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In der Politik: auch das Wort „nein“

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„Nirgendwo wird soviel gelogen, wie nach der Jagd und vor einer Wahl!“ lautet ein Sprichwort, das vielen in den nächsten Wochen und Monaten einfallen wird.

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„Nirgendwo wird soviel gelogen, wie nach der Jagd und vor einer Wahl!“ lautet ein Sprichwort, das vielen in den nächsten Wochen und Monaten einfallen wird.

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Trotz einer Wohlstandssituation ohnegleichen, wie wir sie erreicht haben, erkennen wir, daß wir an Grenzen angekommen sind. Das Ausufern verschiedener, vor allem an vordergründige Wünsche angepaßter Entwicklungen, führt dazu, daß unser gesamtes politisches System grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Wie steht es nun um das Verhältnis zwischen Grundsatz und Anpassung in der Politik? Zunächst muß einmal festgestellt werden, daß alle politischen Entscheidungen grundsätzliche Wertentscheidungen über die Zukunft der Gesellschaft enthalten, Politik ist daher nicht nur die Kunst des Möglichen, sondern, mit graduellen Unterschieden, die Verwirklichung von Ideen mit den verschiedensten Mitteln. Sich die Erde Untertan machen, wie das Kulturmandat des Menschen lautet, ist ja nur möglich, wenn man bestimmte Vorstellungen von dieser zu gestaltenden Erde in die Wirklichkeit umsetzt.

Wer allerdings die Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte verfolgt, hat mehr und mehr den Eindruck, daß in der Politik, wie in jedem anderen Geschäft, nur noch der Erfolg als oberster Grundsatz gilt. Ein gut ausgebildetes Parteimanagement kommt daher der Führung eines Wirtschaftsunternehmens gleich, da es mit modernen Suggestivtechniken zu garantieren hat, daß sich der gewünschte Erfolg, nämlich ein entsprechendes Wahlergebnis, einstelle. Dies wird am besten dann erreicht, wenn man die beherrschenden Wünsche der Wähler, am besten nur jene der Wechselwähler, erkundet und sich danach richtet. Damit kommt die Verwirklichung von Programmen Wahlkapitulationen gleich, in denen bestimmten Gruppen der Preis für ihre Zustimmung zu einer Machtübergabe auf Zeit bezahlt wird. Die Folge davon ist die Gesichtslosigkeit der Politik, die sich in Slogans äußert „Wir sind für die Zukunft gerüstet“ vermittelt zwar den Eindruck, daß man bereit ist, sich der Verantwortung für die Zukunft zu unterziehen, doch über das Wesen dieser Zukunft hört man nichts. Die Folgen sind ziemlich klar: man kommt vor lauter gefälliger Verpak-kung nicht mehr dazu, den Inhalt zu überprüfen, ja hat geradezu Angst davor, den Inhalt überhaupt zu erkunden. Man ist mit der Präsentation von Personen zufrieden, zählt Lachf ältchen und Schweißperlen und unterstreicht den Unterhaltungscharakter der Politik mit würzigen Bonmots.

Man könnte zufrieden sein, wenn es die Situation zuließe. Die Entwicklung hat uns nämlich in eine Position geführt, in der verschiedene bisher unbefragte Trends nicht weiter verfolgbar sind. Seit längerer Zeit wissen wir, daß wir das quantitative Wirtschaftswachstum durch eine qualitatives ersetzen müssen, wobei die Qualität eine Änderung unserer Wertkategorien verlangt. Seit längerer Zeit wissen wir, daß die materiellen Abschlagszahlungen an die gesellschaftlich Armen nichts mehr nützen, weil ihre immaterielle Not — der Mangel an Kommunikation und Liebe — ins Enorme gewachsen ist. Seit längerer Zeit wissen wir, daß unser System der Demokratie, das dem einzelnen Staatsbürger Mitwirkung einräumen soll, nicht mehr in der Lage ist, jene Übersichtlichkeit zu geben, die das Gefühl einer Chance der Teilnahme vermittelt. Seit längerer Zeit wissen wir, daß es in der Politik auch das Wort „nein“ oder „Wir müssen es anders machen!“ geben muß. Die „Anspruchserfüllungsdemokratie“ ist zweifellos in eine Sackgasse geraten, weil sie im Ergebnis zur Folge hat, daß die Belastungsfähigkeit unserer Gemeinschaft gleich Null wird. Wenn sich das Schönwetter der wirtschaftlichen Entwicklung und der politi-

schen Entspannung verzieht, kann es zu inneren Spannungen und zu äußeren Anforderungen kommen, die wir von allem Anfang an wahrnehmen müssen.

