Österreich wohin?
Wie kann es, wie soll es nach den Wahlen weitergehen? Der Wiener Planungsstadtrat Hannes Swoboda plädiert für mehr Selbstbewußtsein. Und er appelliert, gemeinsam Ängste vor den Entwicklungen im Osten zu überwinden, um eine offene Gesellschaft zu bewahren.
Wie kann es, wie soll es nach den Wahlen weitergehen? Der Wiener Planungsstadtrat Hannes Swoboda plädiert für mehr Selbstbewußtsein. Und er appelliert, gemeinsam Ängste vor den Entwicklungen im Osten zu überwinden, um eine offene Gesellschaft zu bewahren.
Will man wissen, wohin man geht, braucht man vorerst eine Standortbestimmung. Der Wahlkampf der letzten Monate mag den Eindruck verstärkt haben, daß Österreich nichts weiter als eine Skandalrepublik sei, in der kein Stein mehr auf dem anderen liegt. Wozu noch bei manchem Teil der österreichischen „Intelligenz" der „Ehrgeiz" kommt, dieses Land kleiner zu machen, als es auf der Landkarte ohnedies ist.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Hier sollen keine Skandale oder Mißstände vertuscht oder verniedlicht werden. Das Votum, das die Wählerlnnnen dieses Landes am ersten Oktober-Sonntag des ahres 1990 gegeben haben, gibt dem Bundeskanzler und Partei Vorsitzenden der eindeutig größten Partei den klaren Auftrag, für Sauberkeit zu sorgen. Und dieses Votum ist auf Punkt und Beistrich in der täglichen politischen Arbeit umzusetzen.
Aber wer meint, dieses Österreich sei eine unbeschreibliche Skandalrepublik, der sei daran erinnert, daß die Bundesrepublik Deutschland (West) von einem Parteispendenskandal erschüttert wurde, der in der politischen Landschaft in Wirklichkeit keinerlei Veränderungen bewirkt hat. Im gleichen Land ist der Wohnbauberreich ins schlimmste Zwielicht geraten.
Ganz Frankreich fragt sich, wohin der Bürgermeister von Nizza verschwunden ist und New York schüttelt den Kopf über das Luxus-Bett seines Bürgermeisters, angekauft zu einem Zeitpunkt, als die Kündigung von 15.000 Mitarbeiterinnen der städtischen Verwaltung wegen Budgetknappheit erwogen wurde. Von Washingtons Bürgermeister gar nicht zu reden, dessen diverse Privatprobleme durch die Weltpresse gingen.
Nochmals in aller Deutlichkeit: Die Fehler der anderen dürfen keine Entschuldigung für hausgemachte Mißstände sein.
Wogegen ich mich aber wehre, ist die - wie gesagt vor allem im Wahlkampf - verursachte Demontage unseres eigenen Spiegelbildes.
Trotz aller Probleme: Österreich hat eine weitgehend gesunde Wirtschaft, die soziale und auch die politische Struktur ist keineswegs krank. Österreich ist trotz aller zu Recht kritisierten Fehler im Detail - vielleicht auch in manchem System - keine „Chaos-Republik". Insofern sollte sich die Selbstkritik auch mit mehr Selbstbewußtsein paaren. Mehr Selbstbewußtsein ist auch die Voraussetzung für eine neue geopolitische Rolle.
So wird sich die österreichische Gesellschaft rasch auf die geän-dertenVerhältnisse in diesem neuen Europa einstellen müssen.
Einerseits bin ich davon überzeugt, daß wir nicht wie das Kaninchen auf die Schlange des neu zusammen wachsenden Deutschland starren müssen. Dieses Deutschland macht uns keineswegs unbeweglich. Allenfalls ist es Selbsthypnose, wenn wir uns vor einem Land fürchten, das die nächsten zwanzig Jahre damit verbringen muß, jene gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, die wir in den Jahrzehnten unserer Neutralität und Freiheit bereits zum Teil vorbildhaft lösen konnten.
