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Kein „neuer Mensch“ in Budapest

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„Wir haben eine Antwort.“ So verkündete es vor einiger Zeit die deutschsprachige „Budapester Rundschau“ ihren Lesern in Ost und West. Der erstaunte Leser, der noch keine Frage gestellt hatte, bevor ihm eine Antwort zuteil wurde, war neugierig geworden.

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„Wir haben eine Antwort.“ So verkündete es vor einiger Zeit die deutschsprachige „Budapester Rundschau“ ihren Lesern in Ost und West. Der erstaunte Leser, der noch keine Frage gestellt hatte, bevor ihm eine Antwort zuteil wurde, war neugierig geworden.

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Der Budapester Rundschau allerdings ging es um die Beantwortung von etwas anderem. Der Lebensstandard im Land hat durch gesteigerte Importe, die wiederum durch Deviseneinnahmen aus dem Fremdenverkehr möglich waren, in letzter Zeit kräftige Impulse bekommen. Noch vor wenigen Jahren waren die Parkplätze vor den großen Fabriken nur von den Wagen der Funktionäre besetzt, die Arbeiter kamen per Bahn oder mit dem Fahrrad. Jetzt stehen Trabants, Skodas und hier und da auch Fiats oder Volkswagen vor den Toren der Firmen. Die wochenendliche Blechlawine aus den Toren der Städte heraus hat zwar noch übersichtliche Formen — sie schwillt aber zusehends an. Die geradezu beängstigende Verstädterung und Landflucht in einem noch immer überwiegend dörflich bestimmten Staat — noch bis vor kurzem wohnten mehr als i zwei Drittel in kleinen und kleinsten I Gemeinden: auch sie ist nur ein Teil : jener Hoffnung, endlich bequemer, i komfortabler and angenehmer zu !e- , ben.

Was aber, so fragen die Männer in ! der Budapester Rundschau, wird die i Folge dieses beginnenden Wohl- : Stands sein? Was wird geschehen, wenn die Menschen sich nicht mehr nach alter, schlechter Weise nur versorgen lassen wollen, sondern gezielte Konsumwünsche entwickeln?

Wir haben die Fragen etwas deut-iicher gestellt — es ist aber das, was die Verantwortlichen des Kädär-Re-gimes bewegt und worauf sie im Grund keine Antwort wissen. Eben darum kehren sie den negativen Aspekt des reinen Wohlstandsdenkens über Gebühr heraus, verweisen auf Krisensymptome im Westen, wie steigende Kriminalität und Besitzegoismus, blasen das Ganze kräftig su einem ungeheuren Popanz auf and versichern dann unvermittelt: ias wird es bei uns niemals geben! Wir Sozialisten haben auf die Fragen der Zeit eine bessere Antwort, als nur die Erfüllung materieller Wünsche. Der Mensch darf niemals :u kurz kommen. Und dann wird wieder einmal mit dem Bild eines sozialistischen Humanismus bedenkenlos die Wirklichkeit verstellt, die n Tat und Wahrheit bei hoch und nedrig von keinem anderen Wunsch ;eprägt ist, als endlich aus dem un-jrträglichen Armenhausdasein her-luszukommen.

Das Regime ist wahrlich nicht zu Deneiden. Was sie, wie Husäk in der 2SSR, an Knödelsozialismus dem

Volk schmackhaft zu machen versuchen, wozu sie alle wirtschaftlichen Anstrengungen unternehmen, weswegen sie immer wieder die mangelhafte Arbeitseffektivität anprangern müssen: das jagt ihnen schon jetzt, wo es erst in zaghaften Erfolgen sichtbar wird, bereits Angst und Schrecken ein. Der Sozialismus als messianische Botschaft verträgt sich nicht ohne gewaltige Abstriche an seinem eschatologischen Charakter mit einer Gesellschaft, die in zunehmendem Wohlstand lebt. Wenn dann obendrein noch das alte Feindbild nicht mehr zu halten ist, weil die angeblichen Feinde sich bei ihrem Aufenthalt im Land nur Sympathien erwerben, fällt eine weitere Bastion dahin. Stück für Stück bröckelt im Ungarn von heute, vor allem bei der nachfolgenden Generation, alles das dahin, wofür die Väter auf die roten Barrikaden und in die roten Rathäuser gegangen sind. Diese stille Revolution ist in ihren Folgen noch nicht abzusehen, auf jeden Fall ist sie schon jetzt wirksamer und folgenreicher, als jene vor 16 Jahren.

