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Verstaatlichung und Entproletarisierung

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Die Fronten beginnen sich zu klären. Die Erörterung der seit Jahrzehnten umstrittenen Fragen der Verstaatlichung hat wohl seit den Novemberwahlen niemals ganz geschwiegen, wenn auch zeitweise andere Lebensprobleme des wiedererstandenen Österreich vor sie traten, in den letzten Wochen ist sie aber aus dem Halbdunkel allgemeiner Parolen in ein deutlicheres Licht getreten. Bisher war es wirklich nicht immer leicht, aus den oft sehr ähnlich klingenden Formulierungen die grundsätzlichen Verschiedenheiten herauszulesen, auf welche die mitschwingenden Obertöne hindeuteten. Nun liegen öffentliche Kundgebungen vor, in denen die politischen Faktoren Österreichs vor den aufmerksamen Augen des Volkes ihren Aufmarsch vollziehen und es hat fast den Anschein, als ob jene mit der Möglichkeit rechneten, daß diese Frage Anlaß und Plattform für Neuwahlen werden könne, wie eine ähnliche Problematik die politische Entwicklung in anderen Ländern weithin bestimmt hat. Wenn aber auch diese Möglichkeit nicht aufkommen sollte, ist die grundsätzliche und praktische Tragweite der Frage so groß, daß der Staatsbürger die Pflicht hat, sich darüber eine klare “Meinung zu bilden. Wie es nicht selten bei öffentlichen Streitfragen vorkommt, ist auch hier festzuhalten, daß das Schlagwort, heiße es Verstaatlichung, Sozialisierung, Vergesellschaftung oder Nationalisierung, nicht immer den gleichen Inhalt deckt. Daher empfiehlt es sich, von den für das soziale Denken maßgebenden Gesichtspunkten auszugehen.

Alle österreichischen Parteien sind scheinbar einig im Wunsch nach einer Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in einem wichtigen Teile der Industrie zugunsten der bisher besitzlosen Arbeiter- und Angestelltenschaft. Wie jeder Produktionszweig hat auch die Industrie die soziale Funktion, in ihrem Bereiche die göttliche Widmung der Erdengüter zu erfüllen und nicht einfach der Selbstversorgung des dortselbst beschäftigten Volksteiles, sondern dem gesamten Volk zu dienen. Jede Änderung der Eigentumsordnung, welche die Erfüllung dieses Produktionszweckes gefährdet, müßte daher von vornherein bekämpft werden. Jedes Experiment, das infolge ungenügender Einschätzung der Naturgesetze der menschlichen Psyche das Risiko einer Minderung der Produktivität heraufbeschwört, muß vermieden werden. Kein Teil des Volkes hat das Recht, sein eigenes Interesse höher zu stellen als das allgemeine Wohl des ganzen Volkes. Dieses Gesetz gilt nicht nur für die kapitalistischen Unternehmer.

Andererseits muß mit Nachdruck allen Reformern der berühmte Satz in Erinnerung gerufen werden, den Leo XIII. in sein Rundschreiben „Rerum Novarum“ aufgenommen hat: „Wenn man die Lage der unteren Schichten bessern will, so muß man vor allem dabei bleiben, daß die Grundlage aller Überlegungen die Unverletzlichkeit des Rechtes auf Privateigentum zu bilden hat.“

Die Gesellschaftskritik des letzten Jahrhunderts hat gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise die doppelte Anklage der Vermachtung der Wirtschaft und der Ausbeutung des Proletariats erhoben. „Am auffallendsten ist heute die geradezu ungeheure Zusammenballung nicht nur von Kapital, ondern von Macht und wirtschaftlicher Herrschgewalt in den Händen einzelner, die ehr oft gar nicht Eigentümer, sondern Treuhänder oder Verwalter anvertrauten Gutes sind, über das sie mit geradezu unumschränkter Machtvollkommenheit verfügen.“ So urteilt Pius XI. in „Quadrogesimo anno“. Die Änderung der Eigentumsordnung innerhalb eines so großen und für das gesamte Volksleben so wichtigen Teiles der Industrie darf also nicht das herrschende Übel der Vermachtung galvanisieren, sie soll vielmehr die kritisierten Zustände auflockern helfen. Die Forderung nach Verstaatlichung oder anch Verstadtlichung weiterer Großunternehmen, die mit der Funktion dieser Gemeinschaften nichts zu tun haben, muß die Sorge wachrufen, daß eine solche Politik der Zusammenballung wirtschaftlicher und politischer Macht za einer unerträglichen Tyrannis führen müßte, der die naturrechtlichen Freiheiten der menschlichen Persönlichkeit unaufhaltsam zum Opfer • fallen müßten.

