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Hinter Kuba und Berlin

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Unsere Gegenwart beginnt 1917 mit der Oktoberrevolution in Rußland und mit dem Eintritt der USA in den europäischen Mächtekrieg, der erst damit zum Weltkrieg wurde.

Geschähe das, was in diesen Tagen geschieht und wahrscheinlich noch geschehen wird, vor dieser Wasserscheide der Geschichte, dann wäre die Lage einerseits unvergleichlich kritischer, ja fast hoffnungslos zu nennen, anderseits aber wäre die mögliche friedliche Lösung auch viel näher, ja geradezu mit den Händen zu greifen.

Um das Prestige einer Großmacht, um den Respekt vor einer Flagge, ja selbst um den Vortritt eines Gesandten wurden in allen vergangenen Jahrhunderten bedenkenlos Kriege geführt. Ein sowjetisches Schiff ist auf dem Wege nach Kuba. Welche Ladung es mit sich führt, ist zunächst unerheblich. Es wird kraft eines feierlichen Befehls des amerikanischen Präsidenten, der mit den Worten „Ich, John Kennedy...“ anhebt, angehalten und zur Demütigung einer Kontrolle durch fremdes Militär genötigt. In früherer Zeit hätte es nur eine einzige, mörderische Alternative gegeben: Gehorchen, sich kontrollieren lassen und gegebenenfalls kläglich abdrehen, oder die Haltaufforderung mit Feuer beantworten. Alles weitere dann nach dem üblichen makabren Zeremoniell: Gesandtenabreise, Kriegserklärung, Eröffnung der Feindseligkeiten an allen Fronten und auf allen Kampfebenen. Wir hätten unweigerlich den Krieg, die Bündnissysteme träten mehr oder .minder schnell in Kraft. Wir könnten den Zeitpunkt seines Beginnes nach Art einer Bewegungsgleichung ausrechnen: Wenn ein Schiff in Odessa mit soundsoviel Stundenkilometern ausläuft, dann muß es das kubanische Küstengewässer zur Stunde und Minute X erreicht haben.

Wir möchten diesem, notgedrungen unter dem Zwang einer Augenblicksdiagnose geschriebenen Versuch des Zurechtfindens den Satz voranstellen, daß wir an das Abrollen dieser früher schlüssigen Beweiskette nicht glauben. Was früher geschah, vollzog sich auf einer Erde, deren Bewohner trotz Kopernikus noch immer in dem Bewußtsein lebten, auf einer Ebene zu stehen, die durch Fronten, Gräben, Zonen und Kreise eingeteilt werden konnte. Seit 1917 wissen alle halbwegs Verantwortlichen, daß sie auf einer Kugel leben, daß alles mit allem im Zusammenhang steht und daß es am Ende kein Ausweichen in vermeintlich geschützte Räume geben kann. Hitler wußte es vielleicht nicht, deshalb ging er zugrunde. Nach seinem Tode erst kam die Explosion von Hiroshima. Nun wissen es wohl alle.

Sind wir also in dieser Hinsicht unseren Vätern um ein Entscheidendes voraus, so ist uns auf der anderen Seite aber auch ein Weg versperrt, der früher immer gangbar war: der des Abtausches, des Kuhhandels über Interessensphären. Zwischen den Dynasten von einst war das überhaupt kein Problem. Auch die Nationalstaaten, die ihnen folgten, konnten sich notfalls über ihre Ansprüche verständigen. Mehr schlecht und recht war das alles immerhin möglich: Volkszählungen, Plebiszite, Kondominien, Schiedsgerichte, Hohe Kommissare.

Heute geht das nicht mehr. Nicht „Ost“ und „West“, nicht Großrußland und der Yankeeimperialismus sind die letztentscheidenden Protagonisten, so eifrig uns dies auch immer wieder ein Heer von im Detailwissen vergrabenen Experten einzureden bemüht ist. Zwei Prinzipien stehen einander gegenüber, die auch heute noch trotz aller Ermü-dungs- und Liberalisierungserscheinungen grundsätzlich universalen Charakter beanspruchen. Chruschtschow kann ebensowenig wie ein anderer Führer des Kommunismus ein Latld UHiJ ein Volk preisgeben, das sich wie das kubanische auf dem erklärten Weg zu jener Gesellschaftsordnung befindet, die seiner Meinung nach die einzig fortschrittliche ist. (Stalin unternahm es einst, die deutschen Kommunisten und Antifaschisten im Pakt mit Hitler zu verraten und preiszugeben. Es ist ihm, wie heute selbst sowjetische Historiker zugeben, übel bekommen.)

