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... denn sie wissen nicht, was sie tun sollen

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Die Sinnkrise unserer Gesellschaft hat viele Ursachen und viele Gesichter: Mißmut, Aggression, Radikalisierung und spirituelle Heimatlosigkeit.

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Die Sinnkrise unserer Gesellschaft hat viele Ursachen und viele Gesichter: Mißmut, Aggression, Radikalisierung und spirituelle Heimatlosigkeit.

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Viele von uns beobachten im Alltag eine oft dramatische Radikalisierung hinsichtlich aggressiver Äußerungen, der Mißmut scheint zu steigen und auch das Gefühl der Resignation. Die Belastungen in den Betrieben werden mehr, und trotz des steigenden Wohlstandes sind wir keineswegs glücklicher geworden. Drogenmißbrauch, insbesondere Alkoholismus, nimmt beängstigend zu, manche suchen ihr Glück in merkwürdigen Sekten oder in esoterischen Zirkeln. Die Kirchen scheinen immer weniger passende Antworten auf die Seelennöte der Menschen zu finden.

Unsere Kinder fragen zunehmend nicht nur nach dem eigenen Lebenssinn, sondern nach dem Sinn einer Gesellschaft, die einen dramatischen Werteverlust erlebt und kaum mehr Richtschnur sein kann in der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.

Wie können wir diesen Prozeß des Werteverlustes und des Sinnverlustes verstehen? War es immer schon so? tTrübt uns nur das eigene Lebensleid in der Sicht der Tatsache, daß Leben an sich zumindest phasenweise schwer zu tragen ist und der Sinn des Lebens immer wieder neu gesucht werden muß? Eine endgültige Antwort zu geben wäre vermessen, doch gibt es eine Reihe von Indizien, die auf eine besondere psychische Krisen situation hindeuten:

Die Geschichte der Menschen ist eine Abfolge von Krisen, die der menschlichen Natur nicht gerade ein schönes Zeugnis ausstellen, denken wir nur an die unzähligen Kriege. Manche meinen, daß alle Kriege auch Glaubenskriege sind. Das heißt, bis in unser Jahrhundert herauf hatte die

Menschheit die Vorstellung, daß ein Jenseits, ein oder auch mehrere Götter als Zielvorstellung für Menschen im Jenseits attraktiv sein werden, so sie nur der Religion gemäß leben. Diese Religiosität wurde nicht nur im Dienste des Glaubens verwendet, sondern auch für viele profane Ziele. So dienten etwa die Kreuzzüge nicht nur dem hehren Ziel, die Stätten Christi zu befreien, es war auch ein Wirtschaftskrieg zwischen Okzident und Orient, der geführt werden konnte, weil die Teilnehmer Gläubige waren. Die Entstehung von Nationalstaaten hat vielen Menschen einen religiösen Inhalt vermittelt, sodaß sie - bis heute - bereit sind, für ihr Vaterland alles zu tun, bis hin zur Aufgabe des Lebens. Trotz der scheinbaren Renaissance der Nationalstaatsidee ist sie aber im Rahmen der Globalisierung unserer Welt im Grunde an ihr Ende gelangt. Für viele hat sie ihre Sinnstiftungskraft spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg für immer eingebüßt.

Neben der Nationalstaatsidee hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Kommunismus eine wesentliche Faszination auf Intellektuelle und Arme rund um den Globus. Der Zusammenbruch der Idee, einen „neuen Menschen” schaffen zu können, hat gerade für uns Heutige eine zentrale Auswirkung auf unser Sinngefüge. Der Zusammenbruch des Kommunismus, von Kundigen seit etwa 1970 bereits beobachtet, hat uns in seiner Wucht doch alle existentiell getroffen. Abgesehen von jenen, die in unserer Lebensform schon immer den Himmel auf Erden gesehen haben, fehlt vielen nun die „Gegenweit”. Und das Abwesendsein des anderen, der Gegenwelt, stellt uns, gleichgültig ob man Freund oder Feind dieser Gegenwelt war, vor enorme geistige Probleme.