Der moderne Wohlfahrtsstaat hat zweifellos gewaltige Leistungen zugunsten der vom früheren liberalen Nacht wächterstaate — um die Gegensätze ganz deutlich zu machen, wenden wir diesen Ausdruck an — verlassenen und dem Elend preisgegebenen Volksmassen vollbracht. Derselbe Wohlfahrtsstaat aber hat gleichzeitig eine Machtfülle angehäuft, die nicht einmal durch demokratische Formen und Einrichtungen des öffentlichen Lebens' ausgeglichen werden kann, wie die tägliche Erfahrung lehrt. Die bedauernswerte Tendenz dieser Entwicklung bedarf daher in einer Zeit, die zu Planwirtschaft und sozialer Eigentumsreform drängt, der sorgfältigsten und gewissenhaftesten Beachtung. Welche persönliche Rechtlosigkeit und Unfreiheit zwangsläufig die Folge der Vereinigung politischer und wirtschaftlicher Allmacht bei der Staatsführung ist, hat die gegenwärtige Generation der europäischen Völker, die unter das nationalsozialistische Joch gerieten, schaudernd erlitten. Man sollte annehmen, daß dieses fürchterliche Erlebnis eine genügende Warnung sein müßte, in ein neues Experiment von ähnlicher Gefährlichkeit hineinzuschlittern.

Die politischen Kundgebungen der österreichischen Parteien stimmen überein, daß die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zum Überfall durch Hitler in Österreich qualitativ und quantitativ hoch emporgeführte Sozialpolitik, an deren vorbildlichem Aufstieg die beiden historischen großen Parteien ihren positiven Anteil haben, endlich der Ergänzung — manche meinen der Krönung — durch eine soziale Reform der Wirtschaftsordnung bedarf. Daß die Gebiete der Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik trotz engster and vielfältigster Verknüpfung innerlich voneinander geschieden sind und ihre eigene sachliche Gesetzmäßigkeit besitzen, zeigt em Blick auf das Land des radikalsten Umbaues der Wirtschaftsordnung, Sowjetrußland, das gleichwohl eine ausgedehnte Arbeiterschutt- and Fürsorgegesetzgebung nicht unterläßt, weil es sie im Interesse der Arbeiter und Angestellten nicht entbehren kann und will. Bei jedem Vorschlag, der eine soziale Reform der Wirtschaftsordnung betrifft, deren kapitales Stück die Eigentumsordnung ist, wird daher auch auf diese Beziehung zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik gebührend Bedacht zu nehmen sein. Der Gleichklang der Parteimeinungen geht jedoch in Dissonanzen über, wenn gesagt werden soll, worin die soziale Wirkung der angestrebten Neuordnung des industriellen Eigentums auf die Lage der Arbeiter und Angestellten sich ausdrücken soll. Die Männer der OeVP verlangen die Entproletarisierung durch Eröffnung gesicherter Zugänge zu persönlichem Besitz oder Mitbesitz an den Produktionsmitteln. Die SPÖ und KPÖ scheinen diesen Gedanken mit der Begründung abzulehnen, daß er auf die Schaffung vieler kleiner Kapitalisten hinauslaufe, sie verlangen die Übernahme der betroffenen Unternehmungen durch den Staat, in besonderen Fällen durch Länder und Gemeinden, und begnügen sich mit einer Vertretung der Belegschaft in der Verwaltung neben den anderen Faktoren und mit der Verwendung des Gewinnanteiles nicht für den einzelnen, sondern für Fürsorgeeinrichtungen des Betriebes.