Aber auch für die Vereinigten Staaten kann die Freiheit West-Berlins unter keinen Umständen ein Tauschobjekt darstellen. Kuba ist keine Grenzprovinz Rußlands, West-Berlin kein Kolonialbesitz der USA. Provinzen konnte man abtreten, Stützpunkte räumen. Hier geht es um das, was die Asiaten die „Wahrung des Gesichts“ nennen. Die Handelnden stehen einander nicht allein auf dem Schlachtfeld gegenüber, sie sitzen nicht hinter verschlossenen Polstertüren. Sie fühlen, daß sie von Millionen Menschen, deren Mehrzahl rationalen Begründungen kaum zugänglich ist, beobachtet, beurteilt und gewogen werden. Vielleicht muß Kennedy auf diese öffentliche Meinung, die ja in allen Ländern der freien Welt im unbarmherzigen Turnus von Wahlen in Erscheinung tritt, noch wesentlich mehr Rücksicht nehmen als Chruschtschow. Die Menschen in Brünn und Miskolc werden ihn wegen des ausgebliebenen - Krieges für Castro ebensowenig stürzen können, wie sie dazu aus anderen, ihnen wesentlich näher gehenden Gründen imstande sind. Aber auch er ist kein Stalin, der sich vor keinem innerkommunistischen Forum dafür verantworten mußte, wenn er Tschi-angkaischek unterstützte, mit Hitler paktierte oder die polnischen Freiheitskämpfer von 1944 den Deutschen ans Messer lieferte. Seine Zensoren sitzen nicht nur in Peking oder in den relativ behaglichen Verbannungsorten der „Parteifeiride“ auf sowjetischem Boden. Sie sitzen wahrscheinlich mit streng gerunzelter Stirn im Kreml selbst.

Vor allem aber füllen sie die Ränge des großen Welttheaters. Man mag über Castro denken, wie man will: Für Millionen Lateinamerikaner, besonders für eine breite Intelligenzschicht dieses Halbkontinents, ist der „barbudo“ Symbol und Idol geworden. Lim seine Insel zentrieren sich die Kraftlinien einer kaum mit unseren politischen Begriffen genau zu definierenden Hoffnung. Geht er vor der amerikanischen Übermacht in die Knie, versagen seine moralischen Verbündeten in der sozialistischen Welt, dann ist der Umschwung nicht aufzuhalten. Dann haben die USA jenen entscheidenden Prestigegewinn erzielt, der ihnen bisher in den Augen der nach dem Instinkt für die effektive Macht urteilenden Massen fehlte und dessen Ausbleiben alle Anstrengungen der amerikanischen „Allianz“ für den Fortschritt merkwürdig kraftlos und labil werden ließ.

Wenn man dies selbst im Weißen Haus nicht gewußt oder gespürt hätte; die Vertreter der lateinamerikanischen Staaten, die dem Blockadevorgehen Kennedys in überraschender Einmütigkeit zustimmten, dürften es den Nordamerikanern sehr dramatisch deutlich gemacht haben: Wir alle operieren auf einer dünnen Eisschicht. Gerade wir, die wir wirklich für die Ziele der „Allianz für den Fortschritt“ sind, kommen unweigerlich in die tödliche Enge der Zermalmung. Hier das Wachsen des „Fidelismus“ und auf der anderen Seite die zynische Reaktion der Generalscliquen, die sich als allein fähige Kämpfer gegen die „Roten“ empfehlen und uns die Machtmittel aus den Händen winden. Dieses Problem lastet über Kennedy. Es ist im Grunde sein eigenes, der Schatten über dieser Präsidentschaft, die gerade jetzt vor der Zwischenbilanz der ersten Halbzeit angelangt ist.

Aber auch über Berlin kann es keinen Handel, keinen Kompromiß geben, so verlockend das für Stammtischstrategen auch auf der Landkarte aussehen möge. Wird Berlin preisgegeben, werden die dort seit siebzehn Jahren gegen den Kommunismus zeugenden, mit ihrer Existenz einstehenden Menschen einem raschen oder schleichenden Terror des Ulbricht-Regimes ausgeliefert, dann verliert eher früher als später das politische Grundsystem in der Bundesrepublik die moralische Basis. (So, wie einst 1938 Benesch und seine Mannschaft in Prag abtreten mußten, weil die ihm verbündeten Westmächte der demokratischen Republik den Beistand gegen Hitler versagt hatten.) Fällt aber die westliche Bastion in Deutschland, dann ist das Gesicht auch in Resteuropa verloren. Man erspare uns das Ausmalen von Details der Rückversicherung. Man kennt die Weise, den Text und die Herren Verfasser ...

