Europa fehlen gemeinsame Werte

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Der Werteforscher und Pastoraltheologe Paul M. Zulehner sieht heute folgende Polarisierung: "Hier die drei Großparteien, dort die Grünen und Liberalen."

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Der Werteforscher und Pastoraltheologe Paul M. Zulehner sieht heute folgende Polarisierung: "Hier die drei Großparteien, dort die Grünen und Liberalen."

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die furche: Wie wird wissenschaftlich der Begriff Wert definiert?

Paul Zulehner: Am besten nicht, ich helfe mir lieber mit dem Begriff Wichtigkeit: was den Menschen wichtig oder heilig ist, worüber sie nichts kommen lassen, was ihnen so wichtig ist, dass sie darum kämpfen würden. Der Begriff Werte ist zu sehr wertepolitisch besetzt und gilt leider als restaurativ-konservativer Begriff. Darum vermeide ich ihn in der Sprache der Forschung, denn die Forschung braucht eine Sprache, die Missverständnissen vorbeugt.

die furche: Ist allen Menschen etwas besonders wichtig? Gibt es nicht den Trend, alles "wertfrei" zu sehen?

Zulehner: Dieses sogenannte Wertfrei-Sehen kann man sich als exotischen Luxus auf dem Rücken einer Gesellschaft leisten, die gewisse Werte sichert. Wenn ich in Europa in einer Kultur lebe, wo der Wert Freiheit gesichert ist, wo ich mich darauf verlassen kann, dass Solidarität organisiert vorhanden ist in Form des Sozialstaates, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass der Respekt vor der Unantastarkeit der Person vorhanden ist, dann kann man es sich leisten zu sagen, individuell auf Werte zu verzichten, weil die, die man braucht, gesichert sind. Ich glaube, dass das die Werteparasiten sind im Fell einer Gesellschaft, die ausreichende Basiswerte besitzt.

die furche: Wie stark haben sich in den letzten Jahrzehnten die Werte in Europa verändert?

Zulehner: Ich bin absolut sicher, dass wir in einer interessanten Phase des Wertewandels leben, wobei es zwischen den drei uralten Werteströmen, die es in Europa gibt und von denen Europa lebt, eine neue Mischung gibt. Ich meine die Werte Freiheit, Solidarität und Spiritualität. Europa kam von einer Zeit mit einer relativ hohen Bewertung der Spiritualität in christlicher Form - bis hin zu Religionskriegen, man hat sich dafür die Köpfe eingeschlagen. Das hat der Religion und dem Wert Religion massiv geschadet, wodurch der Wert Freiheit aufgetaucht ist, Freiheit im Sinn der Aufklärung, der französischen Revolution. Man musste dann dieser neuen Freiheit immer schon die Solidarität abringen. Die war nicht gesichert mehr, die ist eher in der liberalen Freiheitskonzeption im Europa des 18. Jahrhunderts unter die Räder gekommen. Es gab dann in Westeuropa den Durchbruch der Freiheitskultur insbesondere seit den 68ern.

die furche: Was bedeutete 1968?

Zulehner: Das Ereignis 68 war, eine Elitekultur zur Massenkultur werden zu lassen. Das ist absolut geglückt, das war eine lautlose Kulturrevolution sondergleichen, die übrigens die Kirche noch nicht begriffen hat. In dieser Freiheitszeit haben wir uns dank eines ökonomischen Anreicherungsprozesses ein relativ hohes Maß organisierter Solidarität erlauben können. Die ist nicht individuell stark gewesen, aber bei uns in Europa zumindest organisiert sehr stark. Und wir haben in diesen Jahren einen unglaublichen Verfall der Spiritualität erlebt. Nun schaut es so aus, als wäre in diesen Bereichen ein Wandel im Gang, und zwar paradoxe Veränderungen, die nicht zu einer veränderten Gesamtlage führen, sondern nur zu einer Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung mit dem Ergebnis der Polarisierung.

