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Ewiges Schicksal wird davon abhängig sein, ob wir die leiblich und geistig Hungrigen, Durstigen, Nackten, Fremden, Kranken und Gefangenen gespeist, getränkt, beherbergt und besucht haben. Solche Taten sind in vielen Formen möglich, von der Reichung des Brotes bis zur Bemühung um ein Gesetz. Durch das Richterwort sind wir aufgefordert, die jeweilige Unordnung unserer Umwelt mit dem Maßstab der Liebe zu messen, und dürfen fragen: Was tun wir, um sie zu formen? Trotz der Fülle gut gemeinter Institutionen kann die Antwort heute nicht günstig ausfallen. So müßte das Bemühen um neue Erkenntnis, um Überzeugung anderer und um helfende und gerechte Taten einsetzen.

Neue soziale Erkenntnis — das kann man im kirchlichen Raum manchmal, zum Glück nur selten hören, sei doch nicht nötig, da rettende Wahrheit fertig in den Rundschreiben Leos XIII. und Pius XI. bereitliege. Diese Auffassung ist verfehlt wie die andere, nach der die gleichen Rundschreiben nur vergängliche Urteile in überholten Richtungsstreitigkeiten sind. Die Rundschreiben enthalten höchst zeitnotwendige Richtsätze, die

Leben gestalten und erneuern könnten: das Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip, den Gedanken der Entproletarisierung durch das Eigentum, die berufsgemeinschaftliche Idee, die nur ein historisch begründetes Mißverständnis in Gegensatz zur politischen Freiheit bringen kann. Hier ist nur dieses Bekenntnis, nicht die Ausbreitung des Gedankenschatzes möglich. Die Rundschreiben sind also, mit Ehrfurcht gelesen und erlebt, immer noch Kraftquelle. Sie enthalten aber nicht direkt anwendbare Erkenntnisse und können sie nicht enthalten, weil die Päpste ihre Rundschreiben 1891 und 1931 für den Erdkreis und nicht 1952 für Österreich bestimmt haben, weil es nicht Aufgabe des Stuhles Petri sein kann, Rezepte zu liefern, und weil der eigentliche Gegenstand der Rundschreiben, die Arbeiterfrage, ihre Gestalt durch den Aufstieg der Arbeiterschaft verändert hat, und inzwischen durch das Absinken anderer Schichten Notstände und Strukturprobleme neu aufgetaucht sind. Während aber liberale wie marxistische Ideologie nicht imstande sein wird, die veränderte Weit richtig zu beurteilen und heilend zu gestalten, wäre die natur-

rechtliche Gesellschaftsbetrachtung an sich fähig, die Zeit zu meistern.

Mit dem Kerngut der päpstlichen Rundschreiben als geistigem Besitz, müßte aber zuvor die neue Physiognomie der Heimat gesehen und beurteilt werden.

Erhebung menschlicher Lebensverhältnisse im Quantitativen und Qualitativen, landschaftlich und örtlich bestimmte Milieufeststellung ist nötig, zum Beispiel bei Heimarbeiter- und Landarbeitergruppen, bei den jungen Ärzten, in den Baracken der Flüchtlinge, in den großen Familien der Gebirgsbauern und im Mittelstand. Nur so differenzierte Diagnose kann die

primären Heilfaktoren vor den subsidä- ren auf den Plan rufen. Daß derartige soziographische Arbeit unter katholischen Fahnen nicht geschieht, wäre kein bedeutsames Unglück, wenn sie von anderen hinreichend geleistet würde. Das aber trifft nicht im erforderlichen Maße zu .

Überzeugungsarbeit wird an sich wohl gewagt, im Wiener Bereich etwa durch das soziale Seminar der Kalasantiner, durch die Kurse der Jesuiten in der Sonnenfelsgasse, auch durch die 1951 mit hohem geistigem Einsatz durchgeführte, aber nicht weiterwirkende Österreichische Soziale Woche. Ein dichtes Netz von Veranstaltungen, Studienrunden und Schriften über das ganze Land, wie es die Catholic Social Guild in England doch spannen konnte, fehlt in Österreich. Das Kirchenvolk weiß vom Wirtschaftsethos nicht viel. Manche gelegentliche Berufungen auf die lateinischen Anfangsworte der Enzykliken erinnern an die Anwendung einer Zauberformel. Auch wenn einzelne Volksgruppen ins Auge gefaßt werden und der politische Raum, wird das Bild nicht wesentlich günstiger. Viel positive Dynamik hat die katholische Arbeiterjugend. Doch gewinnt sie diese vor allem aus der Idee des Apostolats und aus der gesunden Freude an dem konkreten Verbessern des Milieus, weniger aus einem christlich bestimmten Gesamtbild der Gesellschaft. Der Österreichische Arbeiter- und Angestelltenbund hat von den politischen Organisationen die stärkste Bindung zur sozialen Tradition des Katholizismus. Er vertritt diese Überlieferung aber in starker Eigenart. Die Idee des „dritten Weges", der Gedanke der Vergenossenschaftung, trägt ihm das Mißtrauen des Unternehmertums ein. Die These, daß jeder Lohnvertrag seinem Wesen nach ungerecht sei, läßt sich mit dem Lehrgut der Rundschreiben und der Wirklichkeit nicht vereinbaren. Die Entwicklung dės Lohnvertrages in die Richtung eines gesellschaftlichen Verhältnisses, unter Wahrung der notwendigen Führungsfunktion, als wünschenswert zu bezeichnen, ist mit der Überlieferung vereinbar und durch die Wirklichkeit nahegelegt. In der Unternehmerschaft sind mannigfache Versuche, Kerne einer christlich bestimmten Reformbewegung zu bilden, zu keinem sichtbaren Ziel gelangt. Soziale Leistung ist vielfach da — und nicht be

