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Soziale Erneuerung und Vereinigung Europas

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Erhebend, aber konfus“ nannte A. P. Ryans in seinem im „Osservatore Romano“ erschienenen Artikel * das Bild der Tätigkeit des Europarates in Straßburg. So treffend diese Charakteristik auch sein mag, so zeigen doch die Formulierungen Ryans' sehr deutlich die typische Haltung des Briten gegenüber dem großen Fragenkomplex einer intensiveren europäischen Zusammenarbeit: skeptische, vorsichtige Bejahung. Es liegt in der Natur geschichtlicher und geopoli-tischer Gegebenheiten, daß wir Kontinentalen diesen Dingen so ganz anders gegenüberstehen. Was der führenden Macht des Commonwealth eine rein politische Frage und als solche eine Mischung unabsehbarer Möglichkeiten und aktueller Verlegenheiten bedeutet, ist uns in der überhitzten Atmosphäre des Weltgeschehens zu einer Lebensfrage geworden. Allen Unzulänglichkeiten provisorischer Ansätze zum Trotz bricht sich in den Herzen der Völker Europas die Uberzeugung Bahn, daß wir nur in und mit einem einigen Europa die großen Fragen der Neugestaltung des Zusammenlebens der Menschen beantworten können.

Das Verlangen nach einer Vereinigung Europas und nach sozialer Neuordnung, das in unterschiedlicher Stärke, aber doch deutlich fühlbar die Völker unseres Raumes bewegt, ist Ausdruck der einen Sehnsucht, endlich wieder einmal in einer großen, festgefügten, Wohlstand, Sicherheit und Freiheit bietenden machtvollen Gemeinschaft zu leben. Es mag möglich sein, die Neuordnung unseres Zusammenlebens in einem noch zerspaltenen Europa zu beginnen, es ist aber undenkbar, daß der Bau eines einigen Europas gelänge, wenn das Gefüge der Bausteine, wenn die Beziehungen der Menschen zueinander nicht grundlegend neu gestaltet werden. Soziale Neuordnung ist die unerläßliche Vorbedingung der Vereinigung Europas.

Indem ich dies sage, verwende ich das Wort „soziale Ordnung“ in seinem weitesten Sinne, als Gemeinschaftsordnung, als Ordnung der Gemeinschaft, in der wir leben, in ihrer Einheit und Ganzheit. Gemeinschaft ist nicht etwa bloß eine technisch-organisatorische, sondern ihrem Wesen nach eine geistige Einheit. Sie ist zutiefst in der Gemeinsamkeit des Weltbildes und der Lebensauffassung begründet; denn nur aus einer solchen Gemeinsamkeit der Auffassung vom Wesen des Menschen und menschlicher Vergemeinschaftung aus der Einheit des Weltbildes folgt die Einheit und innere Geschlossenheit von Wille und Tat.

Die Zerspaltung Europas in eine Vielzahl von Weltanschauungen, die in wesentlichen Fragen durchaus gegensätzlicher Anschauungen sind, ist ein ernstes Hindernis seiner Vereinigung. Wenn auch dieses Europa nie uniform, sondern immer mannigfaltig in der Einheit sein wird, so kann dieser Bau doch nur errichtet werden, wenn allen seinen Teilen einige wesentliche Baugedanken gemeinsam sind. Wir werden diese Baugedanken in der Rückbesinnung auf die essentiellen Grundlagen der europäischen Kultur, auf jene moralischen Impulse finden, die auch die mannigfaltigen Ver-irrungen des europäischen Geistes in ihrem Grund nicht verleugnen können.

Wir stehen vor einer doppelten Auf-.gabe:

Den europäischen Großraum zu schaffen und die industrielle Revolution, die seit mehr als zwei Jahrhunderten die zivilisierte Menschheit in ihrer geistigen und materiellen Grundlage erbeben läßt, ihrem Höhepunkt zuzuführen. Dieser Höhepunkt ist die Schaffung der einer hoch industrialisierten Wirtschaft gemäßen Ge-meinschftsordnung.

