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Nicht am Schreibtisch integrieren!

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Man kann vom rechten Wege auch dadurch abkommen, daß man zu lange auf dem geraden bleibt Verbindet man diese Erfahrung mit dem Bismarck'schen Grundsatz, daß Politik die Kunst des Möglichen sei, so bedeutet dies, angewandt auf unser Verhältnis zur europäischen Integration, daß wir prüfen müssen, ob die Voraussetzungen, von denen wir seinerzeit, also in den Nachkriegsjahren, ausgingen, heute noch die gleichen sind.

Rückschauend muß man zwei Dinge feststellen: trotz mancher Kritik und verständlicher Ungeduld war doch im Grunde das richtig, was man in den letzten fünfundzwanzig Jahren gemacht hat, schon allein deshalb, weil es das Mögliche war. Es war richtig, den Europarat zu gründen und, als sein Statut für engere Zusammenschlüsse als nicht geeignet empfunden wurde, die Europäischen Gemeinschaften zu gründen.

Die zweite Feststellung ist aber für diejenigen Staaten, die den Gemeinschaften nicht angehören, weniger positiv. Seit spätestens der Erweiterung der Gemeinschaften durch den Beitritt dreier Länder wird sie, sei es durch Maßnahmen der Organisation, sei es durch die koordinierten Beschlüsse der in ihr vertretenen Regierungen, unaufhaltsam und in immer stärkerem Ausmaß der wirtschaftliche und damit auch der politische Kristallisationspunkt des freien Europa. Natürlich haben die nicht in ihr vertretenen Staaten, wie beispielsweise die neutralen, ein großes politisches Eigengewicht, das auch ganz unabhängig vom Integrationsgeschehen gilt. Für die Stabilität und das Gleichgewicht in Europa, insbesondere in Mitteleuropa, sind die Neutralen unerläßlich, eine Funktion, die im übrigen von niemandem bezweifelt wird. Aber die Tatsache läßt sich nicht leugnen — und darin liegt eben die Veränderung gegenüber der Vergangenheit —, daß wir nicht in der Lage sind, das Geschehen in Brüssel zu beeinflussen.

Der Europarat galt in den letzten zehn Jahren, wenn nicht länger, als ein europäisches Forum ohne großen politischen Einfluß, vor allem nicht gegenüber den Gemeinschaften. Dieser Eindruck bestand zu unrecht. Der Europarat, durch die Vielfalt seiner Aktivitäten und als Treffpunkt von bereits Tausenden von Abgeordneten und Hunderten von Regierungsmitgliedern, übt nach wie vor einen vielleicht nicht immer klar sichtbaren, aber dennoch in der praktischen Substanz sehr großen Einfluß aus. Wie überall schätzt man auch hier Errungenes gering und sieht nur die

Dinge, die noch nicht erreicht sind. Besonders ist der Europarat dadurch wertvoll, daß er im Grunde ein politisches Forum ist. Die EFTA-Staaten haben ihre wirtschaftlichen Beziehungen zur Gemeinschaft durch Sonderarrangements geregelt. Aber politisch sind sie nur im Europarat vertreten. Letzten Endes ist es aber immer die Politik, die entscheidet, auch wenn es um wirtschaftliche Interessen geht.

Dabei werden die Dinge nicht irgendwann, sondern heuer und nächstes Jahr entschieden, wie man schon aus den Erklärungen sehr bedeutsamer europäischer Politiker, die selber kandidieren wollen, in der letzten Zeit entnehmen kann. Die Stellungnahme der britischen Regierung zu den Direktwahlen war wesentlich positiver, als man noch vor drei Monaten annahm. Nun könnte man die These vertreten, daß die Nichtmitgliedstaaten der Gemeinschaften, vor allem die Neutralen, ruhig abwarten sollen, um sich dann der neuen Situation anzupassen. Dem steht allerdings die Erfahrung entgegen, daß einem in der Politik niemand die Arbeit abnimmt. Wenn wir uns keine Gedanken machen, diskutable Vorschläge unterbreiten und uns rechtzeitig in die Verhandlungen einschalten, wird uns niemand nachlaufen und zum Schluß werden wir vor einem fait accompli, nämlich draußen stehen.

