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Die tödliche Weisheit

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„Mit euch, meine Herren, wird Europa niemals gegründet werden!“ Diese Worte sagte Paul Henry Spaak in seiner letzten erschütternden Rede vor der Konsultativversammlung in Straßburg. Warum mußte es so weit kommen?

Was liegt der Krise Europas zugrunde? .Was haben wir den Außenministern, die uns um Unterstützung gebeten haben, gegeben? Nichts, gar nichts!“

Es ist an der Zeit, klar auszusprechen, was man bisher selten den Mut hatte, offen zu sagen: Der ideale Schwung der Konferenz von 1948 ißai von der Vorstellung getragen, daß Europa wirklich etwas Gemeinsames sei, das nur durch den Egoismus von Staatsmännern und durch nationale Engstirnigkeit nicht zur Geltung komme. Sobald dieses ideale Konzept in Realität umgesetzt werden sollte, mußte die Fiktion, auf der es aufbaute, offenbar werden: Europa ist keine naturgegebene Einheit. Wenn man lange forscht und wenn man sich Mühe gibt, dann kann man einen dünnen Schleier einer Art gemeinsamen Erbes feststellen: das Christentum, die Erbschaft der Antike und gewisse höchste Werte, wie sie Coudenhove-Kalergi in seinen Büchern treffend' schilderte. Aber diese und noch stärkere Gemeinsamkeiten haben die iberischen Völker mit Süd- und Mittelamerika; hat Großbritannien mit seinen Dominions, haben die skandinavischen Völker mit der angelsächsischen Welt.

Die Unterschiede der großen Kulturvölker Europas sind nun einmal eine Realität, vielleicht ein Unglück, aber sie sind eine Realität. Man kann nicht behaupten, daß etwas nicht ist, wenn es offensichtlich ist. Spaak hat der Mehrheit der Delegierten in Straßburg vorgeworfen, daß sie an Europa nicht glauben, daß sie mit nationalen Prätexten Europa sabotieren. Er hatte recht: die Türken verlangen, daß Europa auf die Verteidigung Anatoliens blicken müßte. Ein Teil der deutschen Delegierten sagt: Kein Europa ohne Ostdeutschland. Die Griechen meinen, kein Europa ohne England, weil nur England sie richtig verteidige. Ein Teil der französischen Delegierten greift das heutige Spanien erbittert an, und die Versuche der saarländischen Delegierten, zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln, scheitern an den nationalistischen Ambitionen der beiden Nachbarn.

Das Problem liegt also nicht darin, daß wir etwas schon Bestehendem Ausdruck verleihen, sondern daß wir etwas, was noch nicht besteht, erst schaffen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der sowjetische Druck auf das freie Europa, ist der Haß Asiens gegen dieses Europa (auch Spaak sprach davon) und das ungeduldige Drängen Amerikas geradezu ein Glück für unseren Kontinent. Wie von Eisenfäusten umklammert, beginnen sich die einzelnen Mosaike zu einem geschlossenen Bild zu vereinen. Man kann mit einiger Uber-treibung behaupten, daß England den Europarat so behandelt wie die Sowjetunion den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Unterschied liegt aber in der Verschiedenheit der Motive. Die britische Haltung ist durchaus verständlich und berechtigt. In Europa wird meistens übersehen, daß die geistigen und ökonomischen Bande des Commonwealth wirkliche, praktische und effektive Gegebenheiten sind. England muß in seiner Außenpolitik auf die Belange Neuseelands und Südafrikas, aber selbstverständlich auch Indiens Rücksicht nehmen. Dazu kommt noch, daß für das Commonwealth das atlantische Verteidigungssystem, wenn nicht sogar ein globales Verteidigungssystem, wichtiger ist als ein europäisches Verteidigungssystem.

Der konservative Abgeordnete Boothby sagt: “NATO is where the power, actual and potential of the free democratic world resides and power talks.“ Die koordinierte militärische Zusammenarbeit der drei angelsächsischen Mächte des Atlantik ist für England eine wirkungsvolle Tatsache. Die Schlagkraft einer europäischen Armee ist eine Möglichkeit, vielleicht eine Hoffnung, aber keine Sicherheit.

Die Rede Sir David Maxwell Fyves brachte klar zum Ausdruck, daß England, gleichgültig, ob konservativ oder liberal, nicht bereit ist, Souveränitätsrechte zugunsten einer europäischen Staatengemeinschaft abzutreten. Auch Churchill hat nie das Gegenteil behauptet. Und Western Europe bedeutet im Englischen das westliche Kontinentaleuropa ohne die britischen Inseln. Aber Sir David hat zugleich ebenso klar zum Ausdruck gebracht, daß Großbritannien bereit ist, mit einer europäischen Staatengemeinschaft eine association einzugehen. Eine asso-ciation aber ist zwar weniger als „mem-berships“, jedoch mehr als „collabora-tion“. Beispielsweise ist das Verhältnis von Eire-Irland zum Commonwealth das einer association. Die von England zugesagte Entsendung einer ständigen Deiegation zum Sitz der Obersten Behörden des Kohlen-Stahl-Pools ist keine äußere Formalität. Es ist zwecklos, England Vorhaltungen zu machen. Die britische Politik ist nicht von ungefähr so, es ist besser, sie als gegebene Tatsache anzunehmen.

