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Warnung vor der Konsumgesellschaft

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Das neueste päpstliche Rundschreiben ist eine Einladung, nicht nur die vor 100 Jahren veröffentlichte Enzyklika „Rerum novarum" wieder zu lesen, sondern auch in die Zukunft zu blik-ken. Papst Johannes Paul IL stellt eine sehr differenzierte Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation an und weist aus christlicher Sicht Hoffnung verheißende Wege.

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Das neueste päpstliche Rundschreiben ist eine Einladung, nicht nur die vor 100 Jahren veröffentlichte Enzyklika „Rerum novarum" wieder zu lesen, sondern auch in die Zukunft zu blik-ken. Papst Johannes Paul IL stellt eine sehr differenzierte Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation an und weist aus christlicher Sicht Hoffnung verheißende Wege.

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Die Verkündigung und Verbreitung der Soziallehre gehört wesentlich zum Sendungsauftrag der Glaubensverkündigung der Kirche; sie gehört zur christlichen Botschaft, weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus den Erlöser miteinbezieht.

Sie bildet darüberhinauseine Quelle der Einheit und des Friedens angesichts der Konflikte, die im wirtschaftlich-sozialen Bereich unvermeidlich auftreten. Auf diese Weise wird es möglich, die neuen Situationen zu bestehen, ohne die transzendente Würde der menschlichen Person weder bei sich selbst noch bei seinen Gegnern zu verletzen, und sie zu einer richtigen Lösung zu führen. (5)

Hilfe für die Schutzlosen

Rerum novarum kritisiert die zwei Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: den Sozialismus und den Liberalismus. Dem Sozialismus ist der erste Teil gewidmet, in dem das Rechtauf Privateigentum bestätigt wird. Dem zweiten System ist kein eigener Abschnitt gewidmet, sondern der Papst behält sich seine Kritik am damaligen Liberalismus vor, bis er im zweiten Teil das Thema der Pflichten des Staates aufgreift.

Der Staat kann sich nicht darauf beschränken, „nur für einen Teil der Staatsangehörigen" - nämlich die wohlhabenden und vom Schicksal begünstigten - „zu sorgen, den andern aber", der zweifellos die große Mehrheit der Gesellschaft darstellt, „zu vernachlässigen".

Wenn dies geschieht, so verletzt er die Gerechtigkeit, welche jedem das Seine zu geben bereit ist. „Doch muß der Staat beim Rechtsschutz zugunsten der Privaten eine ganz besondere Fürsorge für die niedere, besitzlose Masse sich angelegen sein lassen. Die Wohlhabenden sind nämlich nicht in dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben selbst die Hilfe eher zur Hand; dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz von der Fürsorge des Staates ab. Die Lohnarbeiter also, die ja zumeist die Besitzlosen bilden, müssen vom Staat in besondere Obhut genommen werden".

Diese Stellen der Enzyklika sind heute vor allem von Bedeutung angesichts neuer Formen der Armut, die es in der Welt gibt. Denn es sind Aussagen, die weder von einer bestimmten Staatsauffassung noch von einer besonderen politischen Theorie abhängen.

Der Papst bekräftigt ein Grundprinzip jeder gesunden politischen Ordnung: Je schutzloser Menschen in einer Gesellschaft sind, um so mehr hängen sie von der Anteilnahme und Sorge der anderen und insbesondere vom Eingreifen der staatlichen Autorität ab.

So erweist sich das Prinzip, das wir heute Solidaritätsprinzip nennen und an dessen Gültigkeit sowohl in der Ordnung innerhalb der einzelnen Nation als auch in der internationalen Ordnung ich in Sollicitudo rei socialis erinnert habe, als eines der grundlegenden Prinzipien der christlichen Auffassung dergesellschaftlichen und ' politischen Ordnung. (10)

Option für die Armen

Der Inhalt der Enzyklika ist ein sprechendes Zeugnis für die Kontinuität dessen in der Kirche, was man heute „die vorrangige Option für die Armen" nennt; eine Option, die ich als einen „besonderen Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird", definiert habe. Die Enzyklika über die „Arbeiterfrage" ist also eine Enzyklika über die Armen und über das schreckliche Los, in das der neue und nicht selten gewaltsame Prozeß der Industrialisierung riesige Menschenmassen gestoßen hatte. Auch heute noch rufen in weiten Teilen der Welt ähnliche wirtschaftliche, soziale und politische Umwälzungen dieselben Übel hervor. (11)

Zum Thema Marktwirtschaft

In einigen Ländern sieht man nach der Zerstörung des Krieges auf verschiedenen Gebieten ein positives Bemühen zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, die sich von sozialer Gerechtigkeit leiten läßt und dem Kommunismus sein revolutionäres Potential entzieht, das sich auf die ausgebeuteten und unterdrückten Massen gründet. Dieses Bemühen wird im allgemeinen durch die Methoden der freien Marktwirtschaft unterstützt. Durch stabile Währung und Sicherheit der sozialen Beziehungen sucht man die Voraussetzungen für ein stabiles und gesundes Wirtschaftswachstum zu schaffen, in dem die Menschen mit ihrer Arbeit für sich selbst und für ihre Kinder eine bessere Zukunft bauen können.

