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Europa wird christlich sein - oder es wird nicht Europa sein

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„Europa wird sozialistisch sein - oder es wird nicht sein!“ Steht uns bevor, was Frankreichs Sozialistenführer Mitterand prophezeit hat? „Europa wird christlich sein - oder es wird nicht sein!“ stellten Bischöfe und Politiker aus ganz Europa am Wochenende in der alten Basilika von Ottobeuren im bayrischen Schwaben jener Voraussage entgegen. Denn ein Europa, das nicht auf den Werten des christlichen Abendlandes aufbaute, wäre nicht mehr Europa, auch wenn es den Kontinent politisch umfaßte.

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„Europa wird sozialistisch sein - oder es wird nicht sein!“ Steht uns bevor, was Frankreichs Sozialistenführer Mitterand prophezeit hat? „Europa wird christlich sein - oder es wird nicht sein!“ stellten Bischöfe und Politiker aus ganz Europa am Wochenende in der alten Basilika von Ottobeuren im bayrischen Schwaben jener Voraussage entgegen. Denn ein Europa, das nicht auf den Werten des christlichen Abendlandes aufbaute, wäre nicht mehr Europa, auch wenn es den Kontinent politisch umfaßte.

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„Warum immer nur .gegen etwas* demonstrieren? Demonstrieren wir doch für das, was wir wollen!“ forderte Helmut Kohl die 5000 Menschen auf, die auf den Ruf des Augsburger Bischofs Josef Stimpfle in die Benedikti- nerabtei gekommen waren. Kardinal König hatte im Frühjahr in Köln den ersten Anstoß zur Mobilisierung der Kirche zugunsten eines geeinten Europas gegeben, als er beim Festgottesdienst zu Ehren der Kardinale Frings und Höffer im Kölner Dom betont hatte: „Heute geht es nicht nur klar um die religiöse Sendung der Kirche in dem einen oder andern Land, sondern um die religiöse Sendung der Kirche für ganz Europa, unsere gemeinsame Heimat. Der Rahmen für dieses Europa ist gezimmert. Jetzt wird es darauf ankommen, mit welchem Inhalt er erfüllt wird, welchen Dienst die Kirche hier leisten kann und soll! Die Kirchen wollen in dieser Stunde den Völkern des Erdteils zurufen: .Vergeßt euren Vorsprung nicht!“ “ Bischof Stimpfle griff die Forderung nach Aktion auf - die Wahlen zum Europaparlament im kommenden Jahr lassen kein Zögern mehr zu.

„Europa jetzt einen“ leuchtete als Forderung unter den zwölf Sternen der Europafahne, um das Kreuz geschart, von der Seitenwand der Barockbasilika. Grußbotschaften, Statements, Referate, Predigten - sie setzten Steinchen für Steinchen in das Mosaik jenes Europa, wie es aus diesen erneuerten Einigungsbemühungen entstehen, wiederbelebt werden soll Denn Europa als Einheit ist in viel mehr Teilbereichen längst vorhanden, als es so manchem bewußt wird. Auch wenn es so viele Anzeichen dafür gibt, daß wieder zu zerfallen droht, was in den vergangenen Jahrzehnten erreicht worden ist.

Dieses Europa muß aufbauen auf den Grundwerten, für die das Evangelium die Basis bietet:

1 Die Respektierung der Würde dės Menschen in seiner Eigenschaft als Geschöpf Gottes,

• die Respektierung des Rechtes auf Leben,

• die Respektierung der persönlichen Freiheit,

• die Solidarität als Ausdruck der Gerechtigkeit,

• die Liebe für den Mitmenschen und der Respekt vor dem andern,

• die Harmonie zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Mensch und Gott.

Diese Grundwerte müssen die Basis für die politischen Grundsätze bieten, nach denen dieses Europa aufgebaut werden soll - Toleranz, Pluralität, Subsidiarität. Einheit in der Vielfalt - Vielfalt in der Einheit.