Ganz anders aber verhält es sich mit denen, die diese britische Haltung als Ausrede benützen, um Europa aus anderen Motiven zu sabotieren. Hier liegen schwere Hemmnisse der Einigung. Zwei Ängste leiten diese Kunktatoren: die nationalistische Angst und die ideologische Angst.

Frankreich fürchtet sich vor Deutschland. Reynaud sagte deutlich, wenn England seine Armee nicht einer europäischen eingliedere, werde Frankreich die glorreiche Grande Armee niemals auflösen. Guy Mollet sagte dann, ein Europa mit den beiden Brennpunkten Deutschland und Frankreich ist unannehmbar. Reynaud ist ein genialer Kritiker, ein sprühender Geist, der sich aber mit der Feststellung des Negativen erschöpft. Deutschland mißtraut Frankreich und versucht über eine europäische Einigung die Saar zurückzubekommen. Die SPD nützt die Popularität nationalistischer Parolen auch im Europarat für Propagandazwecke in Deutschland aus. In dieser Richtung weisen die Reden Carlo Schmidts und Mom-mers. Die Niederländer mißtrauen den Belgiern. Also sagen alle: Kein Europa ohne England!

Noch ernster ist aber die ideologische Angst. Die europäischen Sozialisten haben Angst vor einem katholischen Block. Ostdeutschland, Skandinavien und Großbritannien drohen der Staatengemeinschaft fernzubleiben. Dazu kommt aber noch der Umstand, daß derzeit fast alle

Außenminister Europas konservative Staatsmänner sind. Eine Ausnahme machen nur die Außenminister der skandi-natischen Länder und der liberale Holländer Stikker, der aber völlig mit der Außenpolitik der konservativen Außenminister übereinstimmt. Ein katholischer Block, geführt von einer konservativen Außenpolitik, ist ein Schreckgespenst. Daher die Ablehnung des Antrages, der zunächst die Schaffung eines kontinentalen Europa nach den heutigen Möglichkeiten vorsieht. Aber auch diese Angst verbirgt sich hinter dem Rufe: Kein Europa ohne England!

Der Straßburger Europarat ist dem Schicksal vieler internationaler Staatengemeinschaftsorgane erlegen. Er erstickt in einem unübersehbaren Wust von Resolutionen, Motionen, Amendements, Vorschlägen, Kompromißvorschlägen usw. Zu jedem dieser Punkte spricht mindestens ein Vertreter von vierzehn Ländern. Daran schließt sich eine Diskussion an. Jede Begeisterung, jeder Idealismus, jeder Glaube erstickt unter der lähmenden Aneinanderreihung von Reden, die zu Dreiviertel immer das gleiche beinhalten und stundenlang dahingehen, wenn sie auch oftmals rhetorische Meisterleistungen sind.

Manche Resolutionen enthalten wertvolle Kompromißversuche. Darum hat sich besonders der ehemalige französische Minister Teitgen Verdienste erworben. Unter anderem schlug er vor, gemeinsame europäische Ministerien in Angelegenheiten zu gründen, die nicht umstritten sind, und so langsam den Boden für die Bereinigung der großen Probleme vorzubereiten. Aber das langsame Absinken in „non-essentials“, der fehlende Mut zur radikalen Entscheidung, die natürlich von Opfern und Verlusten begleitet sein muß, hat bereits dazu geführt, daß der Schwerpunkt der paneuropäischen Entwicklung sich zu anderen Institutionen zu verlagern scheint: zur OECE, zur Europäischen Zahlungsunion. Sehr wichtig scheinen die Vorschläge für eine. Zusammenarbeit der EPU mit dem Sterlingblock. Die Entscheidung über den Pleven-Plan wird nicht im Rahmen des Europarates getroffen.

Der Rücktritt Spaaks war wohl maßgeblich von der Überlegung geleitet, daß Straßburg zu einer sekundären Institution herabzusinken droht. Die Rede Spaaks nach seinem Rücktritt war ein Beispiel des Zusammenwirkens tiefster seelischer Ergriffenheit und Staatsmann ischer Weisheit. Er wendete sich gegen diejenigen, die die Haltung Englands als Ausrede benützen, um Europa zu sabotieren. Die Zurückweisungen der Außenminister durch kleinliche Erwägungen haben die Konsultativversammlung zu einem untauglichen Organ degradiert. Diese Ansicht Spaaks bezieht sich auf die kühle Aufnahme der Vorschläge van Zeelands. Belgiens Außenminister hat offenbar im Einverständnis mit England versucht, über den Kanal eine Brücke zu schlagen. Unter den vier Staatsmännern fand Degasperi Worte, aus denen die zweitausend Jahre alte Geschichte unseres Europa nachklang. Darauf hat der Sozialist Spaak hingewiesen, als er den Vertreter eines der ältesten und glorreichsten Länder unserer Kultur feierte.

