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Christliche Brüderlichkeit im Staat

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Wir bringen nachstehend einige Gedanken aus dem bedeutenden Referat des Verfassers auf der öffentlichen Tagung, die der Arbeitskreis „Staat und Gesellschaft“ des Katholikentages am Mittwoch, 11. Juni, im Kammersaal des Musik Vereines abhielt.

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Wir bringen nachstehend einige Gedanken aus dem bedeutenden Referat des Verfassers auf der öffentlichen Tagung, die der Arbeitskreis „Staat und Gesellschaft“ des Katholikentages am Mittwoch, 11. Juni, im Kammersaal des Musik Vereines abhielt.

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Seit dem November des Jahres 1957 hat ein besonderer Arbeitskreis des Katholikentages die Fragenkreise um Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus, Wohlfahrtsstaat und Kulturstaat

Wir hatten dabei zunächst sittliche Voraussetzungen der Entwicklung zu einer personalen Demokratie zu prüfen und haben in aller Bescheidenheit eine Art Beichtspiegel für den Bürger und Politiker erwogen; eine Auswahl aus den darin enthaltenen Merksätzen sei hier geboten.

Jeder einzelne ist aufgerufen: 1. Echten Anteil an dem Schicksal der Mitbürger und der Mitmenschen anderer Völker zu nehmen und nicht in Gleichgültigkeit und Indolenz zu erstarren. 2. Den anderen seinen Platz, auch einen Platz an der Sonne, zu gönnen und auf Intrigen zu verzichten. 3. Auch gegenüber den Andersdenkenden jederzeit Achtung, brüderliche Gesinnung in Wort und Tat zu bezeugen, bei aller Prinzipientreue und Festigkeit der eigenen Meinung. 4. Den anderen in wesentlichen Dingen für die eigene Ueberzeugung zu gewinnen, im Kampf gegen den Irrtum, doch in Achtung gegenüber dem Irrenden und in Fairneß.

Von den Pflichten des Gemeinsinns haben wir die folgenden besonders hervorgehoben:

1. Die Pflicht zur Anteilnahme an dem Geschehen in Bund, Land und Gemeinde. Das bedeutet also die Ablehnung des weitverbreiteten Satzes „Politik interessiert uns nicht“, seine Ablehnung als Verstoß gegen das Gebot der sozialen Liebe.

2. Die Pflicht, sich das nötige Wissen über Staat und Gesellschaft anzueignen.

3. Die Pflicht zur ausreichenden Information vor politischen Entscheidungen.

4. Die Pflicht zur Ueberwindung der Menschenfurcht durch mutiges Eintreten für die eigene Ueberzeugung.

5. Die kritisch aufmerksame und wachsam mitgestaltende Haltung gegenüber den Mitteln der Massenbeeinflussung.

6. Es kann uns nicht freistehen, einerseits über die Einmischung des Staates zu jammern, wo sie uns Lasten auferlegt, und sie anderseits heftig zu begehren, wo sie die eigenen Interessen schützen soll.

7. Zu einem Unrecht schweigen, das den anderen zugefügt wird, zu schweigen aus Feigheit oder Bequemlichkeit bedeutet neues schweres Unrecht. Diese Haltung entspricht dem Worte Kains: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“

8. Politik ist eine Tugend im Dienste des

Gemeinwohls und nicht von vornherein und auf jeden Fall „ein schmutziges Geschäft“.

9. Der kritische Bürger darf nie übersehen, daß der Bereich erhöhter Verantwortung, in dem der Mächtige wirkt, eine erhöhte Gefahr sachlich unrichtiger oder sittlich verfehlter Entscheidungen mit sich bringt. Es ist uhrecht, in der stillen Stube oder am Stammtisch den zu verurteilen, der im Lärm der Welt seinen Weg finden muß.

1,0. Wer die Fähigkeiten hat und die Zeit aufbringt, soll selbst in die politische, auch in die parteipolitische Arbeit eintreten; seine Hände werden, bildlich gesprochen, Schwielen bekommen, aber sie können rein bleiben.