Diese Aufgabe greift weit über die Grenzen unseres Raumes hinaus. Noch ist es so, daß die Menschheit leidet, weil' Europa krankt, weil es ein Machtvakuum und eine geistige Ruinenlandschaft ist. Noch tragen wir, die wir das Erbe des Christentums und seine die ganze Menschheit umfassende Humanität als eine persönliche Verantwortung mit uns tragen, das Schicksal dieser Welt. Noch ist es möglich, daß aus diesem an Tradition und Erfahrung sowie an geistigen und materiellen Werten so reichen Boden, daß von hier, wo sich die Weite der Ozeane und der Kontinente ineinander

verschlingen, vom geographischen und seelischen Schnittpunkt Asiens und der atlantischen Welt aus, das Licht aufsteige, das der Menschheit zu Einheit, Freiheit und Frieden leuchten mag.

Aber täuschen wir uns nicht: Nur das ist unser, an das wir etwas zu geben haben. Die Menschheit wird sich leichten Herzens über Europa hinwegsetzen, wenn es in seiner Zerrissenheit und Mutlosigkeit verharrt. E

wäre sinnlos, glauben, hoffen zu wollen, daß Europa als museales Schaustück, Denkmal einer sinkenden Kultur, Mahnmal für alle Kulturen am Rande der Weltgeschichte leben kann. Wer einst so mächtig und groß, brutal und klug war wie wir, wer der Menschheit so viel gab und nahm, wie Europa es tat, der ist von einer Flut von Gefühlen, von Bewunderung und Haß und Neid, umgeben. Er kann nicht verschwinden, kann nicht in

Pension gehen. Er muß sich behaupten, muß seinen Weg weitergehen oder er fällt. Es scheint, daß es im Leben der Völker und Völkerfamilien Zeiten gibt, in denen sich ein überreiches Erbe an Tradition und Erlebtem zu einem gewaltigen Berg innerer und äußerer Hemmnisse aufstaut. Wir haben die Wahl, darauf zu warten, daß er in der Glut weltbewegender Ereignisse zusammenschmelze oder — ihn mit Entschlossen-

heit und Zähigkeit beiseite zu räumen. Dieser Zwang, uns zu behaupten — ganz einfach gesprochen: dafür zu sorgen, daß wir wieder etwas sind in der Welt, verlangt vollen persönlichen Einsatz. Wir sind nur deshalb so schwach und weich, willkommene Beute dem Raubwild, das uns umkreist, weil wir in einem Wust recht schäbiger Egoismen verstrickt sind, weil wir es verlernt haben, unser Herz zu stärken und der Härte des Lebens ins Auge zu schauen. Was heute oder morgen als — wie es uns scheint — unverdientes Schicksal über uns hereinbrechen mag, wäre das wohl verdiente Schicksal eines jeden, der es aufgegeben hat, sich behaupten zu wollen. Ich spreche nicht von Rüstung oder Atlantikpakt, sondern ganz einfach davon, daß wir jeder endlich einmal die goldenen oder tönernen Schneckenhäuser verlassen sollten, in die wir uns verkrochen haben. Der Neubau Österreichs, der Bau Europas braucht Menschen, die bereit sind, Opfer zu bringen, die den Mut haben, zu wollen, zu gestalten, zu glauben, niederzureißen, was morsch ist und faul, und unser gemeinsames Haus so zu bauen, daß es wohnlich sei für uns alle und den Stürmen trotzt.

Die Schaffung einer europäischen Gemeinschaft kann von keinem der politischen und ideologischen Standpunkte aus geschehen, die ein Teil der Zerrissenheit unseres Erdteiles sind. Um es ganz kraß zu sogen: Die Position des bloßen Anti-