Als weitere Parallele zwischen Husäk und Kädär, die sich mehr ähneln, als man bei uns gern annimmt, kommt hinzu, daß beide den Nationalismus ihrer Völker, diesen Erzfeind des Internationalismus, kühl und erfolgreich ins gewagte Spiel ihrer Politik einkalkulieren. Sie wollen sich offenbar nicht von Tito die Schau stehlen lassen, dem es immer wieder gelingt, jenseits aller etwaigen Zustimmung zum Kommunismus als nationaler Repräsentant verehrt zu werden. Selbst Ceausescu hat mit diesem Liedlein im eigenen Land, wie in der Fremde, seinen sicheren Applaus. Die vielfachen Probleme, welche nationale Minderheiten der sozialistischen „Brudervölker“ im eigenen Lend darstellen, werden dabei großzügig übergangen.

Das Jahr 1972 ist ausnahmsweise im östlichen Kalender arm an Jubelfeiern. Lenin-Feiern, Oktoberrevolution, 25 Jahre seit der „Befreiung“ durch die roten Armeen — bei solchen und vielen anderen Anlässen konnten sich die Lobredner von Ost-Berlin bis Sofia in den letzten Jahren ihres neuen Geschichtsbildes vergewissern. Das Volk aber, dem diese Taten zugedacht sind, ließ sich je nach Temperament gleichmütig oder wutschnaubend auf die öffentlichen Jubelplätze treiben. Der Lohn in der Fabrik wird weitergezahlt — was tut's also?

Das Nationalgefühl der Ungarn anfachen zu wollen, hieße Eulen nach Athen tragen, es ist mindesten äo stark ausgeprägt wie der Wunsch die unverschuldete Rückständigkei des Landes nach Möglichkeit überwinden zu helfen. Wir sagten schon daß beide Wünsche den Regierender zugleich willkommen sind und aucl Sorge bereiten. Die Kooperation mi westlichen Betrieben erscheint ir diesem Zusammenhang in gleicher Ambivalenz. In allen Hotels des Landes, nicht nur, aber vor allem in Budapest, wo fast 50 Prozent der Industrie konzentriert sind, trifft man die Vertreter der westlichen Firmen im Gespräch mit den Managern ungarischer Betriebe. Die Wunschliste, die präsentiert wird, ist endlos, auf jeden Fall länger als die Kapitaldecke, die als Bezahlung zur Verfügung steht. Anfangs haben westliche Firmen bedenkenlos gegen Kredit geliefert, um ins Geschäft zu kom-; men. Da die meisten Länder aber

• nicht, wie die Deutsche Bundesrepu-

• blik, eine Exportgarantie kennen, : bei der im Schadensfall der Staat das i Risiko trägt, ist man zurückhalten-i der geworden. Schweizer Firmen lie-

