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Christliche Volksbewegung in Österreich

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Nach dem Religionsbekenntnis“ seiner Bürger ist Österreich ein weit überwiegend christliches Land; in seiner staatlichen und gesellschaftlichen Führung und Vertretung kommt diese Tatsache nur zu einem geringen Teil zur Geltung. Die Gründe dafür reichen weit in die Geschichte zurück. Hier beschäftigt uns die Frage, ob in der Gegenwart das noch christlich bestimmte Volk seine Aufgabe beim Aufbau von Staat und Gesellschaft erkennen und sich auf einem gemeinsamen Weg zu diesem Ziel zusammenfinden kann. In dieser Richtung muß das eigentliche Ziel der christlichen Volksbewegung liegen. Es lautet: Mitarbeit am Aufbau von Staat und Gesellschaft mit allen, auch den letzten religiös-sittlichen und geistigen Kräften. Also, keinen Staat im Staate bilden, sondern ein aus echter Tradition und christlichem Geist erneuertes Österreich, in dem die Werte der Vergangenheit hoch in Ehren stehen und mit einem gesunden sozialen und technischen Fortschritt in Einklang gebracht werden.

Österreich muß in dem großen Weltkonflikt zwischen Ost und West seine Freiheit und Unabhängigkeit wahren können. Die christliche Volksbewegung kämpft deshalb zunächst gegen die Bedrohung der Freiheitsrechte des Menschen in den naturgegebenen unteren Gemeinschaften, dann aber auch gegen alle Angriffe gegen die wahre Würde des Staates. Wie niemand sonst vielleicht, weiß der Christ um die ursprünglichen, unabdingbaren Rechte des Menschen, weil nur er in voller Klarheit den Menschen in seiner Gottbezogenheit und Freiheit sieht. Diese neue Bewegung des Christen kann nicht breit genug sein und muß auch den Letzten umfassen, der bereit ist, seine Freiheit, seine schöpferischen Fähigkeiten, seine Initiative im Dienste eines höheren Ganzen zu gebrauchen. Die christliche Volksbewegung wird darum nicht müde, alle, die „guten Willens“ sind, aufzufordern zum restlosen Einsatz positiver, aufbauwilliger Kräfte. Diese Tat wird nicht nur unserem Vaterlande, sondern ganz Europa zugute kommen. Das staatspolitische Erbe Österreichs kann und muß für die Wiederbelebung unseres zerrissenen Kontinents reaktiviert werden — bringen wir doch aus jahrhundertealter Übung im Ausgleichen, Mäßigen, Zusammenführen ein historisches und völkerrechtliches „Er-fahrungskapital“ für eine künftige europäische Gemeinschaft mit, wie kaum ein anderes Volk.

Ein zweites Ziel ist die notwendig gewordene Entgiftung der politischen

Atmosphäre. Wer sonst, wenn nicht der Christ, besitzt die Überlegenheit, im öffentlichen Leben wieder das Ethos der Sachlichkeit zu vertreten; einen möglichst weiten politik- und proporzfreien Raum zu schaffen, in dem es sich frei leben und atmen läßt! Ziel einer christlichen Volksbewegung muß ferner die klare, realistische Schau der gegenwärtigen Sozialstruktur sein. Der „Klassenkampf“ der Vergangenheit ist weithin überholt, neue Verelendungsherde und neue Formen ihrer Bekämpfung sind entstanden. Die Ideen der berufständischen Ordnung, der Volksgemeinschaft, der Familienpolitik sind zu Unrecht diskreditiert. Hier neue, politisch unbelastete und unvoreingenommene Wege Zu finden, ist die vordringliche Aufgabe einer christlichen Volksbewegung. Wichtig scheint nun heute die Frage, in welchen neuen Formen dies geschehen kann.

In der Folgewirkung einer jahrzehntelangen politischen Überbeanspruchung stehen heute die Menschen kritisch allen äußeren Organisationen gegenüber, zu-dem sind viele als politisch Enttäuschte, als oft zu Schaden und zu Fall Gekommene' auch bekenntnisscheu geworden; sie wurden vor allem mißtrauisch gegen jene Formen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, in denen sie persönlich als Angehörige einer Partei, eines Wehrverbandes, eines Vereines unter die Räder gekommen sind. Wir müssen uns darüber klar sein, daß zahllose Menschen unter uns mit gleichem Abscheu dem öffentlichen politischen Leben gegenüberstehen, wie etwa jemand noch jahrelang einen tiefen Abscheu vor einer Speise hat, von deren Genuß er einmal eine Vergiftung davongetragen hat.