marxisinus, der den Gegenpart des Anti-marxismus legitimiert, ist ebenso überholt, wie der Traum der Hegemonie eines der europäischen Völker. Der Versuch, eine Teilansicht oder Gruppeninteressen zum Leitmotiv des Ganzen zu machen, ist nur mittels Bürgerkrieg und Tyrannis realisierbar. Das hat auch P. H. Spaak zum Ausdruck gebracht, wenn er jüngst seinen österreichischen Parteifreunden gegenüber den Vorrang der Vereinigung Europas vor irgendwelchen Parteidogmen nahelegte. Mag sein, daß Spaak innerlich die Argumentation Röpkes bejaht, der darauf hinweist, daß internationale Planwirtschaft einen internationalen, streng zentralistischen und daher jeden echten Föderalismus ausschließenden Staat voraussetzt, und daß deshalb das Dogma der Planwirtschaft der Einheit Europas im Wege steht. (Röpke, „Maß und Mitte“, Seite 254.)

Es ist aber nicht wesentlich, welcher der Standpunkte der großen geistigen und politischen Führer Europas „richtiger“ ist, sondern daß wir alle einen ge-

meinsamen Standpunkt finden, von dem aus wir gemeinsam an die Lösung der großen Fragen unserer Existenz herantreten können. Dieser Standpunkt muß notwendig neu sein; denn alle aktuellen politischen Standpunkte sind fast nur mehr defensiv. Es wäre bedrückend, sehen zu müssen, wie immer wieder die Vertreter überlebter Ideologien einander beweisen, daß der andere unrecht hat. Wir erleben so etwas wie einen Kurzschluß im europäischen Gespräch, dem die Völker und Massen ratlos gegenüberstehen. Sie lauschen und warten und reagieren mit passiver Resistenz. Sie gehen innerlich nicht mit. „Brot und Spiele“ erregen sie mehr als irgendeiner dieser Ideologen. Darum sind auch alle Gruppierungen, die auf ihnen aufbauen, Kartenhäuser (mit der relativen Festigkeit von Kartenhäusern im leeren Raum), die der Sturm einer herzlich bejahten Überzeugung verweht. Dies neue gemeinsame Glauben und Wollen baut das neue Europa.

Es lebt in uns allen, die wir dem Ruf des Neuen lauschen, wenn sich unsere Aufgeschlossenheit bisher auch fast nur in der Absage an das Alte dokumentiert. Es äußert sich in dem Unbehagen, das wir empfinden, wenn sich — um nur ein Kernproblem herauszugreifen — die Diskussion um Lohnerhöhungen in einem Betrieb in Gedanken wie: .Du kannst das zahlen“ und .ich soll schon wieder etwas geben“ ausdrückt. Das Neue bricht durch, wenn wir — um bei diesem Beispiel zu bleiben — uns ricitig sagen: „Können wir, die wir zu einer Betriebsgemeinschaft zusammengeschlossen sind, uns höhere Verbrauchseinkommen leisten oder müssen wir im gemeinsamen Interesse mehr von dem Ertrag der gemeinsamen Arbeit zur Erhaltung unseres Betriebes investieren?“ Das Neue bricht

durch, wenn wir nicht mehr von Arbeitern, sondern von Mitarbeitern sprechen, wenn wir im Lohn einen Ertragsanteil sehen, wenn wir einsehen, daß eine klare Abgrenzung der Funktionen und Verantwortlichkeiten auch im Betrieb kein Objekt von „Klassenkämpfen“, sondern eine Notwendigkeit ist. Das Neue wird zur gestaltenden Kraft, wenn wir endlich den führungslosen, allgegenwärtigen

Staat durch einen starken Staat ersetzen, der sich auf die ihm zukommenden Aufgaben beschränkt, wenn wir dem Staat im Staate, den Parteien, den ihnen zukommenden Platz anweisen) kurz gesagt: wenn wir .endlich, ohne überlebte Antipositionen zu beziehen, über die individualistische Auflösung der Gemeinschaften und ihr Gegenstück, die kollektivistische Zwangsordnung, hinweg

darangehen, eine funktionell-organische Gemeinschaftsordnung zu schaffen, die auf Freiheit und Persönlichkeit, auf Dezentralisierung der Macht und Selbstverwaltung — auch der Betriebe —, auf Autorität und einem tief empfundenen Gemeinschaftsbewußtsein beruht.

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