1 Als beispielsweise in einem Arbeitskreis des Katholischen Sozialwerkes in Wien die Probleme der freien betrieblichen Leistungsgemeinschaft intensiv studiert wurden, fehlte es an einer entscheidenden Grundlage, nämlich an dem tatsächlichen Befund der betrieblichen Verfassungsentwicklung Österreichs. Hier scheint ein auffallender Notstand berührt, denn die Verwirklichung des Guten setzt schon nach Thomas von Aquin die Erkenntnis der Wirklichkeit voraus. Beispiele wären im Westen und in unserer eigenen Vergangenheit in vielen Formen vorhanden. Wichtigstes sei erwähnt: Die Bewegung „Economie et humanisme" jm heutigen Frankreich und Vogelsangs Erhebungen über die Lage der österreichischen Arbeiterschaft. Bedeutendste wissenschaftliche Leistungen, etwa Meßners „Naturrecht“, werden, wenn sie nicht ihre Ergänzung in einer tadellosen Soziographie finden, ihre volle befruchtende Kraft nicht entwickeln.

kannt. Auch in der Bauernschaft, in der die machtvollen Organisationen christlich traditionell auftretep, fehlt es, soweit man erkennen kann, an einer starken, christlich bestimmten Kerngruppe, die eine Bewegung sozialer Erneuerung trüge. In der katholischen Landjugend sind freilich sehr starke Ansätze dafür vorhanden. Auch in den verschiedenen Farmen der Akademikerverbände katholischer Prägung ist eine wirkliche Bewegung sozialer Art nicht wahrnehmbar. Die bedeutendste Heilquelle für die Genesung unseres Landes von seiner lebensgefährlichen gruppenindividualistisdien Herzkrankheit, nämlich eben die letztlich christlich motivierte Gemeinwohlgesinnung, wird zwar im politischen Raum durch fähige und verdienstvolle Menschen und Gruppen durchaus wirksam, nicht aber systematisch zur Behandlung des Volkes verwendet.

Fragen wir schließlich nach den T a te n, so ergibt sich, daß im kirchlichen Raum die C a r i t a,s seit 1945 bedeutende menschliche und materielle Leistungen erbracht hat. Nicht gelungen scheint es, die Bedeutung der Menschenhilfe für die christliche Existenz dem Kirchenvolk lebendig zu machen, wie das erforderlich wäre, um der allmählich versiegenden ausländischen Hilfe die inländische gleichwertig an die Seite zu stellen. Die Caritas hat auch Häuser gebaut und in der Aktion .Heimat Österreich für die bäuerliche Ansiedlung von Flüchtlingen gesorgt. Auch die christlich inspirierten Siedlungsgenossenschaften haben in den letzten Jahren ihre Tätigkeiten ausweiten können und, wie es ihre Aufgabe ist, Menschen, die an sich in bescheidenem Maße zur Selbsthilfe fähig sind, mit der Hilfe des Bundes in Verbindung gesetzt. Der Wiener Diözesanfonds für Familienhilfe versucht, solche Unterstützung jungen Familien zugänglich zu machen, die die notwendigen Eigenmittel nicht zur Verfügung haben. Doch ist die Leistung des österreichischen Katholizismus an der Wohnungsfront nicht überzeugend. Die entsprechenden Taten in der Bonner Republik sind überlegen, freilich auch unter anderen wirtschaftlichen Voraussetzungen erbracht. Doch hat — dies ist schmerzlich, aber nicht weniger wahr — die grundbesitzende Kirche in dieser Frage oft eine Haltung gezeigt, die dem Ernst dieser Stunde nicht angemessen war. Christliche Politiker haben Anteil an der begrüßenswerten Verwirklichung des Wohnungseigentums, und haben eine echte Tat durch ihr in den letzten Zeiten immer erfolgreicher werdendes Streben um eine bessere Aufnahme der Heimatvertriebenen in die österreichische Gemeinschaft vollbracht.

Nach dieser flüchtigen Umschau ein Ausblick: Von der Hierarchie sei kein weises, durch Vorsicht bestimmtes Schweigen zu den offenbar sittlich relevanten Fragen des gesellschaftlichen Lebens, sondern ein klares Reden erbeten, das aber die Distanz zur Partei- und Tagespolitik wahrt.

Von den Laien ist zugleich eine tiefschürfende Befassung mit den sozial- und wirtschaftstheoretischen Grundsätzen und mit dem konkreten örtlichen Leben und seinen Fragen zu verlangen, dies in einer sinnvollen Arbeitsteilung.

Wenn nämlich der Politiker notgedrungen den Tag meistern muß und dabei oft grundlegende Arbeit vernachlässigt, muß

es die Aufgabe anderer, weniger gehetzter Menschen sein, an tragenden Konzepten gesellschaftlicher Erneuerung im Kleinen und Großen zu arbeiten, Klarheit darüber zu gewinnen, was in Österreich heute im Sinne der Idee der Ent- proletarisierung für Restbestände des alten Proletariats und für das neue „Mittelstands"proletariat geschehen kann, oder durchzudenken, wie durch Anwendung des Prinzips der Subsidiarität eine Verwaltungsreform gelingen oder wie der Wissenschaft geholfen werden kann.

Halten wir fest: Freiheit und Würde des Menschen können nur durch d i e Erneuerung der Ideen der Gemeinschaft und der persönlichen Verantwortung gerettet werden.

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