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Verschwörungsmythen und Polarisierung: Freund, Feind, Ohnmacht

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Wie kommt es von existenzieller Verunsicherung zu Verschwörungsmythen und schließlich zu Polarisierung und Autoritarismus? Ein Erklärungsversuch in fünf Thesen.

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Wie kommt es von existenzieller Verunsicherung zu Verschwörungsmythen und schließlich zu Polarisierung und Autoritarismus? Ein Erklärungsversuch in fünf Thesen.

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Verschwörungserzählungen haben Hochkonjunktur – im Internet und vielfach auch bei den „Anti-Coronamaßnahmen-Demos“ auf der Straße. Zur Frage, warum diese Mythen entstehen und wie man auf sie reagieren kann, gibt es viele Interpretationen. Hier ein Antwortversuch – ausgehend von den philosophischen Überlegungen Albert Camus‘ zur menschlichen Existenz.

  1. Existenzielle Verunsicherung Der Mensch fragt nach dem Sinn der Welt, doch diese antwortet ihm nur mit Schweigen. Das ist der Ausgangspunkt der Philosophie des Absurden von Albert Camus. Wer nicht an Gott oder eine Religion glaubt, erlebt eine existenzielle Unsicherheit, die schwer zu ertragen ist. Laut Camus kann man auf zwei Arten darauf reagieren: Man kann sich einfachen Welterklärungen im Diesseits verschreiben und einer politischen Utopie nacheifern oder sich durch demokratische Revolte, Wahrheitssuche und Solidarität gegen Autoritarismus und einfache Heilsversprechungen auflehnen. Seit Beginn der Moderne stehen sich diese beiden Wege gegenüber: In einer Welt, in der Gott als Erklärungsmodell an Einfluss verliert, wollen ihn die einen durch weltliche Ideologien oder autoritäre Führer ersetzen, während die anderen das demokratische Verhandeln ohne Heilsversprechen und unter Akzeptanz der Unsicherheit bevorzugen. Manche halten auch an der Religion fest oder kehren zu ihr zurück. Camus‘ Überlegungen aus den 1940er und 50er Jahren haben nichts an Erklärungskraft eingebüßt. Im Gegenteil: Gerade in der aktuellen Krise scheinen sie von besonderer Relevanz. Die Welt ist komplexer geworden, vernetzter, schneller, unmittelbarer und schwerer verständlich. Selbst Menschen mit hoher formaler Bildung können viele Entwicklungen nicht mehr im Detail nachvollziehen. Die Globalisierung hat zu einem Pluralismus der Identitäten und Meinungen geführt und damit die Möglichkeiten vergrößert, aber auch die Unsicherheit erhöht. Wir können also davon ausgehen, dass die existenzielle Frage nach dem Sinn des Lebens mindestens ebenso relevant ist wie zuvor. Viele Menschen suchen nach Antworten in einfachen Erklärungen. Viele tun sich schwer damit zu akzeptieren, dass es einfache Antworten nicht gibt, dass die Welt zu komplex ist, zu widersprüchlich, um alles an ihr zu verstehen. Das ist ein erster, der menschlichen Existenz innewohnender Nährboden für irrationale Theorien und den Erfolg autoritärer Populisten.
  2. Vertrauensverlust in Eliten und Ungleichheit Zur menschlichen Ausgangslage einer existenziellen Verunsicherung kommt hinzu, dass in der komplexen Welt die Eliten an Zustimmung einbüßen. Vertraute man vormals noch weitgehend auf das, was Wissenschafter(innen) oder Politiker(innen) sagten, so nimmt seit einigen Jahrzehnten das Misstrauen in diese Akteure ständig zu. Zu weit sind sie einerseits von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt, als dass sich diese von ihnen verstanden oder vertreten fühlten. Zu nah sind sie andererseits in ihren Kommunikationsstilen an die Alltagssprache herangekommen, als dass man ihnen eine gewisse Überlegenheit in der Weltdeutung noch abnehmen würde. Es ist ein Paradox der Wissenschaft, dass sie schon längst aus ihrem Elfenbeinturm in die Niederungen der medialen Logik herausgetreten ist und dadurch gleichzeitig an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren hat. Debatten, die zuvor disziplinintern geführt wurden, kommen heute ins Fernsehen oder auf Twitter und büßen dadurch ihre Sachlichkeit ein. Wer aber nicht weiß, dass der fachliche Streit zur Wissenschaft dazugehört, glaubt, man könnte sich jede beliebige Sicht der Dinge zusammenbasteln. Die Berufspolitik hingegen verliert Vertrauen aus den ewig gleichen Gründen, die wir schon seit der Antike kennen: Versprechen, die nicht gehalten werden, die Verteidigung von Privilegien, die Verbandelung mit reichen Sponsoren, rhetorische Tricks oder Lügen usw. Hinzu kommt eine neoliberal gefärbte Erzählung von einem notwendigen Rückzug des Staates und von Gewinnern und Verlierern