Andererseits müssen wir unter Beweis stellen, daß wir in dem neuen Europa tatsächlich noch fähig sind, eine Brückenfunktion zu erfüllen. Die Zeit ist eindeutig vorbei, in der es intellektuell schick war, auf geistiger, philosophischer, künstlerischer, vielleicht auch politischer Ebene Kontakte zu den „armen Brüdern und Schwestern" im Osten Europas zu pflegen.
Jetzt sind alle Österreicherinnen und Österreicher - besonders die in der Ostregion - mit den „ganz normalen" Reisenden aus diesen Ländern konfrontiert. Jetzt beginnen die wirklichen Probleme des täglichen Zusammenlebens.
Wir sind damit konfrontiert, daß Menschen nicht nur wie bisher aus politischen, sondern aus handfesten wirtschaftlichen Überlegungen ihr Wohl bei uns suchen. Ich persönlich kann mich einer Denunzierung dieser Menschen als „Wirtschaftsflüchtlinge" nicht anschließen, weil ich an das Recht aller Menschen auf den bescheidenen Wohlstand glaube, den wir uns etwa in Österreich erarbeitet haben.
Ich kann aber auch nicht die Probleme leugnen, die damit hierzulande verbunden sind. Es wäre auch grundlegend falsch, den Österreicherinnen schlechthin Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen. Die Flut jener Menschen aus den ehemaligen Ostblockländern, die uns in den letzten Monaten erreicht hat, war schlichtweg nicht zu bewältigen.
Gerade in Wien gibt es eine Reihe ungelöster Probleme mit diesen neuen Zuwanderen?. Wo diese Probleme massiert auftreten, wie etwa am mittlerweile durch die drastischen Visa-Maßnahmen erstickten Polen-Schwarzmarkt oder in der Nähe des einschlägigen Arbeitsamtes oder auch der Einkaufsbereiche um den Mexikoplatz, herrschen Zustände, die zu einer Beeinträchtigung der ansässigen Bevölkerung führten beziehungsweise noch führen.
Diese leidet letztlich unter der Menschenwelle genauso wie etwa die Anrainer diverser Transit-Routen im Westen des Landes und es wird unsere ganze Kraft brauchen, diesen Menschen wieder bessere Lebensumstände zu verschaffen.
Die Wahlergebnisse in diesen Problem-Zonen müssen allen Demokraten im Lande eine deutliche Warnung sein.
Womit ich noch gar nicht das Asylanten-Problem angesprochen habe: Wenn es uns nicht gelingt, zu einer internationalen, wenigstens europaweit gemeinsamen Vorgangsweise zur Behandlung dieser neuen Migration - drastischer gesagt: Völkerwanderung - zu kommen, werden Östereich, aber auch Deutschland als „Pufferstaaten" zwischen Ost und West mit noch schlimmeren Auswirkungen zu kämpfen haben.
Hier braucht es vor allem auch eine deutliche außenpolitische Zeichensetzung seitens Österreichs. Wien muß möglichst rasch auf eine internationale Konferenz zur Erörterung dieser Fragen drängen.
Besonders sensibel werden wir auch in der Frage der Integration jener Menschen vorgehen müssen, die schon längere Zeit in diesem Land leben und arbeiten.
Die Gastarbeiter, zum Teil schon in der zweiten bis dritten Generation in Österreich, haben ein Recht auf Integration, nicht nur menschlich, sondern aufgrund handfester Leistungen, die allen in diesem Land zugute kommen.
Wer könnte sich heute noch eine Aufrechterhaltung etwa unseres Spitalswesens ohne diese Menschen vorstellen? Wer weiß ein Rezept, wie wir unser Pensionssystem ohne diese Beitragszahler sichern können?
Wer sollte den Bau-Boom bewältigen, wenn nicht unsere ausländischen Arbeits-Gäste?
Wie käme die österreichische Fremdenverkehrs-Wirtschaft über die Runden, ohne jene „Fremden", die die anderen „Fremden" in Ho-tellerie und Gastronomie versorgen?