Zunächst fehlt ein Feind-Freundbild. Das heißt, wogegen, wofür man gekämpft hat, ist nun weg. Ein Sinn, auf den sich die politischen Systeme seit 150 Jahren bezogen haben, ist abhanden gekommen. Die Erschütterung der politischen Klasse hat weitreichende Folgen bis in das Alltagsverhalten hinein: Politiker als Erklärer gesellschaftlicher Sinnzusammenhänge können entweder nur mehr stammeln, die eigene Ratlosigkeit eingestehen oder lügen. Für viele Menschen ist das aber keine ausreichende Sinnvermittlung.

Die Redlichkeit, die eigene Sinnkrise einzugestehen, bedarf eines großen Mutes, über den nicht alle Politiker verfügen. Dieses Eingeständnis ist aber das einzige, was in einer Sinnkrise wirklich zählt, weil es Energien zur Bewältigung mobilisiert.

Ein weiterer Faktor der modernen Sinnkrise ist die Entstehung der globalen Datennetze mit der entsprechenden Computerisierung. Sicherheiten von Büchern, für Jahrhunderte eine Stütze nicht nur der Intelligenz, sind plötzlich keine mehr. Informationen stehen plötzlich weltweit blitzschnell zur Verfügung, man kann aber den Hintergrund der Datenerzeugung oft nicht mehr verstehen. Niemand kann mehr genau wissen, wer der Absender der Daten ist, möglicherweise ist er selbst virtuell. Hatte man kürzlich noch gehofft, daß die transnationalen Datennetze auch eine demokratischere Welt, in der jeder partizipieren und somit personale Mächtigkeit erlebt, erzeugen würden, so wird jetzt immer deutlicher, daß Arme von diesen Netzen ebenso ausgeschlossen bleiben wie niedrig Gebildete. Dies deshalb, weil Englisch die Verkehrssprache geworden ist

Kongreß in Wien:

„Die Welt der Psychotherapie”

Zum ersten Weltkongreß (30. Juni bis 4. Juli 1996) der Psychotherapeuten laden das „World Council för Psychotherapy” und der „Österreichische Bundesverband für Psychotherapie” in das Wiener Austria Center. In 1.450 Vorträgen beziehungsweise Workshops werden Fachleute aus 73 Ländern aller fünf Kontinente die Entwck-lungen aus der Welt der Psycho-tlierapie präsentieren. Zu den Hauptreferenten zählen u. a. Viktor Frankl („Die Sinnfrage in der Psychotherapie”), Horst Eberhard Richter („Über das Böse”) und zahlreiche andere, weltbekannte Experten. Kardinal Franz König wird über „Religion und Psychotherapie” referieren.

Auskünfte: Kongreßsekretariat Tel. 0222/512 8091

(wird nur von einem Bruchteil der Weltbevölkerung beherrscht) und die Datenleitungen auf Dauer teuer werden (es gibt jetzt schon Wartezeiten bis zu Stunden im Internet).

Ein weiteres Menschheitsproblem hat sich in den letzten Jahrzehnten verschärft wie noch nie: die Energiekrise. Der Mensch ist von Energie abhängig wie jedes Lebewesen. Die Hauptbeschäftigung von Menschen ist Energiebereitstellung. Von der Beschaffung von Nahrung bis hin zu Kraftwerken beschäftigt Energie den Menschen, auch geistige Energie ist ein solcher Faktor der Zuführung von Lebenskräften.

Die Sicherung dieser Energien wird sicherlich eine der zentralen Aufgaben der Wissenschaft und der Politik in den nächsten Jahrzehnten sein. Gelingt dies einigermaßen, beruhigt dies auch die Menschen, gibt ihnen ein gewisses Ausmaß an Sicherheit.

