraft.

Mit anderen Worten: Die Möglichkeit eines Unterganges der Menschheit durch den Menschen in dieser konkreten Form, wie sie sich uns darbietet, muß auf längere Sicht alle jene Ideologien, die ein Paradies auf Erden wollen, wie auch alle Weltanschauungen, die rein diesseitig ausgerichtet sind, zersetzen. Denn wie soll ein Mensch die Möglichkeit eines Menschheitstodes zum Beispiel in ein materialistisches Konzept einordnen?

Wenn man zu dieser Thematik spricht und die Möglichkeit eines Endes der Menschheit aufzeigt, ja deren Unausweichlichkeit darlegt, dann erhält man oft die Antwort: „Dann ist ja alles sinnlos, was wir tun, dann hat alles keinen Sinn.“

Und damit taucht im Angesicht eines möglichen Weltendes eine absolute Alternative auf: Entweder es gibt eine Transzendenz, ein Jenseits, dann ist es auch im Angesicht eines totalen Untergangs noch sinnvoll, zu gestalten und zu arbeiten, Bäumchen zu pflanzen und Werke zu stiften. Allen Jenseitsreligionen ist gemeinsam, daß sie an ein Ende glauben und doch, oder gerade deshalb das Leben des einzelnen und der ganzen Menschheit als sinnvoll ansehen. Oder man glaubt nicht an das Jenseits; dann ist wirklich alles, was wir schaffen und leisten, ohne rechten Sinn, ohne Endgültigkeit und Richtigkeit. So wird auch der bloß mögliche totale Untergang der Menschheit zum Herausforderer einer tiefen existentiellen Entscheidung.

Das Jenseits wird geradezu zum Postulat der ethischen oder, wie Kant sagen würde, der praktischen Vernunft. Wir können den Sinn unseres Lebens nicht mehr auf unsere Enkel abschieben. Soll unser Tun und Lassen, unser Arbeiten und Leben sinnvoll sein, dann muß es ein Jenseits geben. Ansonsten verweist uns die Möglichkeit des Menschheitstodes an die verschiedensten, mehr oder weniger konsequenten Formen des Nihilismus.

So hat der fanatischeste Angriff auf die Wirklichkeit der Materie, die Erforschung des Atoms, durch die Möglichkeiten, die er aufriß, uns zum Postulat des Jenseits gezwungen, wenn wir unser Leben nicht nihilieren wollen. Das letzte Ufer führte zur Sicht auf ein neues, jenseitiges.

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