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Nichts vergessen, viel dazugelernt

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Wie sieht man aus Ungarn die Welt? Was hält man dort von uns, von unserer Art zu denken, unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten, von unseren Anstrengungen, mit den Problemen des Tages und der Stunde fertig zu werden? Antwort auf diese Fragen zu erhalten ist. nicht einfach. Es ist überflüssig zu^betonen, daß es in einem kommunistisch regierten Land zuverläßliche, allgemein anwendbare Schlüssel zur öffentlichen Meinung nicht gibt. Das Regime fürchtet die Meinung des Volkes und macht alle Anstrengungen, um sie zu übertönen, zum Schweigen zu bringen. Es flüchtet in die Selbsttäuschung — wie es die fast tödliche Überraschung des Jahres 1956 dann bewies. „Meinungsforschung“ auf eigene Hand zu betreiben ist selbstverständlich unmöglich. Es ist nur ein Weg offen, der des „kontrollierten Zufalls“, indem man aus zufällig geführten privaten Gesprächen, wenn der Gesprächspartner infolge seiner Stellung als für eine Gruppe repräsentativ angesehen werden kann, auf die in dieser Gruppe herrschende Meinung schließt, dabei aber doch einige Fehlerquellen mit berücksichtigt. Die hier folgenden Aufzeichnungen kamen auf diese Weise zustande. Die — rein zufälligen — Gesprächspartner waren ein, zwei junge Akademiker, bei denen man annehmen konnte, daß sie ihre Ansichten gelegentlich und „zwischen den Zeilen“ an ihre Freunde und Kollegen weitergeben, aber gleichzeitig auch von diesen Impulse empfangen haben. Da es sich dabei aber trotzdem nicht um die Meinung „der“ Ungarn oder „der jungen Generation in Ungarn“ handeln konnte, ist ebenso selbstverständlich, wie es auch kaum anzunehmen ist, daß tschechische, polnische oder rumänische junge Akademiker auf dieselben Fragen dieselbe Antwort geben würden.

Frage: Was wissen Sie von den Ereignissen, die bei uns die ersten Seiten der Zeitungen füllen, aber kaum in unverfälschter Form den „Eisernen Vorhang“ passieren?

Antwort: Es gibt keine unverfälschten Zeitungsmeldungen auf der Welt — und man muß kein Marxist sein, um das zu wissen. Da sind wir sogar noch im Vorteil, weil wir — fast ein jeder von uns — Zugang zu beiden Versionen einer und derselben Haupt- und Staatsaktion haben. Zum ersten durch die kommunistische Zeitung und den Staatsrundfunk und wenige Tage später, am selben Tag oder noch früher, durch die Sendungen einer der vielen westlichen Rundfunkstationen, die bei uns von vielen gehört und deren Nachrichten in der Schule, im Betrieb weitererzählt werden. Es bleibt dem einzelnen übeHassen, sich über das somit doppelt Gehörte sein höchst selbständiges Urteil zu bilden. Wobei allerdings nicht gemeint ist, daß ein jeder diese ihm gebotene Chance auch vernünftig nützen kann ...

Frage: Merkt man denn in Ungarn keinen Erfolg der jahrelangen kommunistischen Indoktri-{nation?