Hier öffnet sich der tiefe und breite Spalt, der die Ansichten trennt. Die einen halten am Privateigentum als dem natürlichen und naturrechtlichen Fundament des privaten und wirtschaftlichen Lebens fest und suchen offenbar den kürzesten Weg, um den Proletarier aus seinem Schicksal der Besitzlosigkeit zu erlösen. Hier sei daran erinnert, daß das päpstliche Rundschreiben „Quadra-gesimo anno“ im lateinischen Urtext, dort, wo in der deutschen Ausgabe der Ausdruck „Entproletarisierung“ verwendet wird, das sakrale Wort „redemptio“, das ist .Erlösung', anwendet. Die anderen aber fordern die restlose Aufhebung des Privateigentums aa Produktionsmitteln und lassen auch dem Arbeiter keine Möglichkeit, einen Anteil aa diesem Eigentum za erhalten; er würde besitzlos Weinen, abgesehen von einem seit jeher kaum bestrittenen Besitz an Konsumgütern, allenfalls Einfamilienhaus und Garten. Dieser radikale Standpunkt kann nicht überraschen. Schon im Jahre 1921 wurde bei der Beratung des Bundesgesetzes über den Wohn- und Siedlungsfonds dem Verlangen der Christlichsozialen die Übertragung des persönlichen Eigentums des Siedlungshauses an den Siedler zu erleichtern, von sozialistischer Seite die Forderung entgegengestellt, dem Siedler nur ein entsprediend weites Nutzungsrecht zu sichern, das Eigentum selbst aber der Genossenschaft oder der Gemeinde vorzubehalten. Die Besitzlosigkeit* der proletarisdi gewordenen Masseh bedeutet, wie Sozialisten immer wieder hervorgehoben haben, eine weitgehende Unfreiheit oder wenigstens praktische Einschränkung der politischen Bürgerrechte. Die Logik müßte zur Folgerung geleiten, die Besitzlosigkeit durch Besitzgründung zu überwinden und damit die Freiheit dauernd zu sichern. Die Parteiideologie führt den entgegengesetzten Weg. Letzten Endes wird hier wohl das Volk selbst entscheiden müssen, das in seiner Gesamtheit an der grundsätzlichen Frage des Produktiveigentums ein vitales Interesse hat und eine rein klassenmäßige Lösung mit Rücksicht auf die Auswirkungen wohl nicht hinnehmen könnte.

Wenn auch mit verschiedenem Gewicht und ungleicher Tendenz heben die Parteien von links und rechts die Bedeutung der Genossenschaftsidee bei der sozialen Neuordnung des produktiven Eigentums hervor. Die gewerblichen Produktivg'enossenschaf-ten älteren Stils konnten in der österreichischen Volkswirtschaft keine größere Bedeutung erlangen. Die höchste Blüte erreichte das österreichische Genossenschaftswesen einerseits in der bäuerlichen Landwirtschaft, andererseits in den Konsumvereinen. Seit Lueger und Stöckler, den christlichsozialen Bahnbrechern der Bauernbefreiung aus der Abhängigkeit vom Handelsund Leihkapitalismus haben unsere bäuerlichen Genossenschaften einen wahren Triumphzug der Erfolge aufzuweisen. Die eigentliche produktive Tätigkeit der bäuerlichen Wirtschaft wurde durch sie wesentlich gefördert, rentabler gestaltet und ihre Leistung gesteigert, selten aber durch gesellschaftliche Produktionsformen ersetzt, wenn man von Molkereien und der letzthin gemeldeten Übernahme einer Zuckerfabrik absieht, Betrieben, die schon der Veredelung dienen. Die kluge Vorsicht, die eine auszeichnende Eigenschaft der bäuerlichen Wirtschaft ist, hat die Führung dieses Genossenschaftswesens bisher in glücklicher Weise beraten.

