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Weichenstellung für ganz Europa

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Österreichs Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität hat zur Folge, daß das Herzland Europas bei den in diesem Jahr stattfindenden Europawahlen nur zuschauen kann. Was es mit diesen Europawahlen auf sich hat, versuchte ein von der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU gemeinsam mit dem Europäischen Kartellverband in Tegernsee veranstalte-tes Seminar zu ergründen.

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Österreichs Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität hat zur Folge, daß das Herzland Europas bei den in diesem Jahr stattfindenden Europawahlen nur zuschauen kann. Was es mit diesen Europawahlen auf sich hat, versuchte ein von der Hanns-Seidel-Stiftung der CSU gemeinsam mit dem Europäischen Kartellverband in Tegernsee veranstalte-tes Seminar zu ergründen.

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Am 10. Juni ist in Österreich für rund zwei Millionen Arbeitnehmer der erste Tag der Arbeiterkammerwahlen. Auch in den neun europäischen Staaten, die der Europäischen Gemeinschaft angehören, wird an diesem 10. Juni gewählt: das Europa-Parlament. Dieser Wahlgang hat für Österreich zunächst überhaupt keine Auswirkungen. Für Europa dagegen hat er eine zumindest zweifache Bedeutung. Zum einen ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen politischen Europa. Zum anderen wird man an den Ergebnissen ablesen können, wie es denn nun um die parteipolitische Landschaft in den neuen EG-Ländern wirklich bestellt ist.

Was am 10. Juni versucht wird, nämlich der Schritt zu einem politisch vereinten Europa, das praktizieren die Menschen in Westeuropa schon seit Jahren und Jahrzehnten. Zu den Ferienzeiten ergießen sich Ströme von Urlaubern über die nationalen Grenzen hinweg in die verschiedenen Feriengebiete. Weniger bemerkt von der breiten Öffentlichkeit, hat sich aber auf technischem, wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet die Kooperation zwischen den europäischen Staaten in einem nahezu atemberaubenden Tempo vollzogen.

Aber die Extratouren der Franzosen und Engländer haben auch tausende Zeitungsseiten gefüllt. In allen Ländern, in allen Sparten-trifft man auf Europaegoisten. Viele sehen oft nur ihren eigenen Schrebergarten und nicht die Entwicklung, die sich jenseits des Zaunes abspielt. Daß Westeuropa aber immerhin schon so

„Was am 10. Juni versucht wird, nämlich der Schritt zu einem politisch vereinten Europa, das praktizieren die Menschen in Westeuropa schon seit Jahrzehnten“

weit ist, verdankt es einem gemeinsamen Feind. Otto Habsburg, ein Kandidat der CSU für die Europawahlen, spricht davon, daß sich Josef Stalin echte Verdienste um Europa erworben habe: „Hätte man im Westen nicht eine solche Todesangst vor dem Kommunismus gehabt, wäre es wahrscheinlich gar nicht zu diesem Einigungsbestreben gekommen.“

Das Lamentieren ist nicht nur eine Wesenseigenschaft des Wieners. Man trifft sie fast bei allen Europäern. Fällt in einer Diskussion das Wort Europa, so spricht man nicht von dem, was alles schon gemeinsam geht, sondern eigentlich immer vor allem von dem, was nicht geht in Europa. Noch ehe das erste freigewählte Europäische Parlament sich konstituiert, hört man Land auf, Land ab eine stereotype Formel: Es sei unbedeutend, weil es keine Zuständigkeiten habe!

Die Europapolitiker in der CDU/CSU sind dagegen anderer Meinung: „Die Geschichte des Parlamentarismus zeigt, daß immer zuerst ein Parlament entsteht und dieses sich dann im Laufe der Zeit seine Zuständigkeiten erkämpft.“ Bundestagsabgeordneter Heinrich Aigner dazu selbstbewußt: „Wenn ich den Schritt zur politischen Union will,

dann brauche ich die Institution, die die Voraussetzungen schafft. Sonst wird nämlich Europa nur noch von einem Beamtenäpparat regiert.“ Diese Meinung hat sicher einiges für sich. Denn schon heute hat das „Europa der Neun“ mit einem Problem zu kämpfen: dem Bürokratismus.

Der europäische Beamtenapparat hat in den letzten Jahren eine Eigendynamik entwickelt, die kaum noch überschaubar, geschweige denn kontrollierbar ist. Die Kontrolle dieses Beamtenapparates, mehr noch die Neufunktionierung der europäischen Kommission in Brüssel wird eine Zentralaufgabe für dieses neugewählte Europäische Parlament sein. Und es wird seine erste große Bewährungsprobe.

In diesem Europäischen Parlament werden 410 direkt gewählte Abgeordnete sitzen und sie werden insgesamt fünf parteipolitischen Lagern zuzurechnen sein. Erstens- den Kommunisten, die möglicherweise eine Volksfrontgruppierung suchen werden. Zweitens den Sozialisten, die schon seit geraumer Zeit mit dem Wahlkampf für die Europawahlen begonnen haben. Drittens den Liberalen, von denen man glaubt, daß sie in Brüssel - im Gegensatz zu Bonn -

keine sozialistisch-liberale Koalition anstreben. Viertens den christlichen Demokraten und Konservativen, denen an sich gute Chancen eingeräumt werden. Zusammen mit den Liberalen müßten sie theoretisch auf über 50 Prozent der Stimmen kommen. Fünftens der europäischen Rechten, die allerdings nur aus kleinen Splittergruppen besteht.

