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Staatenbund Europa

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Dieser Artikel erschien am 24. August 1946. Der inzwischen verstorbene Generaldirektor unseres Hauses, Richard Schmitz, ein namhafter Politiker der Ersten Republik, malt darin an Hand einer Schweizer Stimme ein föderalistisches Europa an die Wand, das seither leider nicht über EWG und EFTA hinausgediehen ist.

Aus manchen Gegenden Europas und Amerikas kommen seit einiger Zeit Nachrichten, daß sich dort jene unbehagliche Stimmung zu verbreiten beginnt, für die der Franzose das bezeichnende Wort malaise besitzt. Dort gäbe es nicht wenige Leute, die Gespenster sehen, und dies sei kein Wunder, da sogar angesehene Männer des öffentlichen Lebens und verbreitete Zeitungen mehr oder weniger offen von einer weltpolitischen Entwicklung redeten, die von den offenkundigen Meinungsverschiedenheiten der Weltmächte und ihren Interessengegensätzen zur Verzögerung und Verschlechterung des Friedens und schließlich zur Heraufbeschwörung der schrecklachen Gefahr eines dritten Weltkrieges führen könne. Wir sind kaum in der Lage, zu beurteilen, wieweit hier eine aufrichtige Sorge Wissender das Gehege der sonst üblichen diplomatischen Reserviertheit durchbricht oder ob es sich um taktische Warnungen handelt, denen freilich ein tiefer Ernst eigen wäre. In dem feinen, grauen Nebel, der in die politische Atmosphäre eindringen will, erheben sich nun Stimmen, die mit dem schönen Mute redlicher Überzeugung und mit der Zuversicht, die aus dem Vertrauen auf den Magnetismus geistiger Werte sprießt, die Völker Europas zur Besinnung rufen, sie warnen, ja nicht einer fatalistischen Hypnose zu verfallen wie der Vogel vor der Schlange, sondern sich auf ihre inneren Kräfte zu besinnen und der großen Idee zuzuwenden, die lange Zeit schweigen mußte, ihre unsterbliche Lebenskraft jedoch bewahrt hat. Vor mir liegt das erste Heft einer Zeitschrift, die in der freien Schweiz erscheint Ein Blick in den Inhalt läßt erkennen, daß hier Männer verschiedener Völker und Staaten sich zusammengefunden haben, um für die Föderalisierung des alten Europa zu werben.

Den Reigen eröffnet Dr. Kurt Schuschnigg, der von Hitler verschleppte und sieben JaKre gefangengehaltene Altkanzler der Republik Österreich. Die früheren weltpolitischen Begriffe des Gleichgewichtes der europäischen Mächte, der Einigung des Kontinents unter der Hegemonie einer Vormacht, des Genfer Völkerbundes, der Isolation Amerikas und die These von der englisch-amerikanischen Eifersucht seien abgebraucht und erledigt. Als während des nationalsozialistischen Weltkrieges Winston Churchill und Roosevelt von hoher See die Atlantik-Charta verkündeten, begann die Welt auf eine neue Zeit zu hoffen und hat diese Hoffnung trotz der Belastungen, welche die Tagung von San Franzisko brachte, nicht aufgegeben. Sollen die Völker wieder erleben, daß sie der schillernden Seifenblase einer Illusion oder gar einer bloßen Propaganda aufgesessen sind? Soll Europa, fragt Schuschnigg, in Zonen der Weltmächte aufgeteilt werden? Diese Lösung würde, fügt er mit Recht hinzu, weder den ersehnten Frieden noch die so notwendige Blüte des Wirtschaftslebens bringen, sondern bestenfalls die Möglichkeit eines längeren Waffenstillstandes bieten. Was ein solcher Zustand für die politische Freiheit und für die wirtschaftliche Wohlfahrt, ja auch nur elementarste Versorgung der Völker bedeutet, wissen wir aus schmerzlicher Erfahrung. Im Zusammenhang mit den öffentlichen Erörterungen, welche ein Teil der Weltpresse der angeblich drohenden Gefahr einer Zerreißung Europas in Zonen widmet, erinnert der Altkanzler auch an die gefährliche Tragweite einer unrichtigen Lösung des zwischen den Alliierten strittigen deutschen Problems. Ist man sich der Folgen klar, wenn diese 60 Millionen Deutschen in eine Lage gebracht würden, die sie eines Tages zwänge, für die eine der beiden Interessensphären zu optieren? Soll es wiederum so kommen wie nach 1919? Gibt es keine große und begeisternde politische Idee, die die kommende junge Generation davor bewahrt, neuerlich irgendwelchen Irrlichtern zu folgen und in tragische Sackgassen zu geraten? Weder eine westliche noch eine östliche Durchdringung Mitteleuropas hat nach seiner Meinung genug werbende Kraft. Daher dürfe man die Uber-legungen nicht auf die Unversöhnbarkeit des Gegensatzes zwischen dem Osten und dem Westen basieren, sondern solle die Verständigung der beiden fördern. Nicht die Zerrissenheit andauernden Streites, sondern ein Commonwealth der europäischen Völker und ihrer Staaten sei das große Ziel, das den Verstand, den Willen und die Phantasie ihrer Jugend zu gewinnen, den Frieden unseres Weltteiles, damit die materiellen Lebensinteressen und kulturellen Kräfte der auf ihm wohnenden Menschen aller Rassen und Nationen wirksam zu schützen vermöchte.