Die Konsumvereine, überwiegend von Sozialisten geführt, haben hingegen eine ausgedehnte Eigenproduktion in Fabriken geschaffen, die neugegründet oder erworben wurden. Ihre kommerzielle Führung unterschied sich kaum von der ihrer privaten Konkurrenten, nur daß der Reingewinn nicht dem Privatkapital, sondern dem Genossenschaftskapital zufloß. Auf welche Weise die auf diesem Gebiet gewonnene vieljährige Erfahrung in den sozialistischen Vorschlägen für die Neugestaltung der Industrie verwertet werden soll, ist noch nicht bekannt.

Die OeVP tritt mit einem Plan hervor, der die komplizierte Frage der Anteilnahme der Belegschaft an Kapitalbesitz und Führung eines Industriegroßbetriebes auf eine bemerkenswert neue Art lösen will. Bisher wandte man ein, daß die Übertragung eines Teiles des Eigentums an die Arbeiterschaft bei der Bestellung der verantwortlichen Leitung und auch in der Betriebsführung Schwierigkeiten erzeugen werde; auch wies man darauf hin, daß der einzelne Arbeiter nicht gewöhnt sei, mit Aktienbesitz umzugehen und daher eine gewisse Unruhe auf dem Aktienmarkt entstehen könne usw. Die Frage der Finanzierung sozialisierter Großbetriebe ist an und für sich gewiß ein schwieriges Kapitel, das den Fachleuten noch viel Kopfzerbrechen machen wird und ohne dessen gesicherte Lösung ein radikaler Eigentumsumbau großer Industrien nicht zu verantworten wäre.

Abgeordnete der OeVP schlagen nun vor, in den za sozialisierenden Betrieben einen entsprechenden Teil des Kapitals ab dauern den Anteil ihrer Belegschaft abzutreten. Jedoch soll dieses Kapital nicht unmittelbar auf alle Beschäftigten — abgesehen von einjähriger Seßhaftigkeit — aufgeteilt, sondern einer Betriebsgenossenschaft übergeben werden, die von den Beschäftigten gebildet und in ihrem Namen hand-lungsbefugt ist. Die Betriebsgenossenschaft ihrerseits hätte das übertragene Kapital in Form von Genossenschaftsanteilen auszumünzen, die den einzelnen Genossenschaftsmitgliedern als freies Eigentum übergeben werden, das nur jenen Sicherungen unterworfen wird, die ein Abwandern des Besitzes an dafür nicht in Betracht kommende Faktoren zu verhindern hat. Im übrigen würde der Arbeiter und Angestellte in der Verwertung seines Besitzes nicht behindert sein. Die Genossensdiaftsversammlung hätte über die Verwendung des Gewinnanteiles zu beschließen. Diese Andeutungen lassen immerhin erkennen, daß hier ein Weg vorgeschlagen wird, der, verbunden mit ergänzenden Schritten auf anderen Gebieten, ein beträchtliches Stück Entproletarisierung in erreichbare Nähe zu rücken und andererseits die von vielen Fachleuten des In- und Auslandes gefürchtete Gefahr der Erschütterung und *Lähmung der Wirtschaft im weiten Maße zu vermeiden scheint. Noch weiß man zu wenig Einzelheiten dieses Planes, noch liegt der Text des Gesetzantrages nicht vor, so daß man sich eines ■endgültigen Urteils noch enthalten muß. Das eine aber läßt sich schon jetzt sagen, daß der ' Vorschlag verdient, ernstgenommen und gewissenhaft geprüft zu werden. Die Prüfung soll vor der Öffentlichkeit des ganzen Volkes durchgeführt werden, wie es der großen Bedeutung des Problems geziemt, zu dessen Lösung er beitragen will. Die öffentliche Erörterung wird sich aber auch mit den Fragen und Methoden der geistig-seelischen Entproletarisierung beschäftigen müssen, die bisher in den Kundgebungen der Parteien kaum berührt worden sind.

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