11. Wesentlich ist auch die Schonung und Sparsamkeit bezüglich der Mittel und Einrichtungen, die dem Gemeinwohl dienen, von den Rasenflächen der öffentlichen Parks bis zu den von der Krankenversicherung bereitgestellten Medikamenten.

Jeder Politiker und überhaupt jedermann, der Anteil an staatlicher Gewalt hat, sollte erwägen:

1. Daß alle Macht letztlich von Gott verliehen ist und daß jeder Gebrauch vor seinem Gott verantwortet werden muß.

2. Daß vorurteilsfrei und sachgerecht gehandelt werden muß.

3. Daß auch der politische Gegner eine unsterbliche Seele und eine Ehre hat.

4. Daß der Kontakt mit dem Volke zu pflegen ist.

5. Daß die kleinen Gemeinschaften, die Familien, die Betriebe, die Wirtschaftszweige, die Ortsgemeinden und die Gemeindebezirke Förderung verdienen, weil die menschliche Bildung in gleichgeschalteten Großräumen nicht gedeiht; von der Achtung und Förderung der Familie hängt unsere ganze Zukunft ab.

6. Daß bei aller Bedachtnahme auf lokale Gruppenbedürfnisse das Wohl des Ganzen zu pflegen ist.

7. Daß der Ausgleich bestimmter machtvoll vertretener Interessen und das Gemeinwohl nicht identisch sind

8. Daß die Gewährung materieller Vorteile nicht gerade die verläßlichsten Parteigänger bringt. .

9. Daß nicht mehr Aemter, auch politische Aemter, übernommen werden dürfen, als man auszufüllen imstande ist, daß aber anderseits auch nicht aus Bequemlichkeit und Verantwortungsscheu Aemter auszuschlagen sind.

10. Daß unbedachte Zusagen verwerflich sind und daß man noch viel weniger etwas versprechen darf, das man von vornherein nicht halten will.

11. Daß Empfehlungen nur nach gewissenhafter Prüfung der Bewerber ausgestellt werden dürfen.

VOM „PARTEIENSTAAT“ Prüft man nun die Einrichtungen der Demokratie, so ist wohl zunächst die Erscheinung des - sogenannten Parteienstaates ins Auge zu fassen. Die Parteien gelten zumindest bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung primär als Schutzverbände, als die mächtigen Kräfte, die imstande sind, Wohnungen, Stellungen, Gewerberechte und andere Positionen zu vermitteln. Trotz der erfreulich hohen Wahlbeteiligung ist zwischen den Wahlen die Anteilnahme uneigennütziger Mitarbeiter am Parteienleben nicht in ■ dem wünschenswerten Maße gegeben. Soweit die Zurückhaltung des Volkes auf Indolenz oder Aengstlichkeit beruht, muß sie endlich aufgegeben werden. Doch wäre es auch eine große Aufgabe der Parteien, Bemühungen einzuleiten, um eine stärkere ideelle Hinwendung des Volkes zu ihren Kadern herbeizuführen. Auch institutionelle Reformen wären gemeinsam zu besprechen und durchzuführen. Dabei würde es wohl insbesondere auf die Herstellung des Vertrauens, auf ein echtes Mitspracherecht, also auf eine Realisie-tung der freilich formell bereits bestehenden innerparteilichen Demokratie, und wohl auch auf die Klärung der Finanzfrage ankommen, auf die Bereinigung des so heiklen Problems um die Zusammenhänge von Intervention und Subvention.

Ein anderer institutioneller Weg zu einer personaleren Demokratie liegt in der Reform des Wahlrechtes. Der Wähler soll im Wahlvorgang die Möglichkeit erhalten, auch auf die Personenauswahl wirksam Einfluß zu nehmen. Was bisher in dieser Richtung geschah, war unzureichend. Es wäre auch erwägenswert, die Vorteile und Nachteile der deutschen gemischten Wahlsysteme eingehend zu prüfen und im Falle des Ueberwiegens der Vorteile die Uebernahme dieser Systeme in Oesterreich ins Auge zu fassen.

