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Die Schatten von gestern

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»Rendezvous der Gespenster“, „Der Rat der Ratlosen“, „Das Treffen der Unheilstifter“, „Erste Aussprache der Männer von Morgen“.

So hat man sie in der internationalen Presse genannt, jene Männer, die sich vor kurzem in Stuttgart zu einer dreitägigen Konferenz trafen. Fünf Gruppen der russischen Emigration haben sich hier zu einem „Rat für die Befreiung der russischen Völker“ (SONR) zusammengeschlossen. Träger der „alten Emigration“, aus den Jahren nach 1917, und Personen als Vertreter jener Scharen, die seit 1942, zumeist im Gefolge der Deutschen, das Gebiet der Sowjetunion verließen. Als Sprecher der Unionsbestre-bungen erschien ein Mann, den tatsächlich gespenstische Schatten umwittern: der 70jährige Alexander K e-r e n s k i j, Präsident der ersten Revolutionsregierung, die nach einem halben Jahr der bolschewistischen Revolution weichen mußte. Neben ihm werden keine Namen von einzelnen Persönlichkeiten genannt, wohl aber von Organisationen, die heute in Europa und Amerika ihre Anhänger haben. Und dann werden die Schwierigkeiten und Probleme dieser Leute genannt: soll Rußland als Einheitsstaat wiedererstehen, in wesentlich gleichem Umfang wie heute (ohne die baltischen Staaten, aber auch auf diese erheben mehrere Gruppen der Emigration-Anspruch!), soll es föderativ gegliedert, als Machtkomplex gelockert werden? Soll ein neuer „weißer“ Zar die Krone tragen (die Hauptgruppe der russischen Monarchisten, gesammelt um den jetzt in Madrid lebenden Großfürsten Wladimir, hielt sich demonstrativ fern von der Stuttgarter Tagung) — oder soll, wie es Kerenskij und seiner engsten Umgebung vorschwebt, eine westliche Demokratie, mit liberaler Wirtschaft und Politik, das ungeheure Land „befreien“?

Die Gegensätze unter diesen Emigranten sind, wie einer der ihren einmal in Paris gesagt hat, so zahlreich wie das Laub in den Wäldern an der Wolga und so tief wie der Peipussee. Es ist nicht nur der Generationsunterschied zwischen den Männern von 1917 und 1942; es sind nicht nur die unterschiedlichen sozialen und politischen Herkommenschaften, die einmal auf zaristische Adelige, zum anderen auf ehemalige sowjetische Offiziere, zdm dritten auf in der Emigration herangewachsene französisch gebildete Angehörige der Intelligentsia weisen. Da sind nationale Verschiedenheiten zwischen Klein- und Großrussen, Ukrainern, Tataren, Angehörigen der kaukasischen Völker. Da gibt es religiöse Konflikte mit ihrer eigentümlichen Zuspitzung (ein Teil der westlichen Emigration hat sith dem heutigen Moskauer Patriarchat unterstellt). Da beschuldigen sich gegenseitig einzelne Vereine und Verbände des „Faschismus“, des „WegbereUertums des Bolschewismus“, der „Reaktion“, des

„Verrätertums“ an der heiligen Sache Rußlands, werfen sich vor, von den Amerikanern beziehungsweise den Sowjets gekauft zu sein und heimlich oder offen Unterstützung zu beziehen.

Alles in allem: ein bemerkenswertes, aber für uns Europäer kein erquickliches Schauspiel. Nicht nur, weil hier in wenig kluger und schamhafter Weise das Fell des Bären verteilt und umstritten wird, den keiner noch erlegt hat. (über die Wege und Mittel der „Umwandlung“ Rußlands divergieren natürlich die Ansichten am meisten: von der Evolution zur Revolution, zur Atombombe steigert sich bedenklich die Skala der Vorschläge, wobei mehrfach eine Kombination verschiedener Methoden und Mittel in Erwägung gezogen wird.) Die Männer, die sich hier auf immer mehr Tagungen, so in letzter Zeit in Füssen, München, Paris, als künftige Herren eines der wesentlichsten Teile der Welt legitimieren wollen, haben bisher herzlich wenig Eignungszertifikate erbringen können — es seien denn jene zahllosen Diffamationen und Denunzierungen ihrer Partner bei den jeweiligen Regierungen ihres Gastlandes.

Es ist demnach begreiflich, wenn eine so eindeutig antibolschewistische und konservative Presse wie die Schweizer konservativen Organe sich verpflichtet fühlten, eindeutig zu warnen vor einem Rechnen, ja bereits übertriebenen Wichtignehmen dieser Aktionen. An wessen Adresse sich unsere Schweizer Freunde da wenden, ist jedem klar, der weiß, wie sehr diese Emigrantengruppe vom Geld ihrer Gastgeber abhängig ist. Nun hat gerade — die Spatzen in Paris und Hongkong pfeifen es mit ihren Brüdern in den Reisfeldern von Korea, Malaya und auf den Philippinen von den Dächern — das größte Gastland der Erde, das sich heute wahrhaft historische Verdienste um zahllose Elende und Verbannte dieser Erde erworben hat, bisher keine glückliche Hand im Umgang mit jenen Leuten, die es als Repräsentanten dieser Emigration anerkannt hat beziehungsweise neu anerkennt, bewiesen. Nicht wenige gute Europäer, nicht wenige auch von ihnen, die heute gute Staatsbürger der anderen Hemisphäre geworden sind, haben hier seit Jahr und Tag ihre warnende Stimme erhoben: Gebt nicht den Schatten von gestern Macht, das Morgen zu bestimmen — mit ihren Rankünen und Schwächen, mit ihren Ressentiments und Vorurteilen! Nicht zuletzt: mit ihrer Unkenntnis der heutigen Verhältnisse in ihrem Heimatland, einem Unwissen, das sehr oft auf einer Fehleinschätzung der historischen Enwicklung und der spezifischen geschichtlichen Möglichkeiten „ihrer“ Völker und Länder beruht