Zugleich will man vermeiden, daß die Marktmechanismen zum ausschließlichen Bezugspunkt für das gesamte gesellschaftliche Leben werden. Man strebt eine öffentliche Kontrolle an, die das Prinzip der Bestimmung der Güter der Erde für alle wirksam zu Geltung kommen läßt...

(DieWohlstands- oder Konsumgesellschaft)... sucht den Marxismus auf der Ebene eines reinen Materialismus zu besiegen, indem gezeigt wird, daß eine Gesellschaft der freien Marktwirtschaft die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Menschen besser gewährleisten kann als der Kommunismus, wobei geistige Werte ebenso außer acht gelassen werden. Einerseits ist es wahr, daß dieses soziale Modell den Zusammenbruch des Marxismus aufzeigt, insofern er eine neue und bessere Gesellschaft erstellen wollte. Andererseits stimmt es mit ihm aber in Wirklichkeit überein, insofern es jede Eigenständigkeit, jede Berufung zum sittlichen Handeln, zum Recht, zur Kultur und zur Religion leugnet und den Menschen völlig in den Bereich der Wirtschaft und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduziert. (19)

Realität des Menschen sehen

Der zur Freiheit geschaffene Mensch trägt in sich die Wunde der Ursünde, die ihn ständig zum Bösen treibt und erlösungsbedürftig macht. Diese Lehre ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Offenbarung, sondern sie besitzt auch einen großen hermeneuti-schen Wert, weil sie die Wirklichkeit des Menschen begreifen hilft. Der Mensch strebt zum Guten, aber er ist auch des Bösen fähig; er kann Uber sein unmittelbares Interesse hinausgehen und bleibt dennoch daran gebunden. Die Gesellschaftsordnung wird um so beständiger sein, je mehr sie dieser Tatsache Rechnung trägt. Sie wird nicht das persönliche Interesse dem Gesamtinteresse der Gesellschaft entgegenstellen, sondern nach Möglichkeiten einer fruchtbaren Zusammenarbeit suchen. (25)

Die Armen sind eine Chance

Es (ist) notwendig, eine Denkweise aufzugeben, die die Armen der Erde -

Personen und Völker - als eine Last und als unerwünschte Menschen ansieht, die das zu konsumieren beanspruchen, was andere erzeugt haben. Die Armen verlangen das Recht, an der Nutzung der materiellen Güter teilzuhaben und ihre Arbeitsfähigkeit einzubringen, um eine gerechtere und für alle glücklichere Welt aufzubauen. Die Hebung der Armen ist eine große Gelegenheit für das sittliche, kulturelle und wirtschaftliche Wachstum der gesamten Menschheit. (28)

Unternehmer sind wichtig

Viele Güter können gar nicht durch die Arbeitskraft nur eines einzelnen wirksam erstellt werden, sondern sie erfordern die Zusammenarbeit vieler für dasselbe Ziel. Einen solchen Produktionsprozeß zu organisieren, seinen Bestand zu planen, dafür zu sorgen, daß er, unter Übernahme der notwendigen Risiken, der Befriedigung der Bedürfnisse positiv entspricht: auch das ist eine Quelle des Reichtums in der heutigen Gesellschaft. So wird die Rolle der geordneten und schöpferischen menschlichen Arbeit immer of fensichtl icher und ent-scheidender. Aber ebenso sichtbar wird - als wesentlich zu dieser Arbeit gehörend - die Bedeutung der wirtschaftlichen Initiative und des Unternehmertums. (32)

Ja zum freien Markt

Sowohl auf nationaler Ebene der einzelnen Nationen wie auch auf jener der internationalen Beziehungen scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein. Das gilt allerdings nur für jene Bedürfnisse, die „bezahlbar" sind, die über eine Kaufkraft verfügen, und für jene Ressourcen, die „verkäuflich" sind und damit einen angemessenen Preis erzielen können. Es gibt aber unzählige menschliche Bedürfnisse, die keinen Zugang zum Markt haben. Es ist strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu verhindern, daß die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und daß die davon betroffenen Menschen zugrunde gehen. (34)

Ja zum Gewinn - aber...

