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Deutschland und Europa

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Pfingsten, ein Hochfest der Kirche, bedeutet in der Christenheit: Einkehr der Völker verschiedener Zunge am Tisch des Herrn, Sammlung der sehr Vielen und sehr Verschiedenen in einem Geist. Pfingstgeist ist der Gegenschlag des göttlichen Geistes gegen die babylonische Verwirrung. Die Völker, die sich aus den Trümmern des eingestürzten Himmelsturmes gerettet, die als Nomaden zwischen den Ruinen ihre

-Herden weiden, sammeln sich in neuer Eintracht, geführt vom Geist der Einsicht und des guten Rates.

Die Pfingstdemonstration dieser Welt, hüben und drüben, beweisen, wie weit diese Welt innerlich entfernt ist vom Geist der Feier. Dennoch hat diese Welt in diesen Tagen begonnen, eine pfingstliche Aufgabe auf sich zu nehmen: die Rückführung Deutschlands in das Konzert der Nationen, seine Wiedereingliederung in das Leben der Völker.

Deutsche diplomatische Vertreter überreichen ihre Akkreditive, deutsche Künstler, Gelehrte, Sportler scheinen auf internationalen Treffen auf. Deutschland nimmt die Einladung in den Europarat an. Der Schuman-Plan erstellt ein karo-lingisches Projekt, das, weit hinausgehend über Stahl und Eisen und Industrie, Frankreich und Deutschland zum Kern einer neu-europäischen Konstellation einschmelzen möchte. Die Deutschlandproklamation der Außenminister der USA, Englands und Frankreichs erklärt als Ziel ihrer gemeinsamen Politik, „Deutschland in fortschreitendem Maße in die Gemeinschaft der freien Völker Europas zurückzuführen“. Gleichzeitig spricht Generalissimus Stalin von einer Minderung und Begrenzung der russischen Reparationsforderungen.

Jeder kann erkennen, daß bereits die Außenseite dieser Rückführung Deutschlands im Schlagschatten gefährlicher Spiele steht. Im Tauziehen möchten sich die beiden Kontrahenten eines Mitkämpfers, Mitspielers, zumindest eines Faustpfandes versichern. Das Ringen um Berlin, um die „interessanteste Stadt Europas“, wie in Selbstironie die sWest-berliner Verwaltung auf einladenden Briefstempeln kündet, das Ringen um Berlin, das mit der Pfingstdemonstration nicht beendet ist, bildet ein Symbol. Die Führer der sozialistischen Einheitspartei sprechen eine klare Sprache: ihnen zufolge hat ganz Deutschland nur eine Aufgabe — den Kampf der UdSSR gegen den westlichen Imperialismus zu unterstützen. Führende amerikanische Intellektuelle, die heute immer mehr, was noch gestern undenkbar schien, und was von Einstein mit Recht als gefährliches Zeichen erkannt wurde, zu bloßen Wortträgern einer Militärpolitik werden, sagen es, mit einem der Ihren, demonstrativ in Berlin heraus: Europa ist als neutrale Macht nicht lebensfähig, es muß sich eng und möglichst total an die USA anschließen. Nun wird auch bemerkt, daß die Londoner Erklärung über die Deutschlandpolitik der Westmächte nichts enthält von der in Deutschland ersehnten und gemäß der vorliegenden englischen Pläne erhofften Umwandlung des Besatzungsregimes in einen Botschaftsrat und der Besetzungstruppen in Garnisonstruppen. Die Franzosen als Nächstbetroffene gehen in der Kritik noch weiter. Albert Mousset — in der „Epoque“ — findet in diesen Londoner Texten „ein getreues Spiegelbild der geistigen Un-genauigkeit, die in den höheren Sphären des Westens herrscht. Man behandelt alle Gegenstände mit allgemeinen Betrachtungen, von denen sich nur sagen läßt, daß sie weder originelle Ideen noch neue Klarheiten beitragen...“ Gerade angesichts dieser „Schönheitsfehler“, nein offensichtlicher Mankopunkte verdient eine Bemerkung eines Schweizer Blattes unsere Aufmerksamkeit. Sie führt uns gleichzeitig zum Träger des Problems selbst: „Zum erstenmal ist in einer offiziellen Formulierung der westlichen Deutschlandpolitik konsequent darauf verzichtet worden, den Deutschen den Spiegel ihrer früheren Untaten vorzuhalten: der Akzent liegt diesmal ausschließlich auf der Zukunft, nicht mehr auf der Vergangenheit.“

Die Zukunft: sie erscheint der ganzen Welt heute vielfach in so düsterem Licht, weil die Gegenwart sich nicht von den Schatten der Vergangenheit freimachen kann. Für Deutschland insonderheit ist das nicht nur ein äußeres, sondern ein inneres Existenzproblem. Unser aller Zukunft wird auch davon abhängen, wie das deutsche Volk mit der Hypothek, mit den schweren Lasten seiner Vergangenheit fertig wird.