Die Beantwortung der Frage, was nun geschehen solle, wenn sich die Dinge noch weiter, daß heißt, ganz in den Gemeinschaften konzentrieren, insbesondere, wenn diesen noch mehrere Staaten in den nächsten drei Jahren beitreten, ist deshalb so schwierig, weil jede Veränderung mit Vertragsänderungen verbunden ist, obwohl die bestehenden Verträge neue Verhandlungen ermöglichen. Woraus die erste Schlußfolgerung ergeht, daß man versuchen soll, mit möglichst wenigen der in der Praxis sehr schwierig zu erreichenden Vertragsveränderungen auszukommen. Zweitens drängt sich die nüchterne Erkenntnis auf, daß jede Neuordnung derzeit nur eine provisorische

sein kann und man im Zuge ihrer s Anwendung in der Zukunft neue i Vorschläge zur weiteren Annäherung < wird ausarbeiten müssen. Drittens ] wird sicherlich jeder Vorschlag Dis- . kussionen auslösen, möglicherweise < su Gegenvorschlägen führen. Aber i das ist nur von Vorteil, soweit die i Diskussion von der aufrichtigen Ab- : sieht getragen ist, zu plausiblen LÖ- < sungen zu kommen. Vor einem Vorschlag muß man allerdings bereits : am Anfang warnen: nämlich zu einer Separatorganisation derjenigen i

Staaten zu kommen, die letzten Endes nicht bei den Gemeinschaften sein werden oder sein können. Einmal deshalb, weil ein Block der Neu- . tralen nicht durchführbar ist; es gibt zwar eine Identität des Neutralitätsrechtes, aber die Neutralitätspolitik der drei Neutralen ist jeweils verschieden. Zweitens und vor allem deshalb, weil damit auf keinen Fall ein Einfluß auf das Integrationsgeschehen gegeben wäre. Die Gefahr, Objekt zu werden, würde nur noch vergrößert sein.

Sicherlich wird es zunächst leichter sein, im parlamentarischen, als im institutionellen oder ministeriellen Bereich eine Lösung zu finden. Um so mehr, als es bereits zwei in die Praxis umgesetzte Denkmodelle gibt:

• Als Österreich und die Schweiz noch nicht Mitglieder des Europarates waren, wurde ihnen dennoch von dieser Organisation der Beobachterstatus in der Versammlung gewährt. Die Abgeordneten der beiden Länder konnten sowohl in der Versammlung sprechen als auch in den Kommissionen mitarbeiten, damit die politische Willensbildung beeinflussen und über alle Dinge informiert werden. Das einzige, was sie nicht hatten, war das Recht, abzustimmen.

• Die Abgeordneten Berlins haben im Bonner Parlament alle Rechte wie die übrigen Abgeordneten, nur kein Stimmrecht. Wenn aber eine solche Lösung beim Europarat möglich war, so muß sie auch beim Europaparlament möglich sein, insbesondere deshalb, weil die Europäischen Gemeinschaften als Ganzes zwar, wie gesagt, am politischen Einfluß zugenommen, aber ihren anfänglichen supra-nationalen Charakter in den letzten Jahren weitgehend vermindert haben, letzten Endes, weil die großen Staaten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, eine Souveränitätseinschränkung durch supranationale Institutionen nicht akzeptieren. Man könnte also an ein gemeinsames europäisches Parlament denken: ein Parlament für alle freien Europäer. In diesem Parlament wären allerdings zwei Gruppen von Abgeordneten: die eine, bestehend aus den Abgeordneten der Gemeinschaftsländer, die andere, eine assoziierte Gruppe, bestehend aus den Abgeordneten derjenigen europäischen Nichtgemeinschaftsländer, die mit der Gemeinschaft entweder Assoziationsverträge oder Arrangements haben. Es ist sicherlich unmöglich, daß die zweite Gruppe, die zwar im Plenum und in den Ausschüssen ihre Meinung kundtun kann, in denjenigen Belangen ein Abstimmungsrecht hat, die ausgesprochene Gemeinschaftsbelange sind, also vor allem alle Dinge der Wirtschaftsunion, Währungsfragen, Agrarprobleme, usw. Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß die Gemeinschaften, insbesondere die Kommission, mit allem einverstanden sind, nur nicht mit einem: daß der Fortschritt des Integrationsprozesses in den Gemeinschaften durch den Beitritt oder nur die Mitarbeit anderer europäischer Staaten vermindert, gehemmt oder herausgezögert wird. Anderseits könnte man sich aber vorstellen, daß bei gewissen Materien, die ihrer Natur nach gesamteuropäisch sind und nicht begrenzt auf den territorialen Bereich einer Wirtschaftsunion, das Abstimmungsrecht auch der zweiten Gruppe zusteht: zum Beispiel Kultur.

