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Frieden auf Erden...

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Die Weihnachtsbotschaft hörten wir wohl. Fehlt uns der Glaube? Es ist, wenn man vom Frieden zwischen den Staaten und, Völkern spricht, besser, nicht zuviel Gefühl in das Wort „Frieden“ zu legen. Politik hat — Gott sei's geklagt! — mit Himmelsbotschaften nicht viel zu tun. Was ist Frieden? Vielleicht nur das Fehlen des Kriegszustandes? Oder ist es das Vorhandensein und die Einhaltung von formellen Friedensverträgen? Kann man weitergehen und den ernsthaften Willen, Frieden zu halten und Konflikte zu verhindern, als einen begehrenswerten, ja erfreulichen Zustand betrachten?

Man sollte, scheint mir, nicht undankbar sein für das, was man hat: in Europa eine Friedensperiode, die im nächsten Frühjahr bereits ein Vierteljahrhundert andauern wird — also etwas Seltenes in der Geschichte unseres Erdteils. Man hatte zwar den Kalten Krieg. Er war ein Zustand der Spannung, ein Anlaß zu Polemik, zu politischen und militärischen Vorkehrungen. Er hinderte Europa jedoch nicht, die zerstörten Städte wiederaufzubauen, der Wirtschaft zu einem nie gesehenen Aufschwung zu verhelfen, die Lebenshaltung breitester Bevölkerungsschichten zu heben, den Handel und Verkehr über die Grenzen gewaltig zu steigern, ja sogar die politischen Verhältnisse — trotz allerhand Schwankungen — zu konsolidieren. Im kalten Krieg fiel kein Schuß, keine Landesgrenze ist verschoben worden. Man hat sich gegenseitig schwere Vorwürfe gemacht, aber man hat einander nicht weh getan. Das vielberufene „Containe-ment“ ist im Ergebnis beiden Seiten zugute gekommen: dem Westen, der sich gegen keinen Angriff zu verteidigen brauchte, und dem Osten, der entgegen den Wünschen und Forderungen der Gegenseite keine seiner Positionen räumen mußte. Der kalte Krieg endete wie ein unentschiedenes Match. .

In Wirklichkeit waren auch die Jahre, als die Rivalität der beiden Supermächte bedrohliche Formen anzunehmen schien, in Europa Friedensjahre. Denn ein größerer Unterschied als der zwischen einem „kalten“ und einem „heißen“ Krieg ist gar nicht denkbar. Schlimm genug,

daß es anderswo zu lokalen Kriegen kam: In Korea, Algerien, Vietnam, Palästina. Die beiden letztgenannten dauern an, und es ist nicht abzusehen, wie und wann sie zu Ende gehen werden. Solche Konflikte haben auch Rückwirkungen auf die innere und äußere Politik verschiedener Staaten. Doch war es auffallend, daß die wirklich Mächtigen niemals die Grenze der Kriegsgefahrzone überschritten haben. Im Gegenteil: sie waren fest entschlossen, nicht zuzulassen, daß irgendein lokaler Konflikt zu einem allgemeinen Krieg führen konnte.

Die Kontakte zwischen Washington und Moskau sind nie abgebrochen, ja sie waren enger, häufiger und positiver, als es den Anschein hatte. Das höhere Interesse der Friedenserhaltung hat Opfer gekostet, die mancher Europäer nicht begriff: die Amerikaner haben niemals den Willen gehabt, bei irgendeiner Gelegenheit in Osteuropa einzugreifen; in die bekannten Aufstände oder Emanzipationsbewegungen in osteuropäischen Ländern mischten sie sich nicht ein. Die Russen fanden sich mit den bestehenden Verhältnissen in Westeuropa ab und wünschten nicht, daß durch revolutionäre Versuche in westeuropäischen Ländern das Gleichgewicht gestört werde.

