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Kritik und Selbstkritik

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Gesellschaft in Solidarität und Verantwortung" heißtder Ab- schnitt III des Hirten Wortes. Es geht darin um Glaube, Gemeinschaft und Gesellschaft, um die Entfal- tung des Menschen in Gemein- schaft, des gläubigen Menschen in der Kirche. Es hat die Bischöfe „beeindruckt", daß am häufigsten bei der Entstehung des Hirten- briefes das Thema Ehe und Familie angesprochen wurde. Sie betonen: (66) Es ist erwiesen, daß Ehe und Familie in der Überzeugung und im Leben unseres Volkes nach wie vor eine vorrangige Bedeutung haben. Das gilt keineswegs nur für die äl- tere Generation, sondern auch für die Jugend. Das schließt durchaus ein, daß in der Bewertung und noch mehr in der praktischen Gestaltung von Ehe und Familie bedeutende Veränderungen angestrebt werden: Genannt seien das Bemühen um mehr Selbstbestimmung der Ehe- partner, um verantwortete El- ternschaft, um die Gleichberechti- gung von Mann und Frau und um die Verwirklichung der ehelichen Gemeinschaft, auch in Form einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Erwerbstätigkeit und Fa- milientätigkeit.

Dann wird die gegenwärtige Krise von Ehe und Familie angesprochen: (68) ...Wir sehen daß in Öster- reich die Familie als Kernzelle in einer gesunden Gesellschaft zurück- gedrängt wird. Das geschieht, ob- wohl in der Bevölkerung der Wunsch nach einem geordneten Familienleben außerordentlich hoch ist. Zugleich leiden aber immer mehr Menschen darunter, daß die- ser ihr Wunsch aus persönlichen und gesellschaftlichen Gründen immer schwerer lebbar ist. Dazu tragen auch kulturelle Tendenzen bei, die sich mehr am Leitbild indi- vidueller Selbstverwirklichung und persönlichen Wohlergehens ori- entieren als an der Stärkung der gesellschaftlichen Kernzelle Fami- lie. Das mag zwar kurzfristig zu einem breiten Konsens und zu äu- ßerempolitischen Erfolg führen, auf weite Sicht gesehen hat aber die Gesellschaß selber an den schwer- wiegenden schädlichen Folgen zu tragen. Die Kirche kann auch nicht hinnehmen, daß Ehe und Familie durch die Begünstigung konkur- rierender Lebensformen in Be- drängnis geraten.

Ehe und Familie entsprechen laut Hirten wort „nicht nur einem erst vom Christentum geschaffenen Leitbild", sondern sind eine Ein- richtung, „die in ihrem innersten Kern der Schöpfungsordnung ent- springt und darum für das gesell- schaftliche Leben der Menschen allgemein verpflichtend ist". Die Bischöfe folgern:

(71) ...Erstens: Die Familie braucht mehr denn je ihren gesi- cherten wirtschaftlichen Lebens- raum. Die Familie erweist durch die Erziehung der Kinder der Ge- sellschaft von morgen einen un- ersetzlichen Dienst. Die Gesell- schaft ist darum verpflichtet, alles zu tun, um nicht die Familie, insbe- sondere die kinderreiche und die Familie Alleinerziehender, wirt- schaftlich zu diskriminieren. ...Auf keinen Fall dürfen materielle Zu- wendungen an die Familie als blo- ßes Entgegenkommen oder Gunst- erweis angesehen werden. Sie sind ein Rechtsanspruch der Familie an die Solidarität der Gesellschaft, für deren Zukunftssicherung sie die un- ersetzliche Voraussetzung schafft.

(72) Zweitens: Die Familie braucht aber auch ihren sozialen Lebensraum. Gewiß bestehen in Arbeit und Wirtschaft Notwen- digkeiten, die berücksichtigt wer- den müssen. Aufgrund des tech- nisch-wissenschaftlichen Wandels eröffnen sich aber neue Möglich- keiten, Arbeitsformen und Ar- beitszeiten mehr den Bedürfnissen der Menschen anzupassen...

(73) Drittens: Die Familie braucht schließlich auch einen kulturellen Lebensraum. Ehe und Familie ge- raten nicht nur in wirtschaftliche Engpässe und in eine Verarmung ihres sozialen Lebensraumes. Auch der geistig-kulturelle Lebensraum der Ehe und Familie wird enger, ihr sittlicher Wert ausgehöhlt, relati- viert und aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdrängt. Die Se- xualität, insofern sie zwischen- menschliche Liebe zum Ausdruck und Wachsen bringt, wird weithin von ihrer Hinordnung auf die Ehe getrennt. Aus kommerziellen In- teressen wird sie zum allgemeinen Konsumgut herabgewürdigt und in der Werbung bis hin zur menschen- entwürdigenden Pornographie mißbraucht.

