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“Weltpolitischer Umzug

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Die zweite Hälfte des Jahrhunderts wird im Zeichen der politischen Emanzipation der unterentwickelten Länder stehen. Dem Anschein nach überschattet wohl die Gefahr eines Atomkrieges alle anderen Probleme der kommenden Jahre, aber bei näherer Betrachtung liegt das Schwergewicht des Weltgeschehens doch nicht auf der Linie Washington-London, sondern in Südasien und Nordafrika. Es müßte ein Wahnwitziger kommen, um einen Atomkrieg auszulösen. Weder in Moskau noch in Washington liegt nun die Führung in solchen Händen. In Amerika wäre dies unter allen Umständen ausgeschlossen, weil die Kriegserklärung verfassungsmäßig ein Recht des Senates darstellt — es müßte also die Mehrheit einer 96köpfigen Körperschaft einem Kollektivwahn verfallen, um diesen Schritt zu tun. Auch an der Spitze Rußlands sind seit der Revolution vom Jahre 1917 immer kühl denkende Männer gestanden. Lenin war alles — nur kein Abenteurer. Aehn- liches gilt von Stalin. Auch seine Nachfolger bieten zumindest in dieser einen Hinsicht Gewähr: sie sind Meister in der Führung des kalten Krieges, und eben deshalb wollen sie es gar nicht auf einen echten Krieg ankommen lassen. Wenn also der kalte Krieg zum Normalzustand der Weltpolitik werden muß, so gibt es für die beiden Rivalen nur eine Möglichkeit, ihre Positionen in diesem weltpolitischen Stellungskrieg zu verbessern, nämlich die Festigung ihrer Beziehungen zu den unterentwickelten Völkern.

Wenn Nehru im Jahre 1955 erklärte, die Epoche der Eroberungen sei vorbei, so wäre darauf zu erwidern, daß sich bloß die Methode verfeinert hat, der Vorgang aber weitergeht. Laut dem amerikanischen. Geschichtsphilosophen Hehry A. Kissinger leigt die großeGefahr darin, daß in den unterentwickelten Ländern selbst die führenden Politiker es nicht immer verstehen, die einzelnen Kräfte in der Weltpolitik genau abzuwägen, die Volksmassen aber hierzu ganz außerstande sind. Materielle Vorteile wirken dabei nicht unbedingt stärker auf die Gedankengänge als politische Schlagworte. So wird der Begriff der politischen Unabhängigkeit bei Menschen, die in ihrem Privatleben alles, nur nicht unabhängig sind, zum Hauptziel. Sie erachten es als normal, daß die Staatskasse für die Absonderlichkeiten des Herrschers und der führenden politischen Clique herhalten muß. Eine bestechliche Verwaltung erscheint ihnen ebenso natürlich wie die Hitze in der Mittagsstunde, aber in der internationalen Politik verlangen sie nach Gleichberechtigung! Sie wissen eben noch nicht, daß die Kehrseite der Medaille Selbstdisziplin ist, um mit den übrigen Staaten auszukommen. Gab es etwa seit Kriegsende einen ärgeren Störenfried als Nasser? Man versüche zu errechnen, welchen materiellen Schaden er durch sein undiszipliniertes Vorgehen Westeuropa und vier anderen arabischen Ländern durch die Unterbrechung der Petroleumzufuhr, seinem eigenen Volke aber durch die Verzögerung des Dammbaues bei Assuan um ungezählte Jahre verursacht hat. Und dennoch jubeln ihm die arabischen Völker zu…

Der Uebergang der unterentwickelten Länder Asiens und Afrikas zu einer höheren politischen Stufe ist bei weitem nicht der erste Vorgang dieser Art im Laufe der Geschichte. Immer schon gab es fortgeschrittene und zurückgebliebene Nationen, weil sich die Kultur und die Technik niemals überall im gleichen Rhythmus entwickelt haben. Was jetzt im Bereiche des Indischen Ozeans und in Nordafrika vor sich geht, bestimmte die europäische Geschichte während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die Rivalitäten lagen damals nicht zwischen Kontinenten, sondern zwischen den führenden europäischen Staaten, und das Zeitproblem war der Gegensatz zwischen dem russischen und dem britischen Imperialismus in Asien, später zwischen dem deutschen und dem britischen Imperialismus in Asien, später zwischen dem deutschen und dem britischen Imperialismus im Welthandel. Dennoch stimmt der Vergleich mit der heutigen Lage, weil sich damals England und Rußland gegenseitig in Schach hielten — wie heute Washington und Moskau — und beide Mächte den erzwungenen Friedenszustand ausnützten, um ihre Positionen bei den damaligen unterentwickelten Völkern in Südosteuropa zu verbessern. In diesem Blickwinkel betrachtet, gab es während der hundert Jahre zwischen den Napoleonischen Feldzügen und dem ersten Weltkriege nur zwei weltpolitische Konflikte, nämlich den Krimkrieg und den russisch-türkischen Krieg im Jahre 1877. Bei diesen ging es um die Weltgeltung der Großen, wogegen die drei Kriege in Deutschland und zwei in Italien im geschichtlichen Sinne nur Nachläufer einer sonst abgeschlossenen Epoche nationaler Zusammenschlüsse waren. Sie blieben auch isoliert, wenn auch ihre Auswirkungen später stark in die Weltpolitik hineinstrahlen sollten.