Antwort: Kaum oder, sagen wir es vorsichtiger, noch nicht. Die Eeignisse des Jahres 1956 haben eindrucksvoll gezeigt, daß die akademische Intelligenz, trotz dem erzieherischen Eifer “der Parteiinstanzen, dem vor allem ja sie ausgesetzt war und ist, sich der kommunistischen Lehre gegenüber größtenteils immun erwiesen hat. Lind das ist wörtlich zu verstehen. Nicht nur, daß die Lehrer und Ärzte, Ingenieure und Juristen keine gläubigen Kommunisten wurden, sie, besonders die Älteren, lehnen es sogar ab, sich mit der kommunistischen Doktrin auseinanderzusetzen. Unter den Jüngeren gibt es eine große Anzahl bewußter oder unbewußter „Revisionisten“. Sie greifen die eine oder andere These aus dem Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus heraus, um entweder daraus eine Philosophie für den Hausgebrauch zu machen oder den Anschluß an bekannte und in der parteioffiziellen Literatur bekämpfte Lehrmeinungen der Belgrader Theoretiker zu suchen und zu finden. Daß daneben gewisse Grundelemente einer marxistischen Geschichtsauffassung auch in das „trotzdem“ bewahrte und gepflegte idealistische Weltbild eines Bürgers der Volksdemokratie früher oder später Eingang finden, ist ebenso natürlich wie unvermeidlich.

Frage: Wie beurteilen Sie die Kongokrise? Antwort: Unser Nationalismus ist ein Strandgut der Geschichte geworden, eine Attrappe, der sich heute ein jeder bedienen kann, auch und vor allem die Kommunisten, und zwar auf Moskauer Befehl. Ich bewundere daher die Kraft, die dieser historischen Erbsünde der Völker innewohnt, soviel Großes vollbringt und gleichzeitig soviel Unheil stiften kann. Diese elementare Kraft kann man heute in Afrika studieren. Es ist nur selbstverständlich — schon Stalin hat darauf hingewiesen —, daß die Kommunisten als natürliche Bundesgenossen des Nationalismus auftreten müssen, auch und besonders in den früheren Kolonialgebieten. Auf diesen Vorzug haben sie selbst dort nicht verzichtet, wo sie ihre eigenen machtpolitischen Bastionen errichtet haben, also zum BeispM in Ungarn, wo sie sogar ihre Machtergreifung gleichsam im „Auftrage“ Lajos Kossuths vollzogen haben. Es nützt nichts, darüber entrüstet zu sein oder die Nase zu rümpfen. Aber es ist anderseits doch höchst blamabel für die westlichen Großmächte, daß sie in Korea, im Nahen Osten, in Lateinamerika wiederholt Systeme unterstützt haben, bei denen sie später sogar selbst zugeben mußten, daß jeweils fast die gesamte Bevölkerung deren Sturz als wichtigste und vordringlichste nationale Tat herbeigesehnt und schließlich auch herbeigeführt hat. Solche Schützlinge irgendwelcher westlicher Wirtschaftskreise haben sich oft auch als plumpe und prahlerische „Antikommunisten“ hervorgetan. In westlichen Rundfunksendungen wurde LIngarn vor Jahren wiederholt der Sympathien eines gewissen Herrn Battista aus Kuba versichert. Später hörte man dann aus derselben Quelle, daß dieser Mann als Diktator von Kuba das Volk brutal unterdrückt habe. Auch Herr Trujillo aus der Dominikanischen Republik hatte für das seiner Freiheit beraubte ferne Ungarn gute Worte übrig, die uns stets fleißig zur Kenntnis gebracht wurden, solange der amerikanische Steuerzahler seine Willkürherrschaft noch finanziert hatte. Wir, die solchermaßen Verhöhnten, müssen sagen: Ein solches Spiel ist der ältesten freien Demokratie der Welt unwürdig. Es wäre ein Glück für alle aufrechten Demokraten, wenn sich dasselbe nun nicht in Afrika wiederholen würde.

Frage: Wie beurteilen Sie die Rolle der Vereinten Nationen im Kongo?

Antwort: Auf diese Frage kann ich nur mit einer Gegenfrage antworten: Was sollen wir, deren Regierungschef auf sein Angebot und Einladung an den Generalsekretär der Vereinten Nationen vor vier Jahren noch nicht einmal eine Antwort erhielt, jetzt dazu sagen, daß die Vereinten Nationen im Kongo nach dem Rechten sehen und Willkür und Unterdrückung verhindern wollen? Man kann nur wünschen, daß ihnen dabei Erfolg beschieden werde. Glückliche KongoIe en, glücklicher Tschpmbe und glücklicher Lumumba!