Dürfe dieser schöne und erhebende Gedanke am Streite von Ideologen scheitern? Gewiß bestehen begriffliche Verschiedenheiten, welche die Verständigung des Westens mit dem Osten und des Ostens mit dem Westen erschweren. Da aber beide Teile vor aller Welt ihren feierlichen Schwur auf die Demokratie, sonach auf die freie Selbstbestimmung und Selbstregierung der großen und der kleinen Völker, abgelegt haben, wäre der gemeinsame Nenner vorhanden. Schuschnigg schließt mit dem Bekenntnis, daß der Österreicher mit stärkster Uberzeugung sich Europa zuneige, weil er in Sprache, Charakter, Wollen und Glauben niemals aufgehört hat, sich zutiefst als Europäer zu fühlen, und weil er die beste Möglichkeit der Sicherung einer lebenswerten Existenz seines Vaterlandes in dessen Eingliederung in einen europäischen Staatenbund erblicken muß, der weder Zonen noch Ideologien sich einseitig verschreibt.

Den programmatischen Hauptartikel des Heftes schrieb Leon van Vassenhove, um die Fragen zu beantworten, warum, wann und wie der Staatenbund Europa errichtet werden solle. Er geht von der These aus, daß schon seit langem die Idee, die ganze Welt als einen Bund freier Völker zu organisieren, lebendig ist, manchmal wohl strauchelte, immer aber sich wieder erhob. Eine Etappe auf diesem Wege ist die UNO, wenn sie auch noch nicht dem Ideal entspricht, vielmehr den doppelten Gegensatz zwischen den Weltmächten untereinander und zwischen ihnen und den kleineren Nationen, wenigstens bisher, allzusehr hervortreten ließ. Wenn Vassenhove sich auf die Reden beruft, in denen der englische Außenminister Bevin zuerst am 23. November 1945 im Hause der Gemeinen und Winston Churchill vor- und nachher in Brüssel und im Haag für die Schaffung einer europäischen Föderation unter der Ägide der UNO eingetreten sind, so kann diese Liste verlängert werden. Unseres Erinnerns hat zum Beispiel der Präsident der tschechoslowakischen Republik, Herr Dr. Benesch, einen ähnlichen Gedankengang erörtert. Übrigens ist dieser Gedanke bereits aus der schmalen und dünnen Schichte der Theoretiker in breitere Kreise aktivistischer Praktiker gedrungen, denen man in vielen Staaten Europas begegnen kann. Diese Erscheinungen tragen lokale und nationale Färbung, sie sind nicht das Produkt einer zentralen Propaganda, sondern streben erst jetzt zueinander, um ihre Kräfte für das gemeinsame Ziel zu vereinigen.

Aus dem gleichen tiefen Grunde steigen andere Bestrebungen auf, die auf vorbereitende Teillösungen hinarbeiten. Als immerhin wissenswerten Beitrag nenne ich eine kleine Broschüre, die unter dem Autornamen Peter W. Anton, 1944, in Rom in italienischer Sprache erschienen ist und die Kontinentali-sierung der politischen Parteien als Friedensgarantie empfiehlt. Der Rat geht dahin, die einander nahestehenden Parteien der europäischen Nationen sollten untereinander regelmäßigen Kontakt halten, um zueinander