• fern ihre begehrten Präzisions-

■ maschinen nur noch gegen Barzah-

■ lung. Ginge es nach den Vertretern

• des Westens, dann würden sie am , liebsten gleich die nötigen Fachleute mitliefern. Es bereitet ihnen Schmerzen, mitansehen zu müssen, wie betriebliche Überorganisation und mangelnde Eigeninitiative wertvolle Zeit und noch wertvollere Maschinen zu Tode schinden. Betriebe mit dreißig- und vierzigta isend Angehöri • gen, wie sie im Raum Budapest keine Seltenheit sind, haben die gleiche Arbeitsproduktivität wie westliche Fabriken mit höchstens 20 Prozent dieser Belegschaft. Jahrzehntelanger Schlendrian wird jetzt in seinen bösen Früchten offenbar, wo Ungarn mehr als je auf qualifizierten Export angewiesen ist. Schon macht sich im ganzen Land Mangel an Arbeitskräften bemerkbar, er ist aber lediglich die Folge schlechter Arbeitsmoral, die wiederum allen sozialistischen Betrieben immanent ist. Eine Handvoll von REFA-Fachleuten würde hier schnell Wandel schaffen. Schuld an diesem übermäßigen - Verschleiß ist auch das völlig anachronistische Prämiensystem, wie es es erst sehr langsam aus dem Wirtschafts-Abc der Ostblockstaaten herausgelöst wird. Je größer der Betrieb, desto größer auch die Prämien ; der leitenden Angestellten. So lau-, tete allgemein die Faustregel. Jetzt t heißt es plötzlich: Rentabilität um • jeden Preis — aber niemand ist dar-, auf vorbereitet, weder Arbeiter, An-i gestellte, noch Direktoren. Wer Un-i garn am Nachmittag — die meisten t Fabriken arbeiten nur bis zwei Uhr i — beobachtet, ahnt, wie sie sich wahrend der bezahlten branden schonen konnten. Jetzt geht es frisch und ausgeruht ans Werk: in Haus und Garten, zum Zweitberuf und zum Hobby.

Im ganzen Land sind die Sowjets präsent, aber zugleich diskret verborgen. Die Ungarn nehmen sie einfach nicht zur Kenntnis. Sie haben sich keinesfalls an sie gewöhnt, aber das Ungewöhnliche ist in der wechselvollen Geschichte Ungarns, wie aller osteuropäischen Länder, ohnehin das Normale. Die Sowjets haben das eingesehen und jeden Versuch einer Fraternisierung aufgegeben. Es ist nicht angenehm, in einem Lokal immer allein am Tisch zu sitzen. Ungarn ist so westlich wie eh und je.

Die große Unbekannte dabei aber bleibt, wie dieser moderne Industriestaat Ungarn mit seiner konsumorientierten Bevölkerung, mit-seiner beginnenden Freizügigkeit und seinem immer öfter gestillten Hunger nach Reisen in den Westen im Griff der Ideologie bleiben kann. Damit kehren wir zu der Frage zurück, die anfangs gestellt wurde. Schon jetzt zeigen sich die gleichen Begleitsymptome negativer Art, wie sie dem westlichen Wohlstand als Schatten folgen, auch in Ungarn: Jugendkriminalität, Alkoholismus und Eigentumsdelikte machen den Gerichten zu schaffen, selbst Kapitalverbrechen nehmen zu. Der seit fünfzig Jahren ersehnte und längst fällige „neue Mensch“ als Frucht sozialistischer Umerziehung ist in Ungarn ebenso wenig wie in irgendeinem anderen Oststaat in Sicht. So lange der Staat für sich beansprucht, mit der Gesellschaft identisch zu sein, kann diese sich nicht in ihrer Vielfalt, wie im Westen, artikulieren. Kirche, Vereine, Gruppen und selbst nach wie vor kulturelle Institutionen, von den Massenmedien ganz abgesehen, müssen ihr Wohlverhalten trotz aller Liberalisierung immer aufs neue unter Beweis stellen. So entsteht eine ständige Spannung zwischen zunehmendem wirtschaftlichem Selbstbewußtsein und stagnierender gesellschaftlicher Auffächerung. Die negativste Folge dieses Zustands ist das völlige Desinteresse am öffentlichen Geschehen. Die Verantwortung für den Staat tragen die Funktionäre, während man selbst sich amüsiert oder bildet. Hier liegt für Ungarn, ausgeprägter als bei anderen Staaten Osteuropas, das eigentliche Zukunftsproblem. Zehn Millionen lebensfroher, intelligenter und nationalbewußter Ungarn im Getto, während eine Handvoll Mitläufer das System am überleben halten — wie kann das auf die Dauer gutgehen?

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