Die Bischöfe erhoffen aber nicht nur vom Staat Schutz und ergän- zende Hilfe für das geistig-sittliche Gemeinwohl, sie kehren auch vor der Kirchentür:

(74) ...Die Kirche wird auch in ih- rem eigenen Bereich die Voraus- setzungen verbessern müssen, so daß es für ihre Mitglieder möglich ist, Ehe und Familie überzeugend zu leben.

Unter Hinweis auf kirchliche Dokumente und die Grundposition der Kirche hinsichtlich der „fun- damentalen Gleichheit der Ge- schlechter in ihrer Würde" wird angesichts von vielen, im Hirten- wort klar ausgesprochenen Dis- kriminierungen von Frauen und der besonderen Belastung alleinerzie- hender Frauen große Sorge geäu- ßert und gemeint:

(78) Unsere grundsätzliche Stel- lungnahme zum gesellschaftlichen Standort der Frau geht in eine zweifache Richtung.

Die erste bezieht sich auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Strukturen. Grundsätzlich darf die Gesellschaft eine Mutter mit Kindern nicht dazu zwingen, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit eine Erwerbsarbeit zu übernehmen. Das Sozialrundschreiben über die menschliche Arbeit bezeichnet das im Blick auf das Gemeinwohl der Familie und der Gesellschaft als „widersinnig" (Laborem exercens 19). Dabei ist sich die Kirche be- wußt, daß Frauen keineswegs nur aus materiellen Überlegungen au- ßerhäusliche Arbeiten annehmen...

Es geht in der heutigen Aus- einandersetzung in Wirtschaft und Gesellschaft darum, der Frau in weithin von Männern dominierten Einrichtungen und Strukturen die Gleichberechtigung zu verschaffen. Wirtschaftliche und gesellschaftli- che Einrichtungen wären so zu beeinflussen und zu verändern, daß sie eine flexiblere Aufgabenteilung von Mann und Frau in Familie, Arbeit und Freizeit ermöglichen...

(79) Die zweite Forderung des Rundschreibens über die mensch- liche Arbeit lautet: Wenn Frauen berufstätig sind, gleich ob verheira- tet oder alleinstehend, dann sollen sie dies tun können „ohne Diskri- minierungen und ohne Ausschluß von Stellungen, für die sie befähigt sind" (Laboremexercens 19). Diese Forderung betrifft vor allem eine Änderung des Bewußtseins ...

(80) Die Kirche ist zu diesem Bewußtseinswandel in besonderer Weise verpflichtet. Würde und Rechte der Frau haben nicht nur in der Geschichte der Menschheit, sondern auch in der Geschichte der Kirche nicht immer die gebührende Anerkennung gefunden. Wenn aber heute die Kirche die volle Anerken- nung der Würde und Rechte der Frau als Zeichen der Zeit erkennt, dann muß das für die Kirche zum unüberhörbaren Imperativ werden.

Anschließend widmen sich die Bischöfe der Jugend:

(82) ...Jeder Jugendliche hat das Recht auf eine qualifizierte Erstaus- bildung, die seiner Begabung und seiner Neigung entspricht und gleichzeitig realistische Arbeits- chancen eröffnet. Dazu braucht es eine umfassende Beratung und eine enge Zusammenarbeit zwischen den Jugendlichenseiber, den Eltern, den Schulen und den öffentlichen Ein- richtungen. Sie darf sich nicht auf eine flüchtige Beratung am Ende der Schulzeit beschränken, sondern muß die jungen Menschen in einer mehrstufigen Berufsorientierung begleiten. Den Eltern, aber auch den Jugendlichen selber muß in aller Deutlichkeit klargemacht werden, daß die Chancen auf dem Arbeits- markt wesentlich von der qualifi- zierten Ausbildung und einer reali- stischen Berufsentscheidung ab- hängen.

Die neue soziale Frage, die eine innerstaatliche und eine weltweite Dimension hat, steht im Zentrum der weiteren Betrachtungen. Inner- staatlich haben sich die einstigen Klassenkampf-Probleme zum Konflikt von Gruppeninteressen gewandelt:

(89) ...Es gibt bevorzugte und benachteiligte Bevölkerungs- schichten. Es gibt Gruppen, die im Verhältnis zum Ganzen überstark belastet sind, und andere, die sich einer privilegierten Stellung er- freuen. Es gibt Menschen, die neue Aufstiegschancen vorfinden, und es gibt solche, die absteigen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und in Armut leben. Dazu gehören oft: Alleinverdiener mit Familie, Arbeitnehmer mit niedri- gen Löhnen und in Leichtlohngrup- pen, Mindestrentner, Sozialhil- feempfänger, Arbeitslose, Bewoh- ner wirtschaftlich schwacher Re- gionen, Behinderte, Obdachlose, alte und kranke Menschen, Gastar- beiter und Flüchtlinge.