Vor allem im (groß)städtischen Bereich müssen wir zu einer neuen Qualität des Zusammenlebens finden. Zur Realität der multikulturellen Stadt - am Beispiel Wien -muß die gesellschaftliche Reife kommen, das „andere" auch wirklich zu akzeptieren.
Das Wahlergebnis vom 7. Oktober ist letztes gültiges Signal dafür, daß sich die politische Landschaft Österreichs von Grund auf verändert hat. Im klassischen Parteienland Österreich ist die Orientierung weg von den Institutionen (nicht nur den Parteien!) hin zu Persönlichkeiten erfolgt.
Abgesehen von der Tatsache, daß es derzeit nur mehr eine Großpartei gibt, prägen Persönlichkeiten diese neue Landschaft. Die große Chance, die ich bei aller Problematik dieser Entwicklung darin sehe, ist die, daß es - am Beispiel der Sozialdemokratie - gelingen kann, über die alles überstrahlende Persönlichkeit des Spitzenmannes jene Inhalte zu transportieren, die wir uns in einer zu reformierenden sozialdemokratischen Bewegung aber auch neu definieren müssen.
Stehen auf der einen Seite des gesellschaftlichen, des politischen Spektrums die Tendenzen hin zu markanten Persönlichkeiten, gibt es auf der anderen Seite Atomi-sierungserscheinungen. Die Tendenz, in kleineren Bereichen, vor allem innerhalb der Kommunen, Entscheidungen mit zunehmender Vorliebe vor allem nach der individuellen Betroffenheit anzugehen.
Bürgerinitiativen, bestehend meist aus Menschen, die meinen, sich selbst besser vertreten zu können, beeinflussen aufgrund individueller Betroffenheit Entscheidungen, die tatsächlich Auswirkungen auf eine übergeordnete Gemeinschaft haben. Nicht zuletzt begünstigt durch entsprechende Tendenzen in den Medien, bekommen Kleinstgruppen einen Stellenwert, der neu zu überdenken ist.
Zur Klarstellung: Die sozialdemokratische Bildungsoffensive hat erfreulicherweise über jetzt zwei Jahrzehnte diese Entwicklungen begünstigt.
Der Zugang zu Bildung wurde dramatisch erleichtert. Wir haben uns die „mündigen Bürger" gewünscht und die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit mehr Demokratie" zum Ziel gesetzt. Hinter den oftmals berechtigten Einzelinteressen darf aber das Gesamtinteresse nicht völlig verschwinden.
Es wird - wie schon angedeutet -nicht zuletzt von den Medien abhängen, inwieweit ein neues politischen Bewußtsein geschaffen werden kann. So wie die Politik mit den neuen Rahmenbedingungen, mit dem Wandel unserer Gesellschaft neu umzugehen lernen muß, so müssen wohl auch die Medien-Arbeitertinnen) ihre Position neu definieren. Sie müssen Mißtrauen in schlechte Politik, aber auch Vertrauen in gute Politik wecken.
Ralf Dahrendorf hat unlängst am 25. Deutschen Soziologentag in Frankfurt eine viel beachtete Rede unter dem Titel „Die offene Gesellschaft und ihre Ängste" gehalten. Die Ängste vor den Entwicklungen im „Osten" drohen aus Österreich eine geschlossene Gesellschaft zumachen. Und die Ängste vieler Bürger vor den sie betreffenden Entscheidungen durch Politik und Verwaltung, erzeugen viele geschlossene Gesellschaften in jeder Kommune.
Ängste kann man nicht einfach beiseite schieben, man darf sich ihnen aber auch nicht beugen. Gemeinsam muß man sie überwinden, um eine offene Gesellschaft zu bewahren beziehungsweise immer wieder auch eine neue herzustellen.
Der Autor ist Amtsführender Stadtrat für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Personal in Wien. Ein erster Diskussionbeitrag „Osterreich wohin?" ist in der FURCHE 40/1990 erschienen.