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Integration vom Jahre 800 bzs übermorgen

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Die Verfechter eines Vereinten Europas sollten mehr auf die Staatsideen und Hintergründe der Völker Bedacht nehmen, denn es werde lange dauern, bis „Europa erreicht “ sei. Die Gründe, warum es noch kein geeinigtes Europa gibt, lägen viel tiefer als politische Interessen oder Vorurteile, und die Materie sei viel zu komplex, als daß man Europa „durch Umarmungen machen“ könne.

Das war der Grundtenor des Referates, das der Bundesminister a. D. und langjährige Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Prof. Carlo Schmid (SPD) auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und Internationale Beziehungen in Wien hielt. Man werde Politik für und sogar auch gegeneinander machen müssen, wenn jemand falsch agiert, und es werde ein „schwieriges und langwieriges Geschäft“ werden, bis man am Ziel angelangt sei.

Die von leichtem Pessimismus oder eher von einem nicht euphorischen Realismus gekennzeichneten Worte aus dem Munde eines seit vielen Jahren sehr aktiven Koordinators der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu hören, stimmt im Hinblick auf die doch näherrückenden Europawah len nachdenklich. Ist es nicht sein Parteikollege Brandt, der die Bedeutung eines zu stärkenden europäischen Parlaments früh erkannt und sich zum Spitzenkandidaten der Sozialisten profiliert hat? Diese arbeiten seit längerem zäh und geschlossen unter dem gemeinsamen Symbol der Faust mit der roten Rose (schon jetzt eine künftige Zusammenarbeit kennzeichnend), hoffen sie doch, möglichst schnell, und gemeinsam mit den Kommunisten, eine Europa-Mehrheit erringen zu können.

Aber nun zurück zur Geschichte. Obwohl Westeuropa - global-geographisch gesehen - nur das Kap einer Halbinsel Asiens ist, ging doch alles, was auf der Welt politisch geschehen ist, von Europa aus, dem „lateinischgriechischen Europa, dessen größter Teil der Geschicht -vom Christentum geprägt und dessen Ideen an humanistischen Gymnasien und Universitäten tradiert“ wurden, und wirkte auf Europa zurück.

Prof. Schmid betonte bei seinem umfassenden historischen Rückblick, daß es einige Mißdeutungen zu beseitigen gäbe. Der Beginn Europas wurde zu Weihnachten 800 gelegt, als Papst Leo III., jenem Karl, den man den Großen nennt“, die römische Kaiserkrone auf den Kopf setzte. Karl war weder „Kaiser der Deutschen“ noch „Kaiser der Franzosen“; die Formel leutete „Ro- manum gubernans imperium“, wobei die Bezeichnung „römisch“ nicht etwa deklarative Bedeutung hatte, sondern die Feststellung der Heilsnotwendigkeit des Römischen Reiches (bei dessen Untergang das Weitende kommen werde) enthielt. Das Sacrum Imperium war nie ein „Deutsches Reich“, hatte nie einen „Deutschen Kaiser“; die Deutschen waren ein Teil des Reiches wie die Italiener, die Holländer, die Burgunder, die Böhmen und viele andere mehr. Die Deutschen hatten lediglich den Anspruch auf die Kaiserwürde.

Schon bald trennten sich die Auffassungen über die Staatsgewalt. Während man in Österreich und Deutschland der Anschauung war, das „Schwert“ müsse durch etwas legitimiert sein, das über dem Staat stehe, gingen die anderen (künftigen) europäischen Partner von einer unterschiedlichen Vorstellung aus.

Nach dem Inverstiturstreit und der damit verbundenen Entsakralisierung des Reiches wurde der Papst quasi als Hofkaplan nach Avignon geholt und Ludwig XIV. erklärte später: „le roi gouveme par lui mėme.“ Rousseau betonte die durch Zentralismus gekennzeichnete Volkssouveränität, was dazu führte, daß sich auch heute Frankreich als „unefinalitė en elle-mėme“ versteht. Deshalb sei für die Franzosen ein Vereintes Europa keine moralische Notwendigkeit, während es für die Deutschen eine Steigerung der Menschlichkeit aller Beteiligten darstelle.

Man werde sich in der Zukunft mit dem Fühlen der anderen Völker abfinden müssen und die Zielvorstellung nicht ohne die großen Machtblöcke der Welt, die beide nicht eben wohlwollend auf Europas Einigungsbestrebungen blicken, realisieren können. Wirtschaftlich gesehen, werden aber nicht nur „Autos so bülig wie in den US produziert werden können, weil es 250 Millionen Abnehmer gibt“, sondern es müßten auch die Nicht-Europäer verstehen, daß ein Vereintes Europa zu ihrem eigenen Nutzen sein werde.

Als Nahziele auf dem Weg, von dem man nach Prof. Schmid einmal sagen wird, er sei wichtiger gewesen als das Ziel, nannte er das Abgehen vom Einstimmigkeitsprinzip zur qualifizierten Mehrheit, die Volkswahl und die entsprechenden Kompetenzen (Budgethoheit, Tagesordnungsselbstbestimmung) des Europäischen Parlaments.

Als Detail am Rande sei vermerkt, daß der SPD-Politiker kein gutes Haar an den Amerikanern lassen wollte. Sie hätten „europäisch klingende und voreuropäisch wirkende“ Organisationen (wie die Montan-Union) unterstützt und die „Europäisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg“ betrieben, um „Ungezogenheiten“ zu vermeiden, nämlich, daß Waffen „für diejenigen verwendet werden können, gegen die sie geschärft worden waren“.

Und nicht nur dabei fiel dem kritischen Zuhörer auf, daß es bei Europa nur um Westeuropa und bei der „Europäisierung“ lediglich um eine NATO- Einbeziehung ging. Ohne auf Österreich eingehen zu wollen, an dessen Mitarbeit ja die EG-Länder im Sinne eines zweistufigen Denkens (der wirtschaftliche vom staatlich-militärischen Bereich getrennt) sehr interessiert sind, fehlte die Behandlung jenes Teiles Europas, der sich nach einer föderalistisch-demokratischen Einigung Europas seit Jahren anscheinend ohne jeglichen Hoffnungsschimmer auf Realisierung sehnt. Diese Länder hinter dem Eisernen Vorhang wären doch einiger Worte wert gewesen - oder verstößt auch das schon gegen das Entspannungskonzept? Die Menschen drüben hätten zumindest eine Erwähnung verdient; sie hätten es Prof. Schmid gedankt.

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