Dem personalen Charakter einer echten Demokratie widerspricht es, wenn der Volksvertreter bei seiner Tätigkeit praktisch vielerlei Bindungen unterworfen ist. Besonders bedenklich ist die Unterwerfung unter Direktiven, auf deren Zustandekommen ihm kein Einfluß zustand. Demgemäß ist die Klubdisziplin nach der Teilnahme an der Aussprache und der Meinungsbildung im ' Klub weniger bedenklich als die praktische Bindung an die Beschlüsse anderer Gremien, so an die des Koalitionsausschusses, soweit diesen Beschlüssen nicht etwa eine freie Meinungsbildung in den Parteien vorausgegangen wäre. Ein wichtiges Mittel zur Sicherung der Freiheit des Abgeordneten wären geheime Abstim m u n g e n.

VOM „KAMMERSTAAT“ Man spricht auch von einer Entartung der Demokratie zum Kammerstaat. Hier ist gewiß Wachsamkeit am Platz. Daß eine bedenkliche Entwicklung im Gange ist, läßt schon der Vergleich der Zeiträume erkennen, die einerseits den Verbänden, anderseits den Volksvertretungen zur Bearbeitung von Gesetzentwürfen zugebilligt werden. Während den Verbänden in der Regel für ihre Stellungnahme mehrere Monate zur Verfügung stehen, müssen sich die Volksvertretungen häufig mit einigen Tagen begnügen. Aber auch die Zusammensetzung der Volksvertretungen ist vielfach so geartet, daß die gleichen Kräfte zur Auswirkung kommen, die die Kammern und Verbände tragen. Nicht die Tatsache der Durchdringung, der Politik von den Verbänden her, sondern das -Ausmaß dieser Durchdringung ist gefährlich. Ein Parlament ohne die typischen Vertreter der Verbandsmacht wäre eine schwache Volksvertretung; es wäre aber eine unbefriedigende Volksvertretung, wenn die Ideenpolitiker gegenüber den Interessenpolitikern zu sehr ins Hintertreffen gerieten oder wenn die von der Bewahrung ihrer politischen Position wirtschaftlich abhängigen Mandatare das Uebergewicht gewännen.

Der Qualität des demokratischen Regimes wäre es ungemein dienlich, wenn die Wissenschaft zur Verbreiterung der sachlichen Grundlagen für das politische Gespräch stärker als bisher herangezogen würde. Wir dachten hier nicht so sehr an die Uebernahme von Mandaten durch Gelehrte, sondern an deren Funktion als Begutachter und als Ermittler von (Grundsätzen einer Regelung. So wurde zum Beispiel die Rentenreform in der Bundesrepublik sehr wesentlich und wohl auch glücklich durch die Aeußerung von vier bedeutenden Gelehrten mitbestimmt.

Bedeutend für die personale Gestaltung unserer Demokratie wird es sein, ob es gelingt, eine lebendige, wirksame und von gesunden Kräften bestimmte öffentliche Meinung mehr als bisher ins Spiel zu bringen. Jeder einzelne, der Grundsätze hochhält und die Augen offen hat, kann in\dieser Richtung an der Gesundung unserer Demokratie mitwirken, seine Möglichkeiten reichen vom Leserbrief bis zum uneigennützigen Besuch beim Abgeordneten. Auch wird die bereits bekanntgemachte Gründung der Katholischen Sozialakädemie für die Gesundung der öffentlichen Meinung Wesentliches leisten können.

Wir haben uns dazu bekannt, daß die staatlichen Vollziehungsorgane dem Naturrecht im Rahmen der positiven Rechtsordnung Rechnung tragen müssen. Eindeutig narurrechts-widrigen Normen muß, wenn es sich um nicht-kompensable Rechtsgüter, so etwa um das Leben eines Menschen handelt, die Mitwirkung versagt werden.

Auch die Rechtswissenschaft empfängt nach unserer Auffassung ihre letzte Rechtfertigung aus dem Dienst am Naturrecht, aus dem Dienst am Recht des Menschen.