Eine solche Konstruktion, die am Anfang vielleicht kühner russchaut als sie in Wahrheit ist, würde einen Ansatzpunkt geben, ein noch viel

schwierigeres Problem zu lösen: lämlich das Weiterfunktionieren ;ines Ministerkomitees, in dem die ^ichtmitgliedstaaten vertreten sind. A.uf der Ebene der Ministerkomitees ine Lösung zu finden, die parallel iem skizzierten Vorschlag im parlamentarischen Bereich wäre, läßt sich, zumindestens derzeit, schwer vorstellen.

Aber man könnte folgende Überlegung anstellen: es war seit Jahren ein allerdings meist erfolgloses Bestreben des Europarates, Sitz des europäischen Integrationsgeschehens in all denjenigen Belangen zu bleiben, die eben nicht zum Aufbau einer Wirtschaftsunion und daraus letzten Endes schlußfolgernd einer Politischen Union notwendig sind: eben Kultur und alle diese Agenden, die oben aufgezählt sind. Wir haben uns auch ständig bemüht, zu einer Ausweitung dieser Aktivitäten zu kommen — wozu auch der soziale Bereich gehört — ohne allerdings auf viel Verständnis zu stoßen. Wenn aber in einem gemeinsamen Europäischen Parlament alle Abgeordneten, damit auch diejenigen aus den Nicht-mitgliedsländern der Gemeinschaften, bei Empfehlungen zu diesen „gesamteuropäischen“ Materien mitabstimmen, so könnten diese an ein Ministerkomitee weitergeleitet werden, das dem derzeitigen Ministerkomitee des Europarates entspricht, also einem solchen, in dem die Außenminister sowohl der Nichtmitgliedstaaten als auch der Mitgliedstaaten der Gemeinschaften vertreten sind. Dieses Ministerkomitee müßte im unmittelbaren Anschluß an den Ministerrat der Gemeinschaften tagen.

Diese Vorschläge werden für die einen zu weit gehen, für die anderen zu wenig weit. Zu den ersteren muß man betonen, daß das Europaparlament auf absehbare Zeit keine Institution ist, die ihren Mitgliedern mit Mehrheitsbildung eine Politik aufzwingen kann, schon gar nicht Staaten, die mit Abgeordneten vertreten werden, die nur einen assoziierten Status haben. Durch die vorgeschlagenen Veränderungen werden weder die bestehenden Ubereinkommen der einzelnen EFTA-Staaten mit den Gemeinschaften geändert, noch irgendwelche größeren Einflußmöglichkeiten der Gemeinschaft auf diese Länder geschaffen. Das einzige, was geschieht, ist, daß für uns ein Vakuum vermieden wird und daß wir in dem parlamentarischen Gremium, in dem nun die wichtigsten europäischen Politiker vertreten sein werden, ein Mitspracherecht und einen ständigen Kontakt besitzen. Für die zweite Gruppe, also diejenigen, die sagen, man gehe zu wenig weit, muß man betonen, daß durch eine Neukonstruktion unsere immerwährende Neutralität auf keinen Fall berührt werden darf. Würde dies geschehen, so würden wir auch einen Widerspruch von seiten westlicher Staaten hervorrufen.

Was jedoch neu ist, ist die Ausdehnung der Idee der Direktwahlen auf ein Land wie Österreich. Wenn es möglich ist, die einzelnen Probleme der Direktwahlen (Wahlkreise, fakultative Bindung an ein nationales Mandat, Anzahl der Abgeordneten, usw.) bei den übrigen europäischen Staaten zu lösen, so *nuß das auch in Österreich der Fall sein, vorausgesetzt, daß man daraus keinen innerpolitischen Streit macht und die drei Parteien im Interesse unseres Landes und Europas gemeinsam vorgehen. Die Grundidee der Direktwahlen ist ja ein neuer Integrationsimpuls aus den europäischen Völkern. Die Europäer sollen endlich ihr Parlament haben, in dem sie direkt, ohne Umwege über ihre Regierungen und ihre nationalen Parlamente vertreten sind. Daraus wird dann das kommen, was wir im Zuge der so mühsamen Kleinarbeit in der letzten zwanzig Jahren verloren haben, nämlich die Kraftquelle aus den europäischen Völkern und ihrem wieder erwachten Interesse. Mar kann nicht nur am Schreibtisch integrieren.

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