Denn so ist Europa seit mehr als 2000 Jahren zum Begriff geworden. Nicht allein das Christentum hat Europa zu dem gemacht - schon vor ihm waren die griechischen und römischen Elemente vorhanden, mit dem Christentum kamen die jüdischen hinzu. Sie alle sind aus der Identität Europas nicht wegzudenken, die Kardinal Giovanni Benelli aus Florenz in seinem Schlußreferat als Voraussetzung für das Gelingen des Einigungswerks bezeichnete. Diese Identität muß allen bewußt werden, die dieses Europa wollen - das christliche Europa muß wissen, wo seine Wurzeln sind.

Dieses Europa kann nicht beschränkt sein auf die Sechs der Urinitiativen der fünfziger Jahre in Montanunion und Euratom, auch nicht auf die Neun, die inzwischen zur Europäischen Gemeinschaft geworden: sind. Franz Josef Strauß warnte vor der Illusion zu glauben, aus der wirtschaftlichen Einigung allein werde automatisch auch die politische erwachsen. Gerade weil in den letzten

Jahren die Erkenntnis vernachlässigt wurde, daß es notwendig sei, gemeinsame Grundwerte anzuerkennen und auch zu verwirklichen, sind auch die wirtschaftlichen Einigungsbemühungen immer mehr versandet und machen wieder einem gefährlichen Na- tional-Egoismus der einzelnen Staaten Platz. „In dieser europäischen Völkergemeinschaft gibt es Stärkere und Schwächere, Bessere und Geringere“, sagte Kai Uwe von Hassel, „und gerade die schwächeren Glieder sind besonders wichtig.“ Auch wenn der aktuelle Anlaß der bevorstehenden Wahlen nur die EG-Länder berührt.

Dieses Europa ist aber auch nicht auf die Länder des Europarates zu beschränken, auf die Staaten, die heute das Glück haben, in einem freiheitlichen Gesellschaftssystem zu leben. Hollands neuer Außenminister wares, der an die Mauer in Berlin erinnerte - nicht einer der Deutschen. Diese Mauer gehe nicht nur Deutschland etwas an - sie sei ein europäisches Problem, betonte er.

Von den Fahnenmasten wehten nicht nur die Farben der freien Länder. Bewußt waren alle aufgezogen, die europäische Völker repräsentieren. Nicht im Sinne einer Kreuzzugsideologie. Niemand denkt an gewalt-

same Veränderungen. Aber Europa wäre nicht Europa, schlösse es aus seinen geistigen Einigungsbemühungen Polen und Rumänen, Russen und Ungarn, Tschechen und Jugoslawen aus. Einzelne Priesterdelegationen aus Oststaaten waren der Einladung aus Augsburg gefolgt, anderen war die Ausreise verweigert worden. Und im Namen aller jener Menschen des europäischen Ostens, die in diesen Jahrzehnten ihre Heimat verlassen mußten, rief der weißhaarige Erzbischof Philoteos der russisch-orthodoxen (Exil-)Kirche im Ausland: „Vergeßt die verfolgte Kirche nicht!“

Denn dieses christliche Europa wird auch kein Europa der Katholiken allein sein, wenn auch mit Adenauer, Schumann und Degasperi drei Katholiken zu seinen ersten Pionieren gehörten. Der Protestant von Hassel zitierte ein Wort des evangelischen Bischofs Kunst: „Das Kreuz über Europa ist das Zeichen, in dem allein es leben kann. Entweicht Europa dem Kreuz, dann hört es auf, Europa zu sein!“ So saßen auch die Vertreter von Anglikanern und Lutheranern, Altkatholiken und Orthodoxen dabei, als Kardinal Benelli gemeinsam mit Kardinal Schroffer und einem Dutzend weiterer Bischöfe das Pontifikalamt zelebrierte.