Kein Atomkrieg, sagten wir. Und keinen Kompromiß durch Abtausch.

Was also? Unweigerlich drängt die heute wirklich global gewordene Geschichte zu einer neuen Phase. Die Krisenstunden, die wir jetzt durchleben, sind als deren Geburtswehen aufzufassen: Diese Phase wird die des Wettstreites sein, einer mit allem Einsatz, allem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Engagement geführten harten und ernsten Auseinandersetzung, bei der sich keine der beiden Seiten einen Gesichtsverlust leisten kann. Es wird im Sinne eines Wortes Pius' XII. weder eine „Koexistenz der Lüge“ sein, die ja nur die Vorstufe der Kapitulation bedeuten würde, noch eine „Koexistenz der Furcht“, die vor uns liegt. Es wird hart am Rande des Abgrundes zu einem Gipfelgespräch kommen. Ob der in zögernder Schwermut wie in jähem Handeln dem' Dänenprinzen nicht ungleiche Hamlet aus dem Weißen Haus mit dem bei aller Hemdärmeligkeit von Gewissenslast nicht freien Bauern aus Kalinowka allein sprechen wird oder ob er den zähen, legeren Gentleman aus London und den morgen vielleicht doch erneut in seinem Konsulat bestätigten General aus Paris hinzuzieht, ist eine noch kaum zu beantwortende Frage.

Was dort vereinbart werden muß, ist weder ein Waffenstillstand, der angesichts der globalen Weite der Auseinandersetzung nur einen winzigen Frontabschnitt betreffen kann, noch ein fauler Kuhhandel, bei dem Unverkäufliches von beiden Seiten verschachert werden soll.

Hier muß die Form und die Ordnung gefunden werden, in der künftig der Kampf unseres Jahrhunderts ausgetragen werden wird. Ein bitterernster Kampf zwischen dem totalen Staat und dem von seinem Wert her totalen Menschen, ernster als die Scharmützel der Fürstlichkeiten von einst, die auf Schlachtenbildern zur Weltgeschichte verklärt werden. Das Gespräch zwischen den Mächtigen, das am Ende dieser Krise stehen wird, darf und wird nicht mit einer verlogenen Friedensproklamation enden. Es muß den eigentlichen „Krieg“, in dem es auch für Österreich keine Neutralität geben kann, erst eröffnen: den Kampf um das Votum jener Völker, die nunmehr in die Geschichte eingetreten sind.

Dieses Kriegführen wird dann zu einer so ernsten Sache geworden sein, daß man es nicht mehr den Generalen überlassen kann. Es verlangt auch etwas mehr Phantasie, als sie zu opportunistischen Rösselsprüngen gemeinhin gebraucht wird. Was von uns gerade jetzt, in dieser Bewährungsprobe der psychologischen Kriegführung, die mehr Nervenkraft und Standfestigkeit fordert als vergleichbare Situationen früherer Zeiten, da es eine von Thomas Mann so genannte „üble Erlösung“ bedeutete, den „Donnerschlag“ zu erwarten, verlangt wird, ist eine unmißverständliche, auf jedes frivole Schaukelspiel verzichtende Klarstellung des eigenen Standpunkts.

Wir müssen nicht sagen, für welche Welt wir heroisch sterben und unter Atomblitzen untergehen wollen, sondern in welche Welt wir unsere Hoffnung setzen. Und das- ist die Welt, die durch Kennedys „Allianz für den Fortschritt“ aufgebaut werden soll, die Welt, der der Gruß der Gesamtheit der Konzilsväter zum Beginn ihrer Arbeit galt: ,

„Aus allen Völkern unter der Sonne vereint, tragen wir in unseren Herzen die Nöte der uns anvertrauten Völker, die Ängste des Leibes und der Seele, die Schmerzen, die Sehnsüchte und Hoffnungen. Alle Lebensangst, die die Menschen quält, brennt uns auf der Seele. Unsere erste Sorge eilt deshalb zu den ganz Schlichten, zu den Armen und Schwachen. In der Nachfolge Christi erbarmen wir uns der vielen, die von Hunger, Elend und Unwissenheit geplagt sind. Ständig stehen uns jene vor Augen, die noch kein menschenwürdiges Leben führen können, weil es ihnen an der rechten Hilfe fehlt. Deswegen- legen wir bei unseren Arbeiten besonderes Gewicht auf jene Probleme, die mit der Würde des Menschen zusammenhängen, auf alles, was damit zusammenhängt, die wahre Völkergemeinschaft zu fördern,“

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