Und wir sind gefordert! Gefordert von innen durch eine Minderheit, die nicht bereit ist, sich mit der Situation zufrieden zu geben; gefordert von außen, durch eine Verschiebung in der Welt, deren Dimensionen wir uns gerne verschließen möchten. Wir wollen der Erkenntnis entfliehen mit einem Vorgriff auf die Zukunft, indem wir heute konsumieren, was wir morgen erarbeiten werden, entfliehen, indem wir den Weg zu einer einswerdenden Welt nicht gehen und uns eine eigene, klein werdende Welt aufbauen, die uns zu Schrebergärtnern des Lebens macht.

Wer diese Position anzweifelt, begegnet der Bemerkung, daß man mit unpopulären Maßnahmen keine Wahlen gewinnen könne und man immer noch „moderner“ sein müsse, wobei auch hier das Moderne nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form ausgerichtet ist. Wer reformiert, gibt vor, für die Zukunft gerüstet zu sein; wer verändert, ist revolutionär, wer in Frage stellt, hat Erfolg.

Möglich war dieser Weg vor allem deswegen, weil wir in der wirtschaftlichen Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg und im Genuß des Wohlstandes darauf vergessen haben, daß neben der materiellen Dimension auch eine geistige existiert. Nach 1945 über Grundsätze nachzudenken, statt geordnete Verhältnisse zu schaffen, war sicher nicht sinnvoll angesichts von Häuserruinen, zerstörten Verkehrswegen und stillstehenden Fabriksanlagen. „Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen...“, spottet, wenn auch ungerecht, Franz Josef Degenhart in einem seiner Chansons über „Vatis Argumente“.

Im Laufe dieser Entwicklung haben wir aber das bekommen, was man Zielschwund nennt. Vor lauter Tun, von dem wir nicht wissen, warum wir es tun, haben wir auf die Gründe unseres Seins vergessen.

Alles ist uns gelungen. Ein gigantischer Fortschritt wurde verzeichnet, der Weg in das Weltall ist offen. Wir können mit Hilfe der Technik vom höchsten Turm springen, weil wir fliegen gelernt haben, wir können Steine zu Brot machen, weil uns die Machbarkeit des Lebens fast gelungen wäre, wenn uns nicht die Natur manchmal in bitteren Katastrophen die Grenzen gezeigt hätte. Wir herrschen vom höchsten Berge aus, weil Machtträger heute über Mittel verfügen, deren Totalität ungeheuer ist. In dieser Überfülle der menschlichen Möglichkeiten gleichen wir dem Schwimmer im Meer, der die Sicht auf das Land verloren hat. Entweder interessieren uns Orientierungswerte nicht, oder sie werden über Bord geworfen, oder wir suchen nach neuen, weil wir uns sagen müssen,

daß trotz aller Leistungen die Welt noch immer nicht die beste aller Welten ist.

In dieser Verwirrung treten auch wieder Menschen auf, sogar im Bereich der Wissenschaft, die einer diktatorischen Lenkung bessere Chancen einräumen als den menschlichen Entscheidungen auf Grund freien Willens.

Welches sind nun die gesellschaftlichen Probleme, die eine Besinnung auf das Grundsätzliche verlangen und sich der Anpassung verschließen? Da ist einmal die Vorstellung, daß unsere Welt in dieser Zeit vollendbar sei, daß wir in einer perfekten Gesellschaft leben könnten, die frei von allen Schwierigkeiten und Ängsten ist. Es ist dies sicher auch die Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, zu der die Demokratie den Weg weist. Wir müssen uns aber dennoch im klaren darüber sein, daß wir diese Vollendung nie erreichen werden, daß aber für uns gerade der Abstand zum Ziel die Triebfeder ist, die Zustände zu verbessern. Vollenden können wir nicht.