Die Kirche anerkennt die berechtigte Funktion des Gewinnes als Indikator für den guten Zustand und Betrieb des Unternehmens... Doch der Gewinn ist nicht das einzige Anzeichen für den Zustand des Unternehmens. Es ist durchaus möglich, daß die Wirtschaftsbilanz in Ordnung ist, aber zugleich die Menschen, die das kostbarste Vermögen des Unternehmens darstellen, gedemütigt und in ihrer Würde verletzt werden.

Das ist nicht nur moralisch unzulässig, sondern muß auf weite Sicht gesehen auch negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens haben. Denn Zweck des Unternehmens ist nicht bloß die Gewinnerzeugung, sondern auch die Verwirklichung als Gemeinschaft von Menschen, die auf verschiedene Weise die Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse anstreben und zugleich eine besondere Gruppe im Dienst der Gesamtgesellschaft bilden...

Unhaltbar (ist) die Behauptung, die Niederlage des sogenannten „realen Sozialismus" lasse den Kapitalismus als einziges Modeil wirtschaftlicher Organisation übrig. Es gilt, die Barrieren und Monopole zu durchbrechen, die so viele Völker am Rande der Entwicklung liegenlassen. (35)

Für eine Humanökologie

Besorgniserregend ist, neben dem Problem des Konsumismus und mit ihm eng verknüpft, die Frage der Ökologie. Der Mensch, der mehr von dem Verlangen nach Besitz und Genuß

als dem nach Sein und Entfaltung ergriffen ist, konsumiert auf maßlose und undisziplinierte Weise die Ressourcen der Erde und selbst ihre Existenz. Der unbesonnenen Zerstörung der natürlichen Umwelt liegt ein heute leider weitverbreiteter anthropologischer Irrtum zugrunde. Der Mensch, der seine Fähigkeit entdeckt, mit seiner Arbeit die Welt umzugestalten und in einem gewissen Sinne neu zu „schaffen", vergißt, daß sich das immer nur auf der Grundlage der ersten Ur-Schenkung der Dinge von seiten Gottes ereignet... (37)

Außer der sinnlosen Zerstörung der natürlichen Umwelt muß hier die noch schwerwiegendere Zerstörung der menschlichen Umwelt erwähnt werden; man ist noch weit davon entfernt, ihr die notwendige Beachtung zu schenken. Während man sich mit Recht, wenn auch viel weniger als notwendig darum kümmert, die natürlichen Lebensbedingungen der verschiedenen, vom Aussterben bedrohten Tierarten zu bewahren..., engagiert man sich viel zu wenig für die Wahrung der moralischen Bedingungen einer glaubwürdigen „Humanökologie". (38)

Den Markt nicht vergötzen

Hier stoßen wir auf eine neue Grenze des Marktes: Es gibt gemeinsame und qualitative Bedürfnisse, die mit Hilfe seiner Mechanismen nicht befriedigt werden können. Es gibt wich-

tige menschliche Erfordernisse, die sich seiner Logik entziehen. Es gibt Güter, die auf Grund ihrer Natur nicht verkauft und gekauft werden können und dürfen. Gewiß bieten die Marktmechanismen sichere Vorteile... Diese... schließen jedoch die Gefahreiner „Vergötzung" des Marktes ein, der die Existenz von Gütern ignoriert, die ihrer Natur nach weder bloße Waren sind noch sein können. (40)

Der Mensch ist Abbild Gottes

Wenn es keine transzendente Wahrheit gibt, der gehorchend der Mensch zu seiner vollen Identität gelangt, gibt es kein sicheres Prinzip, das gerechte Beziehungen zwischen den Menschen gewährleistet. Ihr Klasseninteresse, Gruppeninteresse und nationales Interesse bringt sie unweigerlich in Gegensatz zueinander. Wenn die transzendente Wahrheit nicht anerkannt wird, dann triumphiert die Gewalt der Macht und jeder trachtet, bis zum Äußersten von den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch zu machen, um ohne Rücksicht auf die Rechte des anderen sein Interesse und seine Meinung durchzusetzen.

Der Mensch wird da nur insoweit respektiert, als man ihn als Werkzeug für ein egoistisches Ziel benutzen kann. Die Wurzel des modernen Tota-litarismus liegt also in der Verneinung der transzendenten Würde des Menschen, der sichtbares Abbild des unsichtbaren Gottes ist. (44)

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