Die südosteuropäischen Völker haben den Uebergang in der Zeitspanne eines ganzen Jahrhunderts vollziehen können, sie haben aber doch ein gutes Stück Weg zurückgelegt, ihre eigene Kultur entwickelt und ihre Verwaltung verbessert. Bloß muß man sich besorgt fragen, ob die unvermeidlichen Reibungen, mit denen der geschichtliche Vorgang verbunden ist, auch diesmal regional begrenzt bleibt, wie die beiden Balkankriege in den Jahren 1912/13 und hernach die Spannungen zwischen Bulgarien und allen seinen Nachbarn, zwischen Jugoslawien und Griechenland, zwischen diesem Lande und der Türkei.

Nun die Frage, wie man das Problem behandeln soll. Amerika tritt konsequent für den sofortigen und radikalen Abbau des Kolonialismus ein, wogegen die zwei führenden Mächte in Westeuropa eine ruhigere Gangart einschla- gen möchten. Auch zwischen diesen beiden gibt es aber Unterschiede, denn England zeigte in Indien, Ceylon und Burma eine Aufgeschlossenheit, die seiner großen politischen Vergangenheit würdig ist und erst bei Zypern versteift es sich unerklärlicherweise. Frankreich hingegen erwies sich sowohl in Indochina wie jetzt in Nordafrika als rückständig, und es gehört nicht zum Ruhmesblatt der französischen Geschieh te, wie man im Jahre 1946 Ho-Chi-Minh hinters Licht führte und wie hypokritisch man jetzt unter humanitär-kulturellen Losungsworten um Wirtschaftspositionen in den drei nordafrikanischen Gebieten kämpft.

Amerika geht aufs Ganze aus. Für Washington gibt es nur ein einziges Problem — nämlich den Kampf gegen den Bolschewismus. Der Kostenpunkt zählt dabei nicht, sondern nur das Endergebnis. (Nicht ganz zu Unrecht bemerkt hierzu Westeuropa, daß Amerika nur aus der Tasche seiner westeuropäischen Freunde so freigebig ist und deren überseeischen Gebieten politische Selbständigkeit schenken will; bei der Wirtschaftshilfe knausert der Kongreß um jeden Dollar!) Diese Politik ist insoferne richtig, als es nicht viel nützen würde, Gebiete in Nordafrika oder Asien in einer erzwungenen Abhängigkeit zu halten, wenn sich diese im kritischen Augenblick als weltpolitische Passiva erweisen sollen. Was Moskau im vergangenen Herbst in Polen und Ungarn erfahren mußte, sollte nach amerikanischer Auffassung London und Paris als Lehre dienen. Diese Ansicht vertritt Adlai Stevenson in der neuen Monatsschrift „Occident Western World”, die in französischer und englischer Sprache den Dialog quer über den Ozean einleitet. Seine Argumentation baut auf die Kraftquelle des Nationalismus, um die Abwehrbereitschaft der asiatisih-afrikanischen Nationen gegen den Bolschewismus zu stärken. Um aber diese Kraftquelle freizulegen, muß nach seiner Ansicht der Kolonialismus sofort und restlos beseitigt werden; sonst müßten bei diesen Völkern Zweifel auftauchen, ob sie sich für die eigene Sache einsetzen .oder für diejenige der Machthaber von gestern. Adlai Stevenson — und alle maßgebenden amerikanischen Stellen — nehmen an. daß die freie Welt gesamt und auf lange Sicht von dieser Politik mehr Nutzen ziehen wird, als einige ihrer Mitglieder im gegenwärtigen Augenblick dafür bezahlen müßten.

Für die westeuropäische Auffassung tritt Paul Reynaud in die Schranken. Den europäischen Gedankengängen geht leider die große Linie ab und dies kann selbst sein blendender Stil nicht vergessen lassen. England und Frankreich sind müde, sie vermögen nicht mehr, in jedem neuen Problem der Tagespolitik eine Gelegenheit zu erblicken, ihre Zukunft zu untermauern; sie befürchten vielmehr, immer wieder neue Einbußen zu erleiden. In Westeuropa richtet man daher seine Blicke in erster Linie auf die Störungen und Verluste, die dieser „weltpolitische Umzug” verursacht. So wie die Sachen einst waren, hatte der Bolschewismus bei den Völkern Asiens und Afrikas nicht Fuß fassen können — wozu also eine Lage gewaltsam umzustoßen, die sich gut bewährt hat? Man widersetzt sich der Entwicklung nicht (so zumindest behauptet es Paul Reynaud und alle Redner im Palais Bourbon), aber das Tempo sollte gebremst und nicht verstärkt werden, wie es Amerika haben möchte.