Trotz und angesichts dieses Sachverhaltes sieht jeder, daß das Leben auch ohne ihn weitergegangen ist und daß die alten Fragen einer Lösung von neuen Menschen in neuen Formen entgegengeführt werden — mit ihm, oder ohne ihn. Die christlich orientierten Menschen ste hen zudem vor der Tatsache, daß weder die alte politische Partei, noch die alten weltanschaulichen Organisationsformen vorhanden sind. Ein leerer Raum trennt uns von den gleichgebliebenen Aufgaben und Zielen denn diese sind unbezwei-felt noch vorhanden als das gemeinsame echte Anliegen des christlichen Volkes in Österreich; Religion, Freiheit, Eigentum, Heimat-, Geschichts- und Staatsbewußtsein — das sind die hohen Werte und Güter, die weiterhin unser geistiger Gemeinbesitz geblieben sind. Offengeblieben aber sind die Wege und Formen, in denen heute der einzelne zum Mitträger dieser Werte werden kann. Darauf allein kommt es heute an: den Menschen in seiner Situation zu verstehen, seine Organisationsmüdigkeit und seine Bekenntnisscheu zu überwinden. Der Mensch will heute als Individuum angesprochen werden und als solches wirken. Mit Recht hat er eine Scheu, in Listen aufzuscheinen, in Reih und Glied zu marschieren oder gar sich stempeln zu lassen von Begriffen und Bezeichnungen, die längst überholt sind. So verdient weder der Typ des Priesters noch der des Laien mehr die Bezeichnung eines „Klerikalen“, wenn man darunter Engherzigkeit, Ghettokatholizismus, politische Herrschaft mit Hilfe der Kirche oder ähnliches versteht. Unser gemeinsames Wesen und Wollen ist längst anders, weitherziger, aufgeschlossener und versöhnlicher geworden, als es jene Signierung mit sich bringt. Für uns ba-deutet eine politische Partei oder eine weltanschaulich-kulturelle Organisation nicht in erster und einziger Linie Gruppenegoismus, Selbstzweck, Mittel der Machtgewinnung und Machterhaltung, sondern die notwendige Werse der Anteilnahme am öffentlichen Leben, zu dem es naturgemäß den freien Bürger mehr oder weniger hinzieht.

Was fordert von uns die Stunde? Neue, uns mehr gemäße Parteien? Die alten christlichen Vereine und Gewerkschaften oder die Mitverantwortung; und Mitarbeit in den bestehenden Einrichtungen? Gerade als Christen wissen wir, wie unvollkommen jedes menschliche Werk ist, und ajs Österreicher wissen wir, wie leicht etwas kritisiert oder lächelnd ignoriert und wie schwer es besser gemacht wird. Die Stunde fordert von uns den Eintritt des christlich bestimmten Menschen, des Laien in das öffentliche Leben; das heißt die Mitarbeit in der Geineinde-stube, in Gewerkschaft und Genossen-Schaft, in Land und Bund. Dort muß er mutiger Anwalt christlicher Gesinnung sein, in Wort und Tat, dort muß er Hüter der Gerechtigkeit, der Tradition, Vertreter der Sachlichkeit und einer überdurchschnittlichen Tüchtigkeit sein. Die Stunde fordert vom christlichen Volk einen steten und lebendigen Zusammenhang mit seinen Politikern, sei es um rechtzeitig und sachlich Kritik zu üben, sei es um einen persönlichen oder allgemeinen Wunsch vorzubringen. Die Stunde fordert, daß sich das ganze christliche Volk, aufgerüttelt und aufgeklärt durch seine Presse, durch Versammlungen und Tagungen, hinter die wesentlichen Anliegen christlicher Tagespolitik in Österreich stellt. Solche Anliegen haben wir in großer Zahl; es seien nur noch einmal die wichtigsten wirtschaftlichen Probleme hervorgehoben, der Wohnungsbau und die Landflucht, weil beide eine wahre Volksnot bedeuten und daher nur im Zusammenwirken aller materiellen und seelischen Kräfte des ganzen Volkes gelöst werden können. Es seien nur die wichtigsten kulturpolitischen Probleme hervorgehoben:' die Schule und die sittliche Sauberkeit in unserem ganzen Gesellschaftsleben. Schmutz und Schund gibt es nicht nur auf den Zeitungsständen ...

Mit den Zielen sind auch die Wege angedeutet: die Stunde verlangt von uns beherztes Zugreifen und Handeln. Um zu wirksamen Ergebnissen zu gelangen, brauchen wir eine einheitliche Linie. In der Fülle der gewachsenen Formen, der einstigen Organisationen, in denen die Älteren groß geworden sind, und der neuen Bewegungen, die den Jüngeren vielleicht besser entsprechen, finden wir uns oft nur mehr schwer zurecht. Um so richtiger und dringlicher ist daher der gemeinsame Nenner, den wir alle zu suchen und aufzustellen verpflichtet sind. So wie es eine gesamtösterreichische Schicksalsfrage ist, daß wir uns gegenseitig ertragen und uns nicht weiterhin unsere politische und damit unsere staatliche Vergangenheit vorwerfen oder absprechen, so müssen wir wohl auch im eigenen Kreis zueinander finden zu gemeinsamer Arbeit, ohne viel zu fragen, welcher Generation, welcher Gruppe oder Bewegung einer angehört oder entwachsen ist. Die Zersplitterung und der „Menschenverbrauch“ auf unserer Seite hätten sich längst als lebensgefährlich ausgewirkt, wenn nicht noch immer in der Tiefe unversiegbar der Strom gemeinsamer christlicher Lebenskraft uns alle erhalten und schließlich doch auch zusammenhalten würde.

Jedes Zeitalter bringt neue Formen des Zusammenlebens, der Organisation hervor. Ein Vereirisbetrieb wie vor fünfzig Jahren würde einen modernen Menschen eher abschrecken als anziehen; ein nur spirituelles, nur seelsorgliches, auf den einzelnen bezogenes und beschränktes Wirken würde auf die Dauer ebenfalls zu Substanz- und Kräfteverlust führen. Wir besitzen jedoch in den Pfarren und Gemeinden jene untersten natürlichen Kristallisationskerne, die wohl imstande wären, dem einzelnen freien Raum zu gewähren und doch in einer festeren Form als bisher die Männer, die Frauen, die Jugend, die Arbeiter, die Akademiker, die Wirtschaftsmenschen zusammenzuführen, aufzuklären und für die großen Ziele einer christlichen Volks/ bewegung zu gewinnen.

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