Beispiel 1: Wert Freiheit: Wir beobachten, dass seit den 90er Jahren die Zahl der Menschen wieder zunimmt, die die lästige Last der Freiheit loswerden wollen. Es gibt inmitten der verbrieften Freiheitskultur eine Abwahl der Freiheit in Richtung Rechtsradikalismus, religiösen Fundamentalismus. Die Gurus haben wieder Zuzug, das Esoterische nimmt zu, das Rechtsnationale nimmt zu, Vereinfacher haben es leicht in überkomplexen Zeiten. Man weiß auch schon, wo die Quellen dieser Abwendung von der riskant gewordenen Freiheit liegen: in der Unübersichtlichkeit der eigenen Biographie und gleichzeitig im Schrumpfen der Daseinskompetenz, mit der Unübersichtlichkeit auch wirklich leben zu können. Hochgebildete Leute können das, aber der Bildungsdurchschnitt nicht. In einem Familiensystem wird noch dazu Überlebenskampf nicht trainiert, sondern eher Daseinsschwäche oder Ichschwäche produziert.

Die Freiheit ist so riskant geworden, dass man sie am liebsten wieder loswerden will. Es ist verrückt, dass die Freiheitskultur zu ihrer eigenen Totengräberin zu werden beginnt. Es gibt den Trend, der immer noch stark auf weitere Individualisierung und Demokratisierung, auf Selbststeuerung aus ist, aber es gibt auch wachsend eine Zahl von Menschen, die sagt, man muss wieder schauen, dass man nicht nur die Autofahrer, sondern auch unbotmäßige Schüler oder Drogensüchtige bestraft. Man setzt wieder politisch auf Ordnungssysteme.

die furche: Ihr früherer Buchtitel "Vom Untertan zum Freiheitskünstler" ist demnach überholt?

Zulehner: Der war richtig, weil wir damals gesagt haben, Österreich steht dazwischen. Wir haben keine Untertanen mehr, aber wir haben auch noch nicht die Freiheitskompetenz, die wir damals, 1990, brauchten, und wir haben damals offengelassen, ob die Entwicklung, wenn sie in diese Richtung geht, dort ankommt. Immer noch ist die Frage offen, momentan haben wir eher ein Auseinandertreiben der beiden Lager, des Freiheitslagers und des Ordnungslagers.

Wobei die zwei Lager nicht heißen: FPÖ hier und Grüne dort, sondern es heißt: hier die drei Großparteien und dort die Liberalen und Grünen, das ist die eigentliche Polarisierung. Das Wählerpotenzial der Liberalen und der Grünen ist hochkarätig antiautoritär, freiheitsbedacht. Das Wählerpotenzial der Sozialdemokratie, der ÖVP und der FPÖ ist hoch angstbesetzt, freiheitsverunsichert. Wobei die Verunsicherung die Männer weit mehr betrifft als die Frauen, die wesentlich mehr auf antiautoritäre Muster setzen.

die furche: Das Gleiche spielt sich natürlich zwischen dem liberalen und konservativen Kirchenflügel ab ...

Zulehner: Mit Sicherheit, aber das haben wir ja schon lange. Wobei das Ärgerliche daran ist, dass der liberale Kirchenflügel sich zur Zeit wegen der Enttäuschung über Konzil und Kirchenvolksbegehren selbst individualisiert und verflüchtigt. Ich glaube, die Antwort des liberalen Flügels auf schwierige Zeiten ist das Unsichtbarwerden in der Kirche - innerlich wegtreten, wenn nicht sogar austreten. Übrig bleibt die organisierte Rechte, die sich in vielfältigen Formen medial in Bewegungen und anderswo sichtbar macht, so dass von der Außenansicht her die Kirche zur Zeit eher ein Hort der Ordnung und der Sicherheit ist, als dass wir die Botschaft ausgeben würden, wir wären die erste und beste Adresse für die Freiheitsliebhaber.

die furche: Sind nicht alle drei genannten Werte - Freiheit, Solidarität und Spiritualität - wichtig und sollten sie nicht in Balance gebracht werden?