In einer Welt, die des Gleichgewichts entbehrt, ringt das deutsche Volk um sein inneres Gleichgewicht, um eine seelische Mittellage, die es ihm, frei von Furcht und Überhebung und Verstörung, ermöglichen soll, Welt und Wirklichkeit zu sehen, wie sie sind. Vorgestern in Hymnen gefeiert und, bekränzt als Opfertier, mit dem Lorbeer der Unsterblichkeit auf die Schlachtfelder geschickt, gestern entlassen aus Kerkern und Kasematten und, gepfercht in Ruinen und Rotten, verschimpft und verklagt in einer Flut von geschmacklosen Bemerkungen, heute umworben und bedrängt, überlobt und neu gepreßt — darf es da wundernehmen, daß dieses Volk, in Höhen und Tiefen gerissen, einem übsrdruck ausgesetzt, dem es nicht gewachsen sein konnte, in eine tiefe Unsicherheit geraten ist, die der Welt gefährlich erscheint, die aber zuallererst dieses Volk selbst gefährdet. Es ist jene „tiefe Verwundung des deutschen Gefühls“, von der der deutsche Bundespräsident in seiner Mairede sprach, „jene innerste Versehrung“, die im Gestern Exzesse verschuldete, die heute neu aufklingen. Sie sind nicht zu übersehen. Man hilft dem Kranken nicht, wenn man seine Krankheit überschweigt.

In beherzter Offenheit weist ein führendes christliches Organ auf jene „Schädlinge und Unholde“ hin, auf jene „gemeingefährliche Perversion“, die etwa in der Schändung jüdischer Friedhöfe und in mancherlei Ausschreitungen fast jeden Tag neue Funken setzt. Keiner hat das innere Bild eines gewissen neu aufflackernden Nationalismus schärfer gezeichnet, als wieder der Bundespräsident: „Die Leute mit den lauten Worten schreien sich selber Mut zu, um ihr Nichts zu erhöhen. Sie schmähen frech die Menschen, die im Widerstand gegen Hitler das deutsche Antlitz retten wollten, und dafür zum Opfer wurden .... Ihr Minderwertigkeitsgefühl übertönen sie mit Arroganz.“ Mit ernstem Mahnwort schließt der Bundespräsident seine Rede: „...jeder von uns hat, auch ohne daß er an Konferenztische gerufen wurde, die Freiheit, für seine Seele Frieden zu. schließen, die dumpfen Gefühle von Haß, Hochmut oder Kriechertum von sich zu werfen, in der rechten Bewertung des anderen dem eigenen vaterländischen Würdegefühl die Sicherheit zurückzugeben.“ Diese Worte bedürfen keines Wortkommentars, wohl aber für Außenstehende einer Erläuterung - durch Tatsachen. Noch fehlen im deutschen Westen fünf Millionen Wohnungen, noch stehen zehn Millionen Vertriebene fragend, Brot heischend; ohne genügende politische Vertretung vor der um innere Sammlung ringenden Nation, verstärkt durch ein Heer von zwei Millionen Arbeitslosen, durch Elitetrupps entwurzelter und vertriebener Intellektueller. Die Gefahr, daß diese Gruppen sich zu einem „Aufstand der Enterbten“ sammeln, ist nicht mit Worten ohne Taten zu beschwichtigen. Diese innere Spannung wird noch geschärft durch das erschütternde Faktum, daß die beiden Deutschland, Ost und West, sich täglich, ja- stündlich mehr auseinanderleben. Ernst Tillich, der Leiter der „Päckihen-hilfe Ost“, spricht es in einem Aufruf soeben aus: „Die Einheit der deutschen Sprache ist in Gefahr!“ Was hier im lc,tz-. ten gemeint ist, möge eine Episode der jüngsten Vergangenheit illustrieren. Am Teetisch einer süddeutschen Metropole süzen sich zwei. Männer des katholischen religiösen und geistigen Lebens gegenüber., Alte ,Freunde( Weggefährten in der Jugend und in den schlimmen.Tagen des Nazismus. Nun verstehen sie sich nicht mehr. Nach tagelangem Ringen erst beginnt sich die Spannung zu lösen. Der eine, der aus der Ostzone kommt und wieder dorthin zurückkehrt, versteht die Welt des „Westlers“ nicht mehr. Alles ist ihm hier fremd: die Sahne, die Schokolade, das feine Teegebäck, mehr noch, die Worte des Freundes, die um Personalpolitik, um kirchliche Positionsfragen kreisen und sich seiner Meinung nach in Sicherheiten und Rechnungen bewegen, die seiner Welt seit langem fremd sind. — In Kargheit und Furcht, in Armut und Bedrängnis vieler Art ist in Ostdeutschland eine neue Welt geworden. Deutschland ist gespalten, wie einst in den Tagen der Reformation. zwischen karolingisch - humanistischem Kernraum urid östlichem Kolonialländ. Wie sehr sich sehende Deutsche dieser Gefahr bewußt sind, zeigt der Aufruf Tillichs, der Westdeutschland auffordert, nicht nur Lebensmittel nach dem Osten zu senden, sondern geistige Nahrung; keine Zeitungen und keine politischen Bücher, um jede Gefährdung des Adressaten zu vermeiden, „nur“ schöne Literatur - und Wissenschaft. Goethe also wohl und Mörike .und Hesse. Wir möchten in diesen neuen Tornister einen der Unsrigen dazulegen: Stifter, den Lehrmeister von der Macht des Stillen, Kleinen, Leisen und Demütigen — er hat seine Bewährungsprobe unter Hitler glänzend bestanden.