An zweiter Stelle wäre der Verlust der Metaphysik zu nennen. Allzusehr wählen wir heute die Bezugspunkte unserer Bemühungen in unserem eigenen Leben. Der Egoismus findet seinen Ausdruck in einer Leistungsgesellschaft, die glaubt, sich alles leisten zu können. Dieser Egoismus aber führt zu einer Zielverwirrung. Die Frage, warum und wofür wir leben, wird nicht nur nicht beantwortet, sondern oft gar nicht mehr gestellt. Wenn wir aber ständig über Selbstverwirklichung reden und über Fremdbestimmung klagen, so deshalb, weil wir offensichtlich doch das Gefühl haben, daß noch etwas außerhalb unseres eigenen kleinen, erfaßbaren Lebens mitspielt.

Zum dritten aber leben wir in einer Härfesie des Rationalen, in der wir uns der Täuschung hingeben, unsere Gestaltungskraft reiche so weit, daß wir die Welt völlig durchgestalten können, alles wägen und messen, die Kosten und den Nutzen bestimmen und nur nach der Zweckmäßigkeit vorgehen können. Es kann aber nicht allein die Machbarkeit allen Lebens das Ziel sein, es muß auch die Freude geben, die Muße. Daß Sehnsüchte nach einem anderen Le-

ben bestehen, zeigt uns das Ausflippen einer Jugend, die neben der hastenden Werktätigkeit unserer Zeit wieder die Zeit selbst entdecken will.

Ein weiteres Problem müssen wir in der Idolisierung der Arbeit und der Freizeit erkennen. Waren Arbeit und Freizeit früher eine Einheit, so leben wir heute ein zweigeteiltes Leben, bringen wir die Arbeit hinter uns, um in der Freizeit erst recht nicht zu wissen, was wir tun sollen. Daß wir uns in einer immer kürzer werdenden Arbeitszeit gegen alle Prinzipien der Medizin selbst ausbeuten, wird uns langsam bewußt Daß unsere Freizeit nicht Freiheit bedeutet, wenn wir in kollektiven Verhaltensweisen weekendmäßig die Produkte der Freizeitindustrie konsumieren, wird uns ebenso klar.

Wir leben aber auch in einem Kult der Schönheit und der ewigen Jugend. Es ist uns gelungen, die Armut und das Alter zum großen Teil aus unserem Gesichtsfeld zu bannen, wobei die Angst davor mitspielt, auch erkennen zu müssen, daß es den Tod gibt.

An die Stelle des Heilens und des Erlösens ist die kollektive Heilserwartung getreten, in welcher die Sehnsüchte des Menschen in der Ge-

Seilschaft ihre Erfüllung finden. Das hat unsere Demokratie den Weg der Bedürfnisdemokratie gehen lassen, in der wir die Wünsche anmelden und vom Kollektiv erfüllt erhalten, in der wir nach Maß beglückt werden und Ordnung nicht nach Gerechtigkeit, sondern nach Maßgabe der Gleichheit erhalten.

Zwangsläufig verfallen wir dadurch einer Religion der Macht, wobei der Staat als Beglücker auftritt, die Verbände Propheten des Heils sind, und wir als Menschen nur noch Verantwortung abgeben, um uns eine Friedensordnung der Gewalt oktroyieren zu lassen. Gewogen wird nicht mehr das Argument, sondern die Stärke des Verbandes. Wer viel anbietet, ist stark, wer über die Fähigkeit verfügt, Massen zu beeinflussen und zu organisieren, ist Manager dieses Lebens.

Kommt nicht der Ubermut des Menschen darin zum Ausdruck, daß er glaubt, an der totalen Machbarkeit des Lebens angelangt, Herr über Leben und Tod zu sein? Darüber ist die Beziehung zum Mitmenschen verloren gegangen, denn es gibt keinen Nächsten mehr und keinen Dienst an ihm. Wir haben soziale Systeme errichtet, dort aber, wo der Sozialbezug wichtig ist, ringen wir um Worte. Die Konzentration einer urbanisier-ten Landschaft ist auch die Konzentration des Hasses unter Nachbarn, des Mangels an Hilfe und der Vereinsamung.

Wie sieht es mit unserer Sozialordnung aus, in der wir Ghettos entwickelt haben, in der neue Minderheiten bestehen und selbst ein Land mit einer großen historischen Erfahrung im Zusammenleben von Nationalitäten nicht mehr in der Lage ist, Minderheitenprobleme zu lösen? Wir zahlen Milliarden für Rentner und finden nicht mehr jene Dienstnehmer, die bereit wären, in Krankenhäusern und Altersheimen ärgste soziale Probleme zu lösen.