Dieses Europa wird aber nur dann errichtet werden können, wenn es nicht nur politisch aufgebaut, in einer Vielzahl von Zentralstellen administriert wird, sondern wenn es von Mil-

lionen Gläubigen erbetet, wenn es von der Basis her errichtet wird.

So galt der erste Gruß des Bischofs bei der Eröffnung Christus. So versammelten sich Delegationen und Bischöfe und viele Teilnehmer während der Gebetsnacht vor dem ausgesetzten Allerheiligsten in der Basilika und beteten für die Einigungsbemühungen und für die Opfer des Terrorismus, für den Papst, der in diesen Tagen seinen 80. Geburtstag feiern würde, ,für die verfolgte Kirche und die Einheit der Christen, für die Verantwortung Europas für die Welt und für den Frieden.

Dieses Europa geht jeden an, der sich als Christ, als Europäer fühlt Es wird nicht von den Politikern allein geschaffen werden können. Bischof Stimpfle zog die Konsequenz aus seinem Entschluß, zu dieser Kundgebung nach Ottobeuren einzuladen: Die Diözese Augsburg will selbst zeigen, was sie zur Verwirklichung der gemeinsamen Aufgabe beitragen kann. Das Arb'eitsprogramm des beginnenden Arbeitsjahres steht im Zeichen der zwölf Sterne der Europafahne, im Zeichen des Slogans „Europa jetzt einen!“ Das Wichtigste wird sein, zur Bewußtseinsbildung beizutragen, führte er aus. Den Glauben zu leben, der Wahrheit und der Liebe dienen, nicht dem Zeitgeistverfallen, der diese Werte nicht mehr anerkennen will Und nicht zuletzt: christliche Heiterkeit in eine verängstigte Gesellschaft einbringen!

Darauf soll dann das konkrete Programm aufbauen: In allen kirchlichen Gremien, von der Diözese bis zur Pfarre herunter, sollen „Europa-Beauftragte“ bestimmt werden, die dafür sorgen sollen, daß einschlägige Initiativen gesetzt werden. Die kirchlichen Organisationen werden sich vor allem dem Europa-Thema widmen, das „Rupertusjahr 1978“ wird Gelegenheit zu Symposien und Veranstaltungen geben, die Katholische Akademie der Diözese wird ihr Programm auf das Ziel ausrichten. Die ökumenische Kommission wird das Gespräch mit den andern Konfessionen intensivieren. Und immer wieder: Das Gebet für Europa.

Ottobeuren 1977. Hier am Lechfeld besiegte Otto der Große 955 die heidnischen Ungarn und stoppte damit ihren Vormarsch in das Herz Europas. In Augsburg wurde 1530 die neue Lehre der Lutheraner formuliert, damals Dokument der Trennung, heute bereits wieder in versöhnlicherem Licht betrachtet. In Augsburg wurde 25 Jahre später der Religionsfriede imte rzeichnet.

Diesmal stand Ottobeuren nicht nur im Zeichen des Optimismus für das kommende Europa, sondern auch im Schatten der allgemeinen Lage in der Bundesrepublik. Dichter Kordon von Polizei, maschinenpistolenbewehrte Wachen vor dem Rednerpult - und immer wieder, in der Gebetsnacht wie bei den Fürbitten, die Gebete für die Opfer des Terrors, für den entführten Präsidenten Schleyer, aber auch für die Terroristen selbst, daß sie das Unheil ihres Handelns einsehen möchten.

Bischof Stimpfle erinnerte zum Schluß daran, daß Robert Schumann Jahre vor dem Ersten Weltkrieg bei einem Besuch in der Abtei Maria Laach in der Eifel die ersten Eindrücke gewonnen hatte, aus denen er ein halbes Jahrhundert später zu einem der Vorkämpfer des einen, christlichen Europa werden sollte. Dazwischen aber lagen zwei Weltkriege. Könnte Ottobeuren den Wendepunkt anzeigen, mit dem nach den Jahren der Resignation und der Unruhe ein neuer Aufbruch nach Europa einsetzt?

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