in einem alles durchdringenden Wettbewerb. Die Ungleichheit wird größer. Den traditionellen Eliten wird also nicht mehr zugetraut, auf die existenzielle Verunsicherung Antworten zu liefern oder für stabile Strukturen und Vertrauen zu sorgen. Gerade die aktuelle Pandemie macht deutlich, dass Legitimität und Vertrauen durch Partizipation und Dialog entstehen – und dass dieser Dialog aufgelöst oder ersetzt wurde durch messages, Slogans, Infantilisierung (Stichwort „Babyelefant“ und „Nasenbohren“). Die Auseinandersetzung, das Aushandeln zwischen den Gütern Sicherheit, Solidarität und Freiheit hat zu wenig stattgefunden. Freilich braucht Dialog eine gewisse Zeit, die in Krisen nicht vorhanden ist, was demokratische Prozesse erschwert. Dennoch wären bessere Aushandlungsprozesse möglich gewesen. Dass sie nicht stattgefunden haben, treibt jetzt immer öfter Menschen auf die Straße. Wer nicht einbezogen wird, tut seinen Unmut anders kund. Dass autoritäre Populisten diese Stimmung nutzen, ist dabei für viele zweitrangig. Sie wollen sich endlich Gehör verschaffen.
  3. Mangel an Demokratie-Erfahrungen Die beiden ersten Punkte befördern ein Gefühl der Lähmung und Ohnmacht gegenüber einer Welt, die schweigt und gegenüber Eliten, die keine einfachen und eindeutigen Antworten darauf anbieten. Dieses Gefühl der Ohnmacht ist nicht nur abstrakt, sondern auch real, und zwar dort, wo es um die Organisationen unseres Alltags geht. Dieser ist nach wie vor von starken Hierarchien geprägt, in denen die meisten nicht viel zu sagen haben. Ein großer Teil der Bevölkerung ist viele Stunden täglich gezwungenermaßen in Organisationen, die wenig Spielraum für freie Entscheidungen lassen. Im Job erfahren die meisten Menschen, dass Widerspruch oder Kritik an den Chefs zu Sanktionen führt. In Schulen erfahren Schüler(innen), dass sie wenig Mitsprachemöglichkeit haben, wenn es um die wichtigen Dinge geht, dass der Leistungsdruck steigt und ihre Macht gering bleibt. Wer in diesen hierarchisch organisierten Alltagssituationen aufbegehrt, riskiert seine Zukunft. Demokratie-Erfahrungen sind hingegen relativ selten. Sie beschränken sich im Politischen meist auf den Wahlsonntag. Oder eben auf Demonstrationen.
  4. Neue Medien Der vierte Aspekt ist die Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten durch neue Medien. Es ist eine Binsenweisheit, dass Twitter, Facebook und WhatsApp unsere Art zu kommunizieren massiv verändert haben. Das betrifft vor allem das Politische. Was früher bestenfalls am Stammtisch sagbar war, wird heutzutage gut genug befunden, in die Welt hinausgezwitschert zu werden. Die Logik dieser Medien ist auf Parolen, Skandalisierung, Klicks und Likes ausgerichtet. Der Dialog geht verloren, ein Tweet führt schnell zur Beschimpfung, zum Abbruch der Debatte, zur Polarisierung: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Wer mich kritisiert, will mir den Mund verbieten. Die Einteilung der Welt in Feinde und Freunde schreitet voran. Gegen die existenzielle Verunsicherung und die tägliche Ohnmacht kann man jetzt zumindest twittern, posten und die anderen in simple Kategorien stecken. Das scheint die Welt erträglicher zu machen.
  5. Politischer Kampf Die letzte These lautet, dass all die zuvor genannten Aspekte nur deswegen zur Polarisierung führen, weil bei aller Verzweiflung und bei allem Frust jetzt doch die Chance gesehen wird, die Oberhand zu gewinnen, der Komplexität eins auszuwischen, die Ohnmacht zu beenden. Nur wenn Menschen die Hoffnung haben, etwas verändern zu können, äußern sie sich politisch. Haben sie diese Hoffnung nicht, bleiben sie am Wahltag zu Hause und steigen aus politischen Diskussionen aus. Diesem Aspekt kann man also auch Positives abgewinnen. Wir sehen eine enorme Politisierung. Immer mehr Menschen beteiligen sich. Die Wahlbeteiligung steigt. Überall wird über Politik diskutiert. In vielen Fällen wirkt diese neue Politisierung beunruhigend – Stichwort Demos. Zu laut sind die Parolendrescher, zu leise erscheinen die Stimmen der Vernunft. Es ist Aufgabe der Politik, der Wissenschaft und Aufgabe der aufgeklärten Bürger(innen), sich in diesen Kampf um die Deutungshoheit einzumischen und ihn demokratisch fruchtbar zu machen. Nur eine Stärkung der Demokratie in allen Lebenslagen kann denen den Wind aus den Segeln nehmen, die einfache Erklärungen statt demokratischer Debatten wollen und eine autoritäre Wende anstreben.

Der Autor ist Politikwissenschafter an der FH Salzburg mit Schwerpunkt auf Demokratie-Fragen, Europa und Partizipation.

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