Hier droht das weltgeschichtliche Problem der Emigration in einer Weise augenfällig geschichtsmächtig zu werden, die wirklich alle angeht. Ein anderes ist es nämlich, caritativ, christlich und vornehm für die Geschlagenen, die Flüchtlinge und Darbenden zu sorgen, ihnen eine Heimstatt am eigenen Herd zu gewähren — ein anderes ist es, diesen unglücklichen Fremdlingen, Pilgern zwischen Gestern und Morgen, zwischen entfremdeter Heimat und neuheimatlicher Fremde, die Bestimmung des eigenen Schicksals in die Hand zu geben. Noch ist es nicht so weit — wenn aber heute schon wahre Konservative, um das Maß des Möglichen und um die Grenze des Erlaubten wissend, warnend ihre Stimme erheben und auf gefährlichste Folgen dieses Kongreßrummels, der Propaganda dieser Kreise, vor der Einflußnahme dieser Cliquen auf Politiker ihrer Gastländer hinweisen zu müssen glauben, dann verdienen diese Beobachtungen und Jcteile Gehör.

Europa ist in wesentlichen Bezügen gewachsen und geworden durch die Aufnahme von Emigrationen: das Italien der Renaissance ist undenkbar ohne die Flüchtlinge aus dem von den Türken eroberten Konstantinopel. England, die Niederlande, das friderizianische Preußen erwarben ihre Reichtümer und entwickelten ihre Kultur durch den Einstrom der Hugenotten, zahlloser Sektierer und Nonkonformisten, bald religiöser, bald politischer Art. Bei allen diesen positiven Einströmungen handelt es sich um einen meist über Generationen sich erstreckenden Einschmelzungsprozeß, der dem Gastland neue Kräfte, neue Ideen, neue Impulse vermittelte. Das ist die große positive Bedeutung der europäischen Emigrationen: ohne sie kein Europa der neueren Jahrhunderte, ohne sie kein Amerika des 20. Jahrhunderts. Sehr unterschiedlich von diesen war bisher immer noch jener, an sich b e d e u t s a m e r w e i s e weit seltenere Fall negativer Einwirkungen von Emigrationen, in denen es diesen gelang, ihr Gastland zu politischen Aktionen gegen ihr Mutterland zu bewegen. Diese sind bis auf den heutigen Tag alle gescheitert: mag es ein französischer König im spätmittelalterlichen Italien, mag es das Europa der Hl. Allianz gegen das revolutionäre Frankreich versucht haben.

Die Geschichte der „rückgeführten“ Regimes ist noch nicht abgeschlossen. ... Was immer man für Schlüsse aus dem überwältigenden Tatsachenmaterial der Geschichte ziehen mag: . eines dürfte heute niemand bestreiten können: Höchste Vorsicht Ist hier für die verantwortlichen Politiker auf der ganzen Erde am Platz! Emigranten und Emigrationen leben in einem eigenen Raum, ihnen ist es, fast naturnotwendig, auf Grund ihrer spezifischen Position eigen, ihre Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Nöte und Beschwerden ihrer Umwelt als Koordinatensystem der Wirklichkeit aufzudrängen und aufzuzwingen — suggestiv zu zwingen mit der oft großen Seelenkraft, die diesen Sehnsüchtigen, Ungeduldigen eigen ist, nach ihren Ideen und Wünschen. zuerst zu rechnen — und dann die Wirklichkeit umzugestalten. „Umzuwandeln“ — was aber dieses blasse, theoretische Wort „umgestalten, umwandeln“ heute, in der blutvollen, blutigen Wirklichkeit des kalt-heißen Kriegszeitalters heißt, sollte jeder Politiker wissen.

Für uns Europäer heißt dies: gebt, soweit Ihr könnt, diesen Emigranten einen Tisch, Speise und Trank. Vom Ratstisch aber haltet sie fern. Dort mag, wenn sie sich eingelebt, eingelitten haben, für ihre Kinder und Kindeskinder ein Platz sein — die Politik des Tages haben jene zu tragen und zu verantworten, denen die ganze Schwere, das Gewicht des wohlverstandenen Interesses des eigenen Landes die Sicht nicht für den Blick auf das größere Ganze trübt.

Kerenskij als Ratgeber des Westens? Der Nährvater der sowjetischen Revolution als letzter Retter des Abendlandes? Nein. Die Schatten von gestern haben nicht die Kraft, das Morgen aus der Taufe zu heben. Dazu bedarf es anderer Mächte: noch birgt die freie Welt ihrer mehr, als sie selbst gewahr wird.

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