Die Erfahrungen der Nachkriegszeit lassen keine eindeutigen Schlüsse zu. Weltpolitisch gesehen hat sich die mutige Politik Attlees in Südasien bezahlt gemacht, denn Indien, Pakistan und Ceylon sind im Verband des Commonwealth verblieben, und selbst Burma, das ausgetreten ist, unterhält mit der westlichen Welt gute Beziehungen. Demgegenüber hat der Rückzug aus der Suezkanalzone — bei dem die Beeinflussung durch Amerika eine große Rolle spielte — die Schleusen eines gefährlichen Nationalismus geöffnet, der sich aus Aegypten auch nach Syrien ergoß. Was in New Delhi höchste politische Weisheit war, erweist sich also in Kairo als schwerer Fehler!

Zweifellos muß in dieser Materie jeder Fall individuell behandelt werden. Diese an sich 4

schon genug schwere Aufgabe wird nun dadurch noch weiter kompliziert, daß unterentwickelte Nationen, die zu der gleichen regionalen Gruppe gehören, sich entweder zanken (Indien—Pakistan) oder wie die Primadonnen eifersüchtig darauf achten, daß die andere keine besseren Rollen erhält. Wenn Nasser einen politischen Erfolg erzielt, will sofort auch der Imam von Jemen seine Macht den Engländern fühlen lassen, und in Syrien, wo die meisten Leute nicht einmal lesen können, spricht man von einer Föderation mit Aegypten und Jordanien. Daß eine Föderation ein weit komplizierterer stäatspolitischer Mechanismus ist, ein Bastelwerk aus Korruption, Massenelend und Unwissenheit, wiegt weniger als der Wunsch, sich am Erfolg Aegyptens mitzubeteiligen. Daher haben auch die westeuropäischen Staatsmänner recht, wenn sie Amerika zur Vorsicht mahnen. Denn die einmal entfachte Entwicklung läßt sich nicht immer rückgängig machen. In Persien ist dies den westlichen Mächten gelungen und Mossadegh, der das Land ins Elend — und hernach in die Arme des Bolschewismus — geführt hätte, wurde unschädlich gemacht. Wird sich aber der Fall immer wiederholen, daß der Führer der Nationalisten einen ruhig überlegenden Gegenspieler in der Person des Herrschers findet?

In dieser Krise befindet sich derzeit Jordanien. Dort unterstützt Washington die vorsichtige Politik des Königs gegen die russenfreundliche Politik der Nationalisten. Also hat sich auch Washington zur Auffassung bekannt, daß es einen nützlichen und einen gefährlichen Nationalismus gibt, je nachdem, ob er sich für die Zusammenarbeit mit dem Westen oder mit dem Osten ausspricht! Dann ist ja der Graben zwischen Amerika und Westeuropa nicht so weit, wie man es vermutete. Im übrigen hat auch MacMillan nach der Konferenz von Bermuda Zuversicht in die weitere Zusammenarbeit mit Amerika gezeigt. Alles ist also noch nicht verloren…

Worauf es jetzt ankommt, ist die Schaffung einer klar umrissenen, großzügigen Doktrin der freien Welt gegenüber den unterentwickelten Ländern. Sie muß klare Umrisse erhalten, für alle Mitgliedsländer der NATO annehmbar sein, und alle müssen bereit sein, die sich aus der gemeinsamen Politik ergebenden Lasten zu tragen. Frankreich und England müssen eher in politischer, Amerika in finanzieller Hinsicht beisteuern. Damit wäre wohl das Heilmittel entdeckt, aber die Therapie wäre noch auszuarbeiten. Diese kann man nicht im Vorhinein für alle Fälle bestimmen, sie muß den Reaktionen der einzelnen Patienten angepaßt werden. Sowohl Washington wie auch London und vor allem Paris, müssen sich also von ihrer doktrinären Steifheit befreien. Mit viel Takt ließe sich eine Politik betreiben, die den Umbau der unterentwickelten Länder zu nützlichen Mitgliedern der Gemeinschaft freier Staaten fördern würde, ohne dem Bolschewismus die Gelegenheit zu geben, sich während der Ueber- gangsperiode in diesen einzunisten.

Die freie Welt steht am Ausgangspunkt einer gefährlichen weltpolitischen Gratwanderung …

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