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„Linke“ und „rechte“ Moral

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Allmählich verschwinden aus den: Züricher Straßenbild die Personenautos mit den protestierenden Aufschriften „Dubcek“, aber tschechoslowakische Wimpel an Autoantennen und Fahrrädern sind noch immer sehr häufig. Und ein Wagen zirkuliert mit nicht zu bändigender Be

harrlichkeit; mit großen Lettern steht der Name „Dschingis“ auf den beiden Autotüren.

Was soll eigentlich diese Hysterie? Hat -der Westen wirklich Grund, das Hohelied des Nationalkommunisten Alexander Dubcek zu singen? Und warum gar „Dschingis“? Wie so viele Aktionen, die in den letzten Monaten von Berlin über Paris bis nach Zürich abgerollt wurden, kennt offenbar auch die Manifestation gegen den sowjetischen Gewaltakt ihre natürlichen Grenzen nicht mehr.

Unrealistisch

Es gibt Leute, die allen Ernstes eine militärische Gegenaktion der NATO für richtig erachtet hätten — als ob es Aufgabe des westlichen Bündnissystems wäre, in einer innerkommunistischen Auseinandersetzung für die eine der beiden Parteien Stellung zu beziehen. Daß es vielfach die gleichen Leute sind, die keinen Moment an eine westliche Intervention in Griechenland dachten, als dort die Freiheit unterging, stimmt nachdenklich. Eigentlich ist ja die NATO ausgerechnet zum Schutz der Freiheit etabliert, und zweifellos hätte sie sofort reagiert, wenn in Athen etwa ein kommunistischer Umsturz erfolgt wäre.

So weit die Reaktion der Reaktionäre, also die Haltung „rechts von der Mitte“. Doch ist die „Linke“ keineswegs berechtigt, deshalb Steine zu werfen. Da hat zum Beispiel der pazifistisch-linksstehende protestantische und protestierende Pfarrer Kurt Marti anläßlich einer Schriftstellermatinee im Basler Stadttheater den „gewaltlosen Widerstand“ des tschechischen und slowakischen Volkes als leuchtendes Beispiel hingestellt. Der Appell an die Schweizer, die bekanntlich ihre Armeewaffe zu Hause im Kasten aufbewahren, erhielt einen merkwürdigen Mißton, denn wenn man auch nicht immer und überall gleich bis zum letzten Bluttropfen kämpfen soll, so war unverständlich, daß es dieser schriftstellernde Seelsorger im Falle eines Angriffes ä la Prag bei einem verbalen Protest belassen möchte.

1938 bis 1968

Es sind ja erst wenige Monate her, seit auch die Schweizer Presse des 30. Jahrestages des „Anschlusses“ Österreichs an das Dritte Reich gedacht. Besonders die Linkskreise

konnten sich meistens eines Seitenhiebes nicht enthalten. Wenn die Österreicher wirklich, so hieß es sinngemäß in vielen Kommentaren, gegen den Nationalsozialismus eingestellt gewesen wären, so hätten sie dies wenigstens mit einem symbolischen aktiven Widerstand beim Ein

marsch der deutschen Truppen dokumentieren müssen. Offensichtlich ist es für diese Leute nicht dasselbe, ob Panzer im Namen des Kommunismus oder des Nationalsozialismus eindringen. Man komme jetzt nicht mit der Differenzierung, daß es sich in der Tschechoslowakei eben eindeutig um die russische Einflußsphäre und überdies um das Durchsetzen eines vorher geschlossenen Abkommens gehandelt habe, denn sonst müßte der Vergleich noch krasser ausfallen. Österreich gehörte ja — wie die Westmächte eindeutig durch ihr Nichtstun bewiesen — offensichtlich zum Einflußbereich des Dritten Reiches, das behauptete, es seien Abkommen — nämlich jene, die zwischen Hitler und Schuschnigg geschlossen worden waren — nicht voll eingehalten worden.