Eines der großen Anliegen an den Gesetzgeber ist wohl die Neufassung der Grundrechte. Man hat freilich den Standpunkt vertreten, die Rechtsprechung sei durchaus in der Lage, die aus der liberalen Aera stammenden und somit schon irgendwie altehrwürdigen ' Normen so auszulegen, daß sie ihre Funktion im Heute voll erfüllen. Doch konnte die Stabilisierung der politischen Situation Oesterreichs seit 1945 das bei der Begründung der Republik nicht zustande gekommene Gesetzgebungswerk über die Grundrechte ermöglichen. Es wäre sozusagen die gemeinsame Grundlage der getrennten politischen Kräfte Oesterreichs, das Gemeinsame , gegenüber dem totalen Staat umschrieben und damit ein Dokument des Vaterlandes von besonderer Bedeutung geschaffen.

Ein anderer großer Rechtsbereich ist bereits in Bewegung geraten: das Strafrecht. Das Recht setzt, wie wir hier immer wieder betont haben, den Menschen als ein verantwortliches Wesen voraus. Alle Versuche, das Strafrecht auf einem anderen Menschenbild aufzubauen, stehen zum Wesen des Rechtes im Widerspruch. „Wer in dem Verbrecher von vornherein einen Kranken sieht, muß folgerichtig das Strafrecht durch medizinische Maßnahmen, er muß den Richter durch den Arzt ersetzen.“ Das Wesen des Rechtes aber macht die Strafe notwendig. Durch sie übt das Recht seine Herrschaft über das Unrecht aus. In der Strafe als Sühne wird die Heiligkeit des Rechtes sichtbar.

Die in Gang befindliche Strafrechtsreform scheint nun die Gefahr der Aufweichung klarer Grundsätze nicht zu vermeiden. So sind etwa die bisher bekanntgewordenen Beschlüsse über das Abtreibungsstrafrecht und die Homosexualität ausgesprochen beunruhigend.

Eswürde zuweit führen, wollten wir nun versuchen, Ihnen in Eile auch jene Erkenntnisse vorzutragen, die wir uns auf anderen Gebieten zu sammeln bemühten. Nur das Bekenntnis sei angefügt, das das Ergebnis unserer Arbeit ist, das Bekenntnis zu Oesterreich als einem demokratischen, rechtsstaatlichen, föderalistischen, um Wohlfahrt und Kultur .in Achtung vor der Freiheit bemühten Gemeinwesen. Doch handelt es sich hier nicht um ein spätes und bequemes Bekenntnis zu gegebenen Wirklichkeiten, sondern um eine Verpflichtung zu erneuernder Arbeit, denn nur die von Gerechtigkeit und Liebe bestimmte erhöhte Aktivität der Personen und der Gesellschaft wird mit dem Segen von oben Freiheit und Ordnung in diesen gefahrvollen Zeiten verbinden können.

Der Grundsatz aber, dessen Beachtung hier entscheidend ist, entscheidend für unsere Zukunft und die Zukunft des Abendlandes, sei an das Ende unserer Ausführung gestellt, und zwar in der knappen Fassung, die ihm Johannes Messner verliehen: „Den größeren Gemeinschaften, besonders den Staaten, erwachsen erst Aufgaben und Rechte, soweit die Einzelmenschen oder -die kleineren im Dienste besonderer Lebenszwecke stehende Gliedgesellschaften, die in ihre eigene Verantwortung fallenden Aufgaben nicht aus eigener Kraft zu erfüllen fähig oder willens sind.“ Dieser Grundsatz enthält einerseits das Gebot an die größeren Gemeinschaften, die ihnen arteigenen Verpflichtungen zu erfüllen und überall dort zu helfen, wo Hilfe notwendig ist, anderseits aber das Verbot jeder Gängelung von Menschen und Gemeinschaften, wenn deren Kräfte für die Erfüllung der Zwecke ausreichen. Aus diesem Grundsatz folgt das Bekenntnis zur Förderung der Lebenskraft der Familie, zur Freiheit der Gemeinde, zur Eigenständigkeit der Bundesländer, das Bekenntnis zu einer Sozial- und Kulturpolitik, die stets um die Weckung der Eigenkräfte, um die Mobilisierung der Selbsthilfe bemüht ist. Die Kraft zur Beachtung dieses Grundsatzes, zur Ueberwindung des Macht- und Herrschaftswillens in der Dienstbereitschaft, die Kraft zur Erfüllung der Verantwortungsbereiche in Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Zucht, sie wird uns aus dem Glauben, der' Hoffnung und der Liebe erfließen.

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