Wir leben in einer integrierten Welt und müssen eine Desintegration der Generationen feststellen. Man findet die Sprache nicht mehr, man kapselt sich ab. Von einem Gespräch kann in weiten Bereichen keine Rede mehr sein.

Wie sieht es in der staatlichen Sphäre aus? Mit der notwendigen minimalen Autoriät des Staates, mit der Lebbarkeit und Leistbarkeit staatlicher Institutionen und der notwendigen Sicherung für freie Entwicklungen? Spielformen des Lebens auf den verschiedensten Ebenen. Hat der einzelne überhaupt eine Chance, die notwendige Bildung zu erhalten, um mit seinen Problemen fertig zu werden? Oder ist er hoffnungslos zum Scheitern verurteilt gegenüber höherwertigen Institutio-

nen, die ihn im Sinne von Aldous Huxley nur noch als ein „Epsilon“ betrachten, während einige wenige „Alphamenschen“ die Entwicklung steuern?

Wie sieht es nicht zuletzt in der internationalen Sphäre aus? In der wir im Egoismus der entwickelten Länder vergessen, daß die Spannungen mit der Dritten und Vierten Welt uns auf einem Pulverfaß sitzen lassen. Einer Internationalität der wirtschaftlichen Entwicklung ist ein nationaler Egoismus gefolgt, den unsere Generation noch schwer bezahlen wird müssen.

Sicherlich sind alle diese Probleme nicht lösbar, wenn wir in der Politik nicht mit der notwendigen Ehrlichkeit und Offenheit vorgehen und zugeben, daß wir noch nichts gelöst

haben. Wer versucht, sich zu profilieren, muß deswegen noch nicht auf Konflikt setzen. Wer aber glaubt, nur durch Konsens ein Weiterleben zu garantieren, wird auch auf seine eigene Position vergessen.

Keine Zuständereform kann der Gesinnungsreform entbehren. Zu sehr haben wir uns daran begeistert, daß wir reformierten, wobei wir meistens nur den Fingernagel der sozialpolitischen Venus lackierten und darüber vergaßen, daß dieses einstmals verlockende Weib inzwischen recht alt geworden ist. Es geht heute nicht mehr um soziale oder wirtschaftliche Bezüge, sondern um den Bezug zum Menschen überhaupt.

Wir müssen erkennen, daß Menschen begrenzte,, vom Ausgang her ungleiche, endliche und deshalb auf gemeinschaftliche Bindung angewiesene Wesen sind. Wir müssen erkennen, daß wir auf Einsichten und Orientierungen angewiesen sind, die nicht nur aus unserer rationalen und subjektiven Erfahrung kommen können, sondern auch aus den Erfahrungen der Geschichte und der Institutionen. Wir müssen einsehen, daß es Wandel und Veränderung gibt. Ordnung ist nicht Statik, sondern ein Prozeß; eine ständige Fluktuation der Zustände, wobei freilich Grundsätze durchgehalten werden müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, muß man nicht nur verwalten und redlich sein, sondern auch regieren können. Eigene Vorstellungen und Grundsätze in die Tat umsetzen und nicht administrieren.

Der Mensch ist nicht nur ein gesellschaftliches, sondern auch ein kosmisches Wesen. Er ist hingeordnet auf die Natur, die er sich erhalten will und auf die Ordnung einer größeren Welt. Wir müssen vom Menschen nicht nur erwarten, daß er herrschen will, sondern auch, daß er dienen kann. In freiwilliger Selbstbeschränkung liegt eine der großen Chancen unserer Entwicklung und darin, daß wir versuchen, uns die nötige Unruhe zu erhalten, Fragen zu stellen, die Geister zu unterscheiden und jenen Mut zum Wagnis an den Tag zu legen, der den Gang an die Grenzen bedeutet. Wir müssen die Zeichen der Zeit lesen, die Anstiftung zum Unfrieden aufgreifen und aus jener inneren Ruhe heraus handeln, die einmal den Satz geprägt hat, daß der Glaube Berge versetzen kann. Dann auch wird uns der Aufforderungscharakter der Politik klar sein. Wer glaubt, auf Grundsätze verzichten zu können, wird der Bild- und Gesichtslosigkeit verfallen. Sollten wir aber keine Grundsätze mehr anzubieten haben, so ist das Urteil der Geschichte über uns schon gesprochen.

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