Ein unsinniger Vorschlag

Natürlich sind die Voraussetzungen heute nicht die gleichen wie vor

30 Jahren, aber trotz der herrschenden Unterschiede muß entschieden abgelehnt werden, eine „linke“ und eine „rechte“ Moral zu etablieren. Recht und Unrecht sind Begriffe, die über der politischen „Mode“ stehen müssen. In diesem Sinn ist denn auch der Vorschlag, der in der Schweizer Presse erhoben wurde, unsinnig und von falschem Pathos erfüllt: Er zielte darauf ab, der Tschechoslowakei den Mitgliedsbeitrag bei den Vereinten Nationen zu erlassen, weil sie angeblich ganz im Sinne der Charta gehandelt habe. Niemand wird behaupten wollen, sie habe gegen diese Charta agiert, aber in Wirklichkeit ging es doch gar

nicht um das Für oder das Wider, sondern ganz einfach um ihre eigene Existenz und um ihre eigenen Interessen. Wenn man schon mit diesem Mittel arbeiten möchte, so wäre es wohl richtiger, den Beitrag für jene Länder zu reduzieren, die auf eine aggressive Handlung verzichten, obwohl sie machtmäßig zum Angriff in der Lage wären: Zum Beispiel Frankreich, als es 1958 Guinea ohne Zögern seinem eigenen Wunsch entsprechend unabhängig wenden ließ, oder Israel, wenn es den Forderungen der UNO entsprechend seine Truppen aus dem besetzten arabischen Gebiet zurückziehen würde. Wer aber an die Wirksamkeit eines solchen Vorschlages glaubt, hat offenbar keine allzu hohe Meinung von den Mächtigen dieser Erde; denn er unterstellt, sie würden ihre Haltung zur Charta der Vereinten Nationen von der Größe der finanziellen Opfer abhängig machen.

Werner Höfers „Frühschoppen“

Welchen Eindruck anderseits die sich im Westen aufhaltenden oder hierher geflüchteten tschechoslowakischen Staatsbürger von der politischen Moral der sogenannten freien Welt haben, ist eine andere Frage. Vielleicht hat zum Beispiel der eine oder andere von ihnen am 15. September Werner Höfers „Frühschoppen“ im westdeutschen Fernsehen gesehen, bei dem über die Reaktion des Westens auf die tsche-

cnosiowaKiscnen Ereignisse UISKU- tiert wurde. Die Meinungen gingen auseinander, wie sich dies für ein Streitgespräch gehört. Offen bleibt die Frage, wie es auf Tschechoslowaken, denen man immer von „westdeutschem Revanchismus“ gepredigt hatte, wirkte, wenn sie Werner Höfer — sich an den österreichischen Gast wendend — unwidersprochen sagen hörten: „Wir hier im Altreich ..Offenbar fällt es ihm

schwer, sich von alten Gewohnheiten zu befreien; ein Glück war noeh, daß er wenigstens das Wort „Ostmark“ unterdrücken konnte!

Und was müssen diese Tschechoslowaken im Kontakt mit ehemaligen ungarischen Flüchtlingen und auch im Gedanken an ihre neue Arbeit empfinden? Ein Gespräch mit Ungarn, die 1956 die Freiheit gewählt hatten, zeigte nämlich eine nicht ungefährliche Überheblichkeit: „Ach diese Flüchtlinge “, war ein immer wieder zu vernehmender Unterton. wenn die Ungarn über die Tschechoslowaken sprachen. Zwölf Jahre sind offenbar eine lange Zeit! Sie haben auch genügt, um die Ungarn davon zu befreien, daß ihnen die Schamröte in die Wangen steigt, wenn sie jetzt in einer schweizerischen Maschinenfabrik an einem Werkstück arbeiten, das für die Sowjetunion bestimmt ist.

Die Tschechoslowaken sind im Augenblick froh darüber, wenigstens für eine gewisse Wartezeit im Westen bleiben zu dürfen. Sie enthalten sich eines Kommentars. Aber die Zwielichtigkeit wird doch sichtbar, wenn man daran denkt, daß der eine oder andere Tscheche oder Slowake vielleicht eigenhändig Straßenschilder abmontierte, um die Sowjets beim Einmarsch zu desorientieren, während er jetzt an einer Drehbank für diese gleichen Interventionisten und Okkupanten arbeiten muß — allerdings im Westen!

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