Wenn dieses Europaparlament auch nur für die neun EG-Staaten zuständig ist, so meinen alle Europaexperten, daß es Weichenstellungen bringen wird, an denen auch jene Staaten, die die Europawahlen zunächst nur aus der Loge beobachten, nicht vorübergehen können.

Eines dieser zentralen europäischen Probleme ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Derzeit drängen sich jährlich in Westeuropa eine bis eineinhalb Millionen neue Arbeitssuchende auf dem Arbeitsmarkt. Bis 1985 wird es insgesamt um sieben Millionen Erwerbstätige mehr geben als heute. Die Arbeitsplätze für diese Millionen müssen erst geschaffen werden.

Dazu kommen schwere Belastungen für die gesamte europäische Wirtschaft, die sich aus den Veränderungen im Weltwirtschaftsgefüge er-

geben. Die Entwicklungsländer stoßen immer stärker in gewisse einfache Fertigungsbereiche vor, in denen sie der europäischen Produktion kostenmäßig haushoch überlegen sind. Das Resultat: in Europa wird man die Produktion auf diesen Gebieten drosseln, hunderttausend Arbeitsplätze werden verlorengehen.

Allein in Bayern werden es in den nächsten Jahren 250.000 Arbeitsplätze sein. Auch Österreich wird von dieser Entwicklung nicht verschont. Wenn nicht auf dem Sektor der Arbeitszeit und der Arbeitsorganisation entscheidende Maßnahmen ergriffen werden, so werden bis zum Jahre 1982 für Österreich 270.000 Arbeitslose oder 8,2 Prozent vorausgesagt.

Für Ministerialrat Ludwig Kippes vom bayrischen Arbeitsministerium bedarf es einer konzentrierten europäischen Arbeitsmarktpolitik. Die Schwerpunkte:

• Ankurbelung des Wirtschaftswachstums,

• beschäftigungsrelevante Sozial-und Bildungspolitik.

Konkret heißt dies unter anderem, das Arbeitsvolumen zu verkürzen. Dies kann durch eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit geschehen, also durch die 35-Stunden-Wo-

che, durch eine Verlängerung des Urlaubs und durch den verstärkten Einsatz des Bildungsurlaubs. Gegen die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit sind vor allem die Arbeitsmediziner. Sie fürchten bei einer 4-Tage-Woche nach einem dreitägigen Wochenende den „Schock am Montag“. Daher gibt es eine klare Präferenz zur Urlaubsverlängerung.

Konkret heißt dies weiters Verlängerung der Schulpflicht und Verbesserung der Berufsausbildung, um jugendliche Arbeitnehmer länger im Schulgetriebe halten zu können. Konkret heißt dies aber auch, daß man neue Pensionsregelungen anpeilt und auch über die Rolle der Frau am Arbeitsmarkt reden wird.

Es sind dies zweifellos alles Fragen, die in der Öffentlichkeit zu heftigen und emotionalen Diskussionen führen werden. Auch in Österreich. Aber auch das ist eine europäische Realität: Was man heute schon in Deutschland diskutiert, wird morgen im Europa der Neun diskutiert werden und übermorgen auch in jenen Staaten, die nicht dazugehören.

Die Arbeitsmarktprobleme in Europa werden letztlich nur gemeinsam gelöst werden können. Daß dies schwierig sein wird, steht außer Zweifel. Denn wenn nun nach dem

„Was man heute schon in Deutschland diskutiert, wird morgen im Europa der Neun und übermorgen auch in jenen Staaten diskutiert werden, die nicht dazugehören“

10. Juni Europa auch politisch mehr zusammenrückt - die neun Länder lassen sich nicht über einen Leisten schlagen. Vergleicht man etwa das Brutto-Sozialprodukt von Kalabrien mit jenem des Rhein-Main-Gebietes, so ergibt sich ein Verhältnis von 1:5.

Ein Problem, das den Europapolitikern zunehmend zu schaffen macht, ist das Agieren der sozialistisch dominierten Gewerkschaften. In Deutschland spielt hier sicher noch der jüngste Metallarbeiterstreik hinein, wenn Regierungsdirektor Wellner etwa meint: „Als was Verstehen sich die europäischen Gewerkschaften? Sind sie eine soziale Reformbewegung oder eine syndikali-sierte Bewegung zur Erringung von Funktionärsmacht, die Einfluß auf die Betriebe ebenso wie auf Wirtschaft und Politik haben will?“

Als Beispiel zitiert der bayrische Spitzenbeamte die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand. Sollte es etwa in Deutschland zu der von den sozialistischen Gewerkschaftern verlangten Fondslösung kommen, so würde dieser Fonds innerhalb von zehn Jahren über Mittel in der Höhe von 70 Milliarden DM verfügen. Wellner: „Damit könnten die Gewerkschaften die Wirtschaftspolitik so beeinflussen, daß autonome Entscheidungen der Regierung und der Länder nicht mehr möglich sind.“

Seine Schlußfolgerung ist denn auch, daß der Eurosyndikalismus der Gewerkschaften gefährlicher als der Eurokommunismus sei. CDU und CSU wollen daher schon im Europawahlkampf die sozialistischen Gewerkschaften aufs Korn nehmen.

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