Die Haltung der beiden Supermächte kann man nur verstehen, wenn man weiß, daß ihre Politik konservativ ist. Weil die Sowjetunion seit Jahren konservativ ist, hat sie sich die Volksrepublik China und die revolutionäre „Neue Linke“ in allen Welt-

teilen zum Gegner gemacht. Dieser Konservatismus hat seine Wurzel in der Außenpolitik, die jedes Risiko, vor allem aber das Kriegsrisiko vermeiden will. Der Durchschnittsbürger, der die Ereignisse in der Welt mit Sympathie für die einen und mit Antipathie gegen die andern zu verfolgen pflegt, glaubt, die Außenpolitik der Mächte folge ihrer ideologischen Linie. Das ist aber selten der Fall — und wenn es anscheinend doch der Fall ist, dann ist die ideologische Argumentation und Propaganda meistens ein Mittel zum Zweck der Machtpolitik. China, das die Idee der Weltrevolution propagiert, tut dies, weil es, als der Schwächste unter den Großen, Amerika und Rußland auf diese Art zu schädigen versucht. Lenin sagte, der Sieger sei immer pazifistisch. Das ist richtig, denn er will die Früchte seines Sieges nicht aufs Spiel setzen. Die verbündeten Sieger des zweiten Weltkrieges, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, sind pazifistisch, weil Veränderungen der Machtverhältnisse zu ihren Ungunsten ausfallen können. Vor allem aber darf man — trotz aller Gegensätze zwischen beiden Mächten — die Interessengemeinschaft der Russen und Amerikaner auf dem Gebiete der Verhinderung eines Nuklearkrieges nicht unterschätzen. Weder Angriff noch Verteidigung verheißen in einem Nuklearkrieg Erfolg. Ein solcher ist kein Mittel zur Erreichung politischer Zwecke, weil der Preis viel zu hoch wäre. Präsident Nixons Berater für Sicherheitsfragen, Professor Kissinger, sagt, ein Nuklearkrieg würde die Vereinigten Staaten mindestens die Hälfte ihrer Bevölkerung kosten. Für die Sowjetunion wären die Kosten kaum weniger hoch. Das bedeutet aber, daß in einem solchen Fall das gesamte Leben eines großen Landes — in Europa das Leben eines Kontinentes — zum Erliegen käme. Die Verhinderung des Atomkrieges besitzt in der Rechnung aller Regierungen die absolute Priorität. Insbesondere die beiden größten Atommächte fühlen sich mit Recht verantwortlich dafür, daß ein solcher Krieg nicht ausbrechen kann. Der Frieden in unserer Zeit hängt nicht mehr von Friedensverträgen oder von der Regelung von Grenzfragen und ähnlichen Streitpunkten ab. Er kann nicht mehr wegen territorialer Forderungen aufs Spiel gesetzt werden. Ungelöste Probleme können höchstens noch als diplomatische Druckmittel verwendet werden, aber nicht mehr als Casus belli. Der erwähnte Henry Kissinger sagt, der Frieden werde nicht durch eine große Konferenz gesamthaft geregelt werden können; er werde das Ergebnis eines „langen diplomatischen Prozesses“ sein müssen. Man kann die ersten Etappen dieses Prozesses bereits feststellen: im Jahre 1963 den Teststopvertrag, 1967 den Weltraumvertrag, 1968 den Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen, Ende 1969 die Gespräche zur Einleitung einer Beschränkung der Raketensysteme. Die Amerikaner sagen, die Gespräche mit den Russen in Helsinki seien „sachlich und unpolemisch“ geführt worden wie nie zuvor. Die moderne Form des Friedens heißt: sachliche, unpolemische Verhandlungen über konkrete Fragen.

In Bonn wurde mir schon vor einem Jahr an hoher Stelle gesagt, es gebe keine Alternative zur Entspannungspolitik; sie sei zwar wegen der tschechoslowakischen Krise augenblicklich blockiert, aber der Trend zur Entspannung werde sich -'als stärker erweisen; eine Alternative zur Entspannungspolitik würde die Rückkehr zum Eisernen Vorhang, zum Kalten Krieg, zum Containment, vielleicht zum „roll back“, kurz zur Dulles-Politik bedeuten: das sei aber nicht möglich.

Die einzige Friedensbotschaft heißt heute: die Rückkehr zur Politik des kalten Krieges ist nicht mehr möglich.

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