Frage: Was sagt man in Ungarn zu den bevorstehenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen?

Antwort: In Ungarn gibt es heute viele Menschen, die auf den Sieg Richard Nixons „setzen“, ähnlich wie es auch vor acht Jahren in Ungarn sehr viele Menschen gab, die von einer Präsidentschaft Eisenhowers die baldige Befreiung Ungarns erwartet haben. Und es gibt wieder Kreise in Amerika, die es für richtig halten, Zitate aus bestimmten Wahlreden den Rundfunkhörern in Osteuropa zur Kenntnis zu bringen. Bekanntlich leben in den Vereinigten Staaten viele Ungarn und noch mehr Polen und Slowaken. Nichts ist natürlicher, als daß der Präsidentschaftskandidat — in diesem Fall, wie man hört, Nixon — während seiner Wahlreise, wenn er vor einem Auditorium spricht, das vorwiegend aus Ungarn besteht, Worte der Sympathie für das Land im fernen Europa findet, an dessen Geschick die ihm Zuhörenden auch aus tieferen als nur politischen Motiven Anteil nehmen. Das ist menschlich und gar nicht zynisch gemeint - in Detroit und in Cleveland. In Budapest und in Esztergom hört sich dasselbe - als Nachricht durch die Ätherwellen -allerdings anders an. Und die einen sagen sich und sagen es weiter: „Vielleicht jetzt...“ Die

anderen aber erinnern sich der Hoffnungen vor acht Jahren, die so gar nicht in Erfüllung gingen. Und sie sind plötzlich auf Herrn Nixon, der es gut meint und sich ehrlich nicht mehr erinnern wird, daß er jemals den Ungarn oder anderen „Satelliten“ Hoffmingen gemacht hat, bitter böse. Wir wenigen, die wir den Westen verstehen wollen, ahnen etwas von dem sonderbaren Gemisch aus (Alters-) Zynismus und „Seelenschlamperei“, das so manchen Äußerungen westlicher Politiker eigentümlich ist und trotzdem kaum Schaden anrichtet, weil ja diejenigen; an die sich diese Politiker wenden, meistens nur noch aus Gewohnheit zuhören und wissen, daß bei alldem das, was zählt und ernst gemeint ist, unausgesprochen bleibt. Wir selbst hingegen, die so oft lügen müssen und belogen wend<Bsigiauben art; üevxkt iB\4tBg* w*rt..tijfiS[;,, gegebenen .Wortes,-, glauben auch dort, wo unser Glauoe ntorijoch. Hartnäckigkeit <HtmYcä i\tt lung zu sein scheint. Wir möchten weniger Worte vom Westen und dafür mehr...

Frage: ... Taten ... ?

Antwort: Ja, aber nicht in dem Sinn, den Sie mit Ihrem fragenden Blick andeuten. Keinen Atomkrieg! Was wir erwarten, wäre nichts als ein innerer Heilungs- und Kräftigungsprozeß der vielfältigen Formen und Lebenserscheinungen der Freiheit und der Demokratie, dieser großen Geschenke Gottes an die europäische Menschheit, an die weiße Rasse und durch sie an die Menschen aller Erdteile. Solange man im Westen immer wieder den Falschen unterstützt und dem Despoten, dem Gegner also, in vielem nacheifert, so lange kann von einer Befreiung in keinerlei Hinsicht die Rede sein. Die Befreiung, wie wir sie verstehen wollen, fängt bei dem eigenen Ich an, und erst dann soll sie den lieben und den bösen .Nächsten und Übernächsten meinen. Wir wollen also nüchtern,1 realistisch, bescheiden und trotzdem zuversichtlich sein. Nicht nur Afrika, auch Ungarn ist ein einziges Missionsgebiet...

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