Und nun wird es Kritiker geben — natürlich wie immer nur im eigenen Land —, die Österreich vorwerfen, daß es gerade in dieser Situation nach Straßburg ging. Abgesehen davon, daß die geschilderte Entwicklung zu Beginn der Tagung keineswegs so offenbar war wie am Ende, liegt die Bedeutung für Österreich zunächst auf anderer Basis. In Straßburg treffen einander Abgeordnete und Minister von vierzehn europäischen Staaten und behandeln dort, ob mit Erfolg oder nicht, gesamtösterreichische Probleme. Das bietet für österreichische Teilnehmer die Gelegenheit zu tiefem und gründlichem Einblick in europäische Belange. Dabei findet sich Gelegenheit, in zahllosen Gesprächen Aufklärungen über Österreich zu erteilen und auch auf persönlichem Wege viele Probleme einer Lösung zuzuführen. Die einstimmige Annahme der österreichischen Resolution im Politischen Ausschuß und Plenum der Konsultativversammlung war eine Stunde europäischer Vertrauenskundgebung für Österreich. Es sprachen die Delegierten der Niederlande, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Griechenlands und der Türkei. Vom Norden bis zum äußersten Süden unseres Kontinents wurde Österreich, .dem vornehmsten Beispiel von Mut und Tapferkeit, nach wie vor dem

Herzen Europas“, uneingeschränktes Vertrauen ausgesprochen. .Was dieses Volk im Kampf gegen Unterdrückung geleistet hat, ist ein europäisches Wunder.“ Man muß sich dabei vor Augen halten, daß sich die 125 Abgeordneten aus den verschiedensten europäischen Parteien zusammensetzen. Wie groß aber auch und wie ehrend die Kundgebung für Österreich war, sie' darf doch nicht unseren

Blick von den Realitäten ablenken. Dies aber heißt vor allem: Kein Problem des heutigen Österreich kann durch den Europarat gelöst, keine Gefahr durch ihn abgewendet werden. Wir müssen nach wie vor der Besonderheit unserer Lage Rechnung tragen. Der größte Beitrag, den wir bis jetzt und wohl auch noch auf längere Zeit hinaus Europa leisten, ist die Bewahrung der Einheit unseres Landes und seiner christlichen Kultur über die Erms bis zur österreichischen Grenze gegen Norden und Osten.

Europa ist im Laufe der Geschichte immer von neuem Gefahren ausgesetzt gewesen. Einmal waren es die Hunnen, dann die Sarmaten, die Petschenegen, die Rumänen, Awaren, Mongolen und Türken. Heute ist es die asiatische Despotie des Kommunismus. Jedes Jahr wird uns von irgendwo .das kritische Jahr der Entscheidung“ verkündet. Einmal war es 1950, jetzt hieß es 1952, andere sagen wieder 1954. Das alles ist Unsinn. Die derzeitige Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Europa und der aus dem Osten andrängenden Tyrannei ist der Inhalt und die Aufgabe des Jahrhunderts. Das Leben unserer Generation wenigstens wird damit erfüllt sein. Es werden sich daher auch die europäischen Staaten zu einem Staatenbund vereinen, vielleicht zunächst nur von einem Kern ausgehend. Ob Straßburg dabei die Führung behalten wird, ist fraglich und hängt von Straßburg selbst ab. Wenn es aber nicht dort ist, wird es woanders sein.

Doch darf man die Augen nicht davor verschließen, daß die Einigung Europas nur unter zwei Voraussetzungen möglich ist. Die europäischen Völker müssen bereit sein, nicht nur Opfer der Souveränität, sondern auch wirtschaftliche Opfer für diese Einigung zu bringen. Diese Opfer bleiben ihr nie erspart, denn wenn nicht für die europäische Staatengemeinschaft, so werden sie für irgendeine außereuropäische Großmacht gebracht werden.

Die zweite Voraussetzung aber ist die Abkehr von bloßen vernunftgemäßen Erwägungen, die immer wieder die Einzelheiten über das Ganze stellen werden. .Wir gehen an unserer Weisheit zugrunde.“ In dem schönsten Teil seiner Rede sprach Spaak von Jeanne d'Arc. Damals wurde Frankreich nicht durch die

Weisheit seiner Staatsmänner und Ratgeber gerettet. Die Rettung kam von der Begeisterung und dem demutsvollen Glauben einer einzigen idealen Kraft und der vielen einfachen gläubigen Menschen, die ihrem Rufe folgten.

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