Zugleich beunruhigt die Tatsache der existentiellen Unsicherheit, die durch die Tatsache der Sterblichkeit nicht aus der Welt zu schaffen, nur zeitweise zu verdrängen ist. Wie reagieren Menschen auf die beschriebenen Krisen unserer Gesellschaft?

Da sich diese Phänomene oft außerhalb der persönlichen Wahrnehmung oder nur teilweise wahrnehmbar abspielen, spürt man diese Krisen meist über die Massenmedien, die plötzlich ein entsprechendes Erzittern vermitteln. Die ständige Suche nach neuer Erschließung neuer Energiequellen, um nur ein Beispiel zu nennen, führt zu einer wahnwitzigen Abschottung der reichen Länder und zu einer Entsolidarisierung in der Bewältigung globaler Aufgaben. Subjektiv äußert sich dies in einer Angst vor den Fremden und einer egoistischen Lebensführung, die nur den eigenen Vorteil im Auge hat. Der Best an Caritas äußert sich dann nur in einer „Ablaßzahlung” an karitative Organisationen, zugleich aber zu einer emotionalen Verarmung. Die Konfrontation mit globalen Datennetzen führt zu einer völligen Irritation in der Hierarchisierung dessen, was für den einzelnen an Daten von Bedeutung und was nachrangig ist. Folgen sind einerseits alle Symptome einer Datenüberflutung von Kopfschmerz bis Verwirrung, andererseits eine Abkehr in eine Biedermeierwelt bis hin zur Technikfeindlichkeit.

Das Ende der „Gegenwelt Kommunismus” trifft uns alle zutiefst. Das kapitalistische Wirtschaften hat sich offensichtlich durchgesetzt. Aber es hat seinen Preis: Nicht mehr der Große frißt den Kleinen, nein, der Schnelle frißt den Langsamen. Es ist nicht angenehm, bei den Langsamen zu sein, aber auch nicht, bei den Schnellen sein zu müssen. Arbeitslosigkeit ist eine der gefährlichen Auswirkungen dieses Vorganges, der zü Depression, Aussichtslosigkeit und Sinnentleerung führt.

Das Ende der Nationalst^iatsidee führt einerseits zu übertriebenem Nationalismus als Versuch, damit das Unvermeidliche zu verhindern - mit allen tragischen Folgen wie wir sie derzeit in Bosnien zu sehen bekommen. Aber auch das Gefühl, von großen Systemen bestimmt zu werden, wie es etwa die EU in der Vorstellung von vielen darstellt, führt oft nicht zur Partizipation, sondern zu einer „Mir-san-mir”-Stimmung, die in Wahrheit nur ein Ohnmachtsgefühl kompensiert. Andererseits können sich daraus auch unrealistische Machtphantasien entwickeln.

Der Verlust an Glauben führt neben dem Ausweichen auf „weltliche” Glaubenssysteme (zum Beispiel der Glaube an das „Hier und Jetzt”) zu einer Flucht in Sekten mit oft kuriosen Glaubensinhalten aber rigiden Sozialsystemen, die Halt gewähren, aber auch zu Verzweiflung und Resignation. Nur manchen gelingt ein Leben ohne Glauben mit starker innerer ethischer Haltung.

Die spirituelle Heimatlosigkeit hat also viele Ursachen und viele Gesichter. Persönliche Lebensläufe haben natürlich ihren wesentlichen Anteil an den Sinnkrisen, besonders Traumatisierung in der Kindheit, insbesondere durch Lieblosigkeit. Aber die gesellschaftlichen Kräfte wirken konstant auf das Individuum ein und können es schnell aus dem Gleichgewicht bringen.

Wenn wir den einzelnen Menschen und uns selbst verstehen wollen - und das Bemühen zu verstehen ist eine starke Waffe gegen die spirituelle Heimatlosigkeit -, dann müssen wir die Spannung zwischen den Kräften in uns selbst und den überindividuellen Kräften im Auge haben.

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