Vertrauen zu gewinnen, mit dem Vertrauen den Freimut der wechselseitigen Information und das Verständnis für die Denkweise und die Probleme ihrer Völker und Staaten. Sozialisten werden mit Sozialisten und christliche Demokraten mit christlichen Demokraten leichter und freier sich aussprechen können, meint der Verfasser nicht mit Unrecht, als Sozialisten und christliche Demokraten eines und desselben Landes, die immer wieder vom Agitationsbedürfnis der inneren Politik belastet sind. Hiefür liegen schon wertvolle Erfahrungen vor, die diesem Autor vielleicht nicht genügend vertraut waren. Ich erinnere an die sozialistischen Internationalen. Andererseits drängt es mich, mit dankbarer Anerkennung einer Einrichtung zu gedenken, die in den von Nationalismus herbeigeführten Wirren zugrunde gegangen ist, bis dahin aber durch rund eineinhalb Jahrzehnte ausgezeichnete Dienste geleistet hat. Ich meine die regelmäßigen Tagungen, die seit 1925 Vertreter von Parties democrates d'inspiration chretienne zweimal jährlich zur Aussprache vereinigten. Die Zahl der dort repräsentierten Parteien und Staaten betrug gewöhnlich acht, sie stieg manchmal auf ein Dutzend. Aus persönlicher Erfahrung darf ich, der an diesen internationalen Gesprächen von 1929 bis zum Jänner 1938 teilgenommen hat, feststellen, daß sich hier Möglichkeiten boten, dem eigenen Vaterland wertvolle Dienste zu leisten, die eine unerläßliche und glückliche Ergänzung der Tätigkeit der amtlichen Diplomatie darstellten, die bekanntlich durch Erziehung, Tradition und internationale Courtoisie innerhalb deg fremden Landes in einen sehr engen und formalen Rahmen gebannt ist.

Furchtlos schneidet van Vassenhove die heikle Frage an, welche Haltung die Sowjetunion zur Idee eines europäischen Staatenbundes einnehmen wird. Vielleicht, ja wahrscheinlich würde sich diese Weltmacht, deren führende Männer wiederholt erklärten, eine Politik der eigenen Sicherheit zu verfolgen, die Vorfrage stellen: Gegen wen soll der Staatenbund errichtet werden? Vassenhove antwortet kurz und bündig: Gegen den Krieg! Die Föderalisierung Europas soll verhindern, daß immer wieder der alte Kontinent in Brand gerät. Der neue Bund soll sich selbst der Weltkontrolle unterstellen, indem er sich als ein Regionalverband der UNO eingliedert, in der ohnehin die Weltmächte dominieren und jede von ihnen sich sogar das — freilich lebhaft umstrittene — Vetorecht gesichert hat, also eine ganz besondere Kontrollmöglichkeit besitzt. Die Sowjetunion verwirft jeden Westblock und jede Atlantikföderation als gegen sich gerichtet. Ein Staatenbund Europa fällt nicht in diese mißtrauisch betrachteten Kategorien. Die Sowjetunion ist Signatarmacht der Charta von San Franzisko, mit der ein föderalisiertes Europa kompatibel wäre. Vassenhove geht einen Schritt weiter und sagt ausdrücklich, eine gegen die östliche Weltmacht gerichtete und zu einem neuen Weltenbrand führende Blockbildung zu verhindern sei nicht nur ein russisches Interesse, sondern liege im Interesse ganz Europas, dessen Freiheit und Glück einen gesicherten und dauernden Frieden voraussetze. Nur ein in sich selbst ruhendes Europa sei befriedet. Da die Sowjetunion wiederholt erklärt hat, daß ein befriedetes Europa ein Hauptziel ihrer eigenen Politik sei, stehe die Bewegung, die den Staatenbund Europa anstrebt, nicht im Gegensatz zu ihr, sie hätten vielmehr beide dasselbe Ziel. Und Vassenhove fügt hinzu, es sei wünschenswert, daß Rußland diesem Bunde beitrete, sei es als Gesamtreich, sei es für seinen europäischen Anteil.