Hier ist ein Weg angezeigt, wie dem deutschen Volk wirklich geholfen werden kann, von denen, die es gut mit ihm meinen. Göring stellte es am Vorabend einer großen Krise vor eine an sich falsche Alternative: Butter oder Kanonen. (Der Teufel liebt, als „Affe Gottes“ — wie das Mittelalter sagt — ein gewisses Entweder-Oder, um den Menschen in die Sackgasse seiner Entscheidungen zu treiben — die wahre Mitte liegt ganz woanders.) Heute senden diesem Volke die einen Butter, die andern Kanonen, wobei die einen der Butter die Kanonen nachschicken, die andern die Nachsendung der Butter versprechen. Beide tun es mit Verstand, mit Geist. Es ist aber nicht der wahre Geist. Nicht der Geist des guten Rates. Den aber braucht das deutsche Volk heute, wenn es die Chance seiner tiefen Gefährdung, seiner Ausgesetztheit auf den Klippen des Weltsturmes nützen will. Das Beispiel der Geschichte zeigt diesen Weg an: was Potentaten und Politiker, Konfessionsparteistreiter und Heerführer zerrissen, zerschlagen haben, haben Männer des Geistes, der Seele, der Kunst zusammengedacht, zusammengeformt, zusammengesungen. Dies der Pfingstsinn des Deutschen-, des Weltjahres Johann Sebastian Bachs. Das deutsche Barock, das Weltaltcr Leib-nizens, J. B. Neumanns, Bachs lebt ebenso wie Klassik und Romantik vom inneren Ringen um die Uberwindung jener „tiefen Verwundung des deutschen Gefühls“. ,

Es gibt eine Gnade, die den Völkern wie dem einzelnen nur in äußerster Gefährdung zuteil wird, da, wo es, wie in der Pfingststunde, um Leben und Tod geht. Die Männer vor Pfingsten waren ein zitterndes, zagendes, zweifelndes Häuflein, das nicht wußte, wohin es sich wenden sollte. Vielleicht wäre es ihm als einer orientalischen Sekte gelungen, im Dienst eines Potentaten Schutz und Schirm zu finden und in dessen Gefolge eines Tages sogar in Rom einzuziehen. Wie viele Herrscher ließen ja, zwischen Caligula und Heliogabal, als hochgeschätzte Mätressen auf ihren Triumphzügen in die Ewige Stadt eine neue Sekte, einen neuen Kult mitziehen. Das war damals eine Möglichkeit der Männer von Judäa und Galiläa. Die Allianz mit einem Großen des Tages. Sie aber wählten die andere Möglichkeit: das Trauen auf die Macht des reinen Geistes. In derselben Situation, in derselben Versuchung steht heute die Seele des deutschen Volkes, stehen seine Intellektuellen, die geistigen Arbeiter in Europa: soll unser geistiges Schaffen der Ideologie von Potentaten dienen, kann es nur bestehen als idealistischer Mantel'} Wer das bejaht, bekennt sich 'Jtoxn dialektischen Materialismus und mag er auch einen westlichen Namen tragen und wild und tapfer gegen den Osten kämpfen. Es gab trotz aller Zerissenheiten, trotz aller Gewalttäter in allen Jahrhunderten der Vergangenheit ein anderes Deutschland. Dieses Deutschland, lebt, während jenes in Ruinen sank, in- unsterblichen Werken noch heute — ein Trost für die Deutschen, ein Trost für das geistige Europa, das die Eigenpotenz seines Geistes und seiner Seele heute zu bezeugen hat. In tausend Ketten und Gefahren, beladen mit fremden Divisionen, Pakten, Grenzen, Parteien, Polizeien — stark in seiner Schwäche, wie es dem Christen ziemt. Zu bezeugen hat die heutige Generation, daß es ein Pfingsten gibt, die hohe Feier der Zusammenführung aller Völker, aller Sprachen in einem Geiste, in einer Sprache, die heute geboren werden muß

— mitten in der Zerklüftung dieser Welt

— aus der nüchternen Erfahrung der Ohnmacht der Mächtigen, die ihre Angst mit gräßlichen Taten zu schminken suchen. Die Angst, die aus der Leere kommt, aus dem Fehlen des Pfingst-geistes.

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