Der Hirtenbrief geht auch auf das Flüchtlingsproblem ein:

(91) Zu dieser neuen sozialen Frage gehört heute in besonderer Weise das Problem der Flüchtlinge und Einwanderer. Wir wissen, daß sowohl einzelne wie auch Gemein- den ein hervorragendes Zeugnis der Hilfsbereitschaft und Gastfreund- schaft abgelegt haben. Wir wissen aber auch um bedauerliche Ereig- nisse und um unchristliche Vorur- teile. Wir werden uns noch viel mehr bemühen müssen, die Vorurteile Fremden und Ausländern gegen- über abzubauen und solchen Men- schen nicht nur eine wirtschaftli- che, sondern auch eine mitmenschli- che Heimat zu geben. Dazu braucht es die Solidarität aller, auch die Bereitschaft zu einem innerstaatli- chen Lastenausgleich. Es ist nicht hinzunehmen, daß Flüchtlinge und Einwanderer in ein Ghetto abge- sondert werden. ...Jeder Rückfallin eine nationale Überheblichkeit widerspricht dem Geist der Men- schenrechte und ist zutiefst un- christlich.

Die Bischöfe setzen sich gründ- lich mit Gruppenegoismus und Sozialstaat auseinander:

(93)...Die katholische Soziallehre ist keineswegs gegen das organi- sierte Gruppeninteresse. Sie weiß aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sehr wohl um die ordnende Kraft der gesellschaftlichen Gebilde und Organisationen. Wo aber gesell- schaftliche Verbände zu Machtzen- tren erstarren und die Sorge für ihre Mitglieder und für das Gemein- wohl hintansetzen, stellen sie sel- ber ihre eigene Existenz in Frage. Wo sie aus Gruppenegoismus die berechtigten Interessen anderer Gruppen behindern, hören sie auf, gesellschaftliche Ordnungskräfte zu sein, und werden zur Bedrohung des Gemeinwohls. Wir betonen dies, weil auch in Österreich die Gefahr besteht, daß durch die Erstarrung gesellschaftlicher Verbände und Strukturen die neue soziale Frage nicht hinreichend gelöst, sondern verschärft wird...

(94) Über eines besteht kein Zweifel: das für die Lösung der neuen sozialen Frage so notwen- dige Gemeinwohl ist nicht das au- tomatische Ergebnis der rivali- sierenden Gruppeninteressen und auch nicht des Marktmechanismus. Dazu bedarf es auch des ethisch orientierten sozialpolitischen Han- delns des Staates. ...Es ist nicht Aufgabe des Sozialstaates, einzel- nen und gesellschaftlichen Grup- pen ihre Selbstverantwortung ab- zunehmen. Es ist ebenso nicht seine Aufgabe, die bereits gesellschaft- lich Mächtigen durch staatliche Förderung noch mächtiger werden zu lassen.

Der Hirtenbrief meint, daß im Zuge der Integration Europas in allen Staaten des Kontinents für soziale Mindeststandards gesorgt sein sollte und daß auch die Kirche herausgefordert ist, da der Staat nicht alles leisten kann.

Zum Thema Entwicklung und Frieden betonen die Bischöfe die weltweite Dimension:

(99) Wenn wir heute zur Lösung der weltweiten sozialen Frage ver- pflichtet sind, dann stehen wir in Österreich zunächst vor der beson- deren Verantwortung für die Län- der Ost-Mitteleuropas. Die Kirche in Österreich muß sich aufgrund ihrer Geschichte und ebenso auf- grund der geographischen Nähe in besonderer Weise verantwortlich fühlen. Diese neue Herausforderung stellt für sie selber auch in religiö- ser, geistiger und kultureller Hin- sicht eine Bereicherung dar. Wir werden darum alles tun müssen, um unseren Brüdern und Schwe- stern im Osten materiell und ideell zu helfen. Wir müssen ihnen aber auch Dienste für die so dringende Evangelisierung angesichts der neu- gewonnenen Freiheiten an- bieten.

(100) Diese große Aufgabe darf aber in keiner Weise unsere Ver- antwortung für die Entwick- lungsländer ablenken oder schwä- chen...

Der Sozialhirtenbrief greift dann die Mitschuld der Industrieländer am Elend der Entwicklungsländer auf und kritisiert deutlich Öster- reichs Entwicklungspolitik:

(101) ...Wir müssen aber fest- stellen, daß die Republik Öster- reich selbst unter den Geberlän- dern weit hintansteht. Mit aller Dringlichkeit appellieren wir dar- um nicht nur an die Bevölkerung, in der Bereitschaft zum Teilen nicht nachzulassen. Wir fordern vor al- lem die Politiker auf, für einen größeren Beitrag des Staates zur internationalen Solidarität einzu- treten. Im Bereiche der Kirche werden wir selbst uns bemühen, daß kirchliche Einrichtungen und Gemeinschaften ihrer weltweiten Verantwortung noch stärker ge- recht werden.

Das Hirtenwort anerkennt am Ende dieses Kapitels Friedensini- tiativen und hebt den Friedensauf- trag Österreichs hervor. Kritik wird am Waffengeschäft geübt:

(102)...Auch sogenannte christli- che Staaten sind zu Waf- fenproduzenten geworden, die durch den Waffenhandel schnelle Profite erzielen.

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