Nachdenklich steht auch der Herausgeber der neuen Zeitschrift vor den unheimlichen Schwierigkeiten des deutschen Problems, wie es heute beschaffen ist. Ein pangermanistisches und herrschsüchtiges Deutschland ist in diesem Staatenbunde undenkbar, dieser selbst jedoch bleibt ohne das Sechzigmil-lionenvolk in der Mitte des Weltteiles ein Torso. Welch ein Dilemma! Ohne selbstverständlich die moralische Begründung mit der Kriegsschuld und der Verantwortung für die Missetaten des Nationalsozialismus in Frage zu stellen, erinnert van Vassenhove angesichts der öffentlich erörterten alliierten Verfügungen und Pläne für Deutschland an die historischen Erfahrungen mit den psychologischen Folgen von Gebietsabtretungen großen Umfanges, dauernder einseitiger Entwaffnung und Entehrung ganzer Völker, er verweist auf die Vertreibung vieler Millionen aus jahrhundertealten Wohnsitzen mit gleichzeitiger Einbuße allen Besitzes, auf die dadurch herbeigeführte Übervölkerung Restdeutschlands und überdies auf den bereits auftretenden und die wirtschaftliche Zukunft Europas und der Welt berührenden Mangel an Plan, Harmonie und Gleichgewicht der deutschen Wirtschaft. Die Methode einer chaotischen Gewaltlösung der Buße und Wiedergutmachung statt eines nach internationalen Rechtsgrundsätzen geregelten Verfahrens hat, wie niemand bestreiten wird, in der Tat sehr ernste Schwierigkeiten geschaffen. Daher kann die Frage des Verhältnisses Deutschlands zum geplanten Bund erst beantwortet werden, wenn die Besatzungsmächte über die noch ausstehenden prinzipiellen Entscheidungen sich geeinigt haben werden. Vielleicht aber wären die Mitgliedsstaaten des Bundes kompetent und sachkundig genug, um selbst die Beziehungen dieses Volkes zu Europa und damit zur Welt in einer glücklichen Weise zu ordnen, sie müssen ja auch die moralischen und materiellen Auswirkungen dieser Neuordnung unmittelbar auf sich nehmen.

Diese keineswegs vollständige Ubersacht über die Ideenwelt, die sich in der neuen Zeitschrift auftut, und über die Gedanken, zu denen sie Anlaß gibt, läßt die Fülle der Schwierigkeiten erkennen, die beim Aufbau eines europäischen Staatenbundes zu überwinden sind. Das ist ein Grund mehr, daß die Vorkämpfer ihre edle Leidenschaft fernhalten vom Tagesstreit und sich der ernsten Sachlichkeit befleißigen, die das Problem erheischt, eine Bemerkung, die nicht als Kritik gemeint ist, weil dazu gar kein Anlaß vorliegt. Noch aber besteht keine Notwendigkeit, die Idee selbst an sich für undurchführbar zu halten. Es ist kaum zuviel gesagt, wenn man in ihr eine in zeitgemäße politische Denkform gefaßte Spiegelung der uralten Vorstellung von der Ökumene des Abendlandes erblickt, die niemals vollständig realisiert werden konnte, jedoch in der Tiefe historischer Wunschträume wie der symbolische Goldgrund alter BUder schimmert und in der kulturellen Einheit des Abendlandes lebendig geblieben ist, das heute zweifelnd und unsicher vor dem aus einer Verschmelzung weltlicher Ratio und östlicher Psyche geborenen Neuen steht, dessen Rätselaugen über die nahegerückten Grenzen schauen. Ein Blick auf die neuere Formgebung europäischer Staaten zwingt sodann dem in der Denkweise des Liberalismus, der wir den Nationalismus und den ihn bewaffnenden Zentralismus verdanken, altgewordenen Zeitgenossen die ihn überraschende Erkenntnis auf, daß auch in Europa die Föderalisierung große Fortschritte gemacht hat. Früher ragte die Schweiz als Bund freier Kantone wie ein einsamer Felsblock inmitten der Weite scheinbar modernerer Nachbarn auf. Heute hat sich der Eidgenossenschaft, der Hüterin echter und unmittelbarer Volksherrschaft, eine ganze Reihe von Staaten zugesellt, die ihre Verfassung föderalisierten. Als die Alliierten zu uns kamen, lernten sie erst, daß Österreich, das ja seit jeher in der gebietlichen und sachlichen Selbstverwaltung das Urprinzip seines Freiheitsbegriffes erfühlte, trotz seiner Kleinheit ein Bundesstaat ist und mit der freundnachbarlichen Schweiz viele Verwandtschaft hat. Aber auch slawische Staaten haben sich dem Föderalismus zugewandt, allen voran die riesige und völkerreiche Sowjetunion. Mag die Gestaltung dieser Bundesstaaten oft von unseren gewohnten Vorstellungen abweichen, diese Entwicklung ist doch ein Zeichen, daß die Völker heute andere Wege und Formen ihres staatlichen Lebens suchen als frühere Generationen. Und ist es zu gewagt, in dieser modernen Erscheinung eine Ermutigung für die Verfechter des Staatenbundes Europa zu erblicken?

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