Zulehner: Die Spiritualität sondert sich eher ab, in Balance müssten Freiheit und Solidarität sein. Bei der Solidarität ist ja zu beobachten, dass - wie Matthias Horx geschrieben hat - nach Jahren der Entwicklung zu einem Hard-Individualismus, der auch finanzierbar war, jetzt die Leute sich wieder zu einem Soft-Individualismus zurücknehmen. Sie werden nicht bürgergesellschaftlich. Es ist nicht so, dass sie mit wehenden Fahnen sagen, ich möchte jede Minute meiner Freizeit in Vereinen tätig sein. Momentan gibt es schon wieder eine Erholung vom extrem solistischen Individualismus, weil der auch zu anstrengend ist.

Man sucht eher wieder entlastende Systeme, zieht sich wieder weniger aus Institutionen zurück. Das ist der zweite Wertewandel im Bereich der Solidarität. Der dritte Wertewandel ist sicher einer der tiefgreifendsten und betrifft die Spiritualität.

In den 70er Jahren mussten wir empirisch sagen, je moderner, je säkularer eine Kultur, zum Beispiel die städtische, ist, umso wahrscheinlicher ist sie auch religionslos. Jetzt müssen wir eigentlich sagen, je säkularer desto spiritualitätsproduktiver. Die Städte in ganz Europa, mit Ausnahme von Paris, erholen sich religiös. Die Leute meditieren wieder mehr, sie glauben mehr an einen persönlichen Gott, sie beten mehr, glauben über den Tod hinaus, sie beteiligen sich auch im Kern der Kirche stabiler in den städtischen Gebieten. Ich denke, dass diese Respiritualisierung so eine Art Aufstand gegen die Banalisierung und Funktionalisierung des Menschen ist. Ich glaube, dass für viele Leute dieses rund um die Uhr arbeiten und dann diese Suche nach dem nicht mehr überbietbaren Event und Fun irgendwo ins Leere läuft. Was macht man nach "Big Brother" noch?

Die Eskalation ist so unvorstellbar geworden, dass die Leute sagen, vielleicht suchen wir in die falsche Richtung, und es gibt so eine religiöse Suche mit neuer Qualität in unserer Kultur. Die Kirchen profitieren noch wenig davon, sondern Einrichtungen des pluralistisch-religiösen Marktes, die Esoterik, der Buddhismus, das Fernöstliche boomt geradezu. Wir haben nach der Wertestudie in Österreich ungefähr 35 Prozent, die man als Christen bezeichnen kann, obwohl wir mit den Evangelischen ungefähr 80 Prozent Kirchenmitglieder in Österreich haben. Die anderen sind eher synkretistischer Art, die verknüpfen die Auferstehung Jesu mit der Reinkarnation, das bringen die Leute spielend zusammen.

die furche: Gibt es bei den Werten signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Alten?

Zulehner: Generell war bisher die Regel, dass mit zunehmender Bildung und abnehmendem Alter der Autoritarismus sinkt und die Freiheitswilligkeit zunimmt. Das kippt aber jetzt, es wächst eine Generation der 18- bis 24-Jährigen nach, wo nicht mehr so sicher ist, dass ihnen die Freiheit das wichtigste ist, sondern die brauchen jetzt offenbar wegen der Vernachlässigkeit im familiären System wieder mehr Geborgenheit, mehr Zuwendung, mehr das warme Nest, das sie nie hatten. Ich vermute, das ist die Rache an der 68er Eltern-Generation. Wahrscheinlich gilt im Wertefeld die Regel: Was uns fehlt, wird uns wichtig.

Das ist eine Hypothese, die wir anwenden und anfangen wild damit zu prognostizieren. Zum Beispiel: Schuldverarbeitung wird wahrscheinlich wieder wichtig werden, weil die Leute merken, dass dort, wo der Mensch nicht heil ist bis an die Wurzel der Seele, er auch körperlich nicht gesund bleiben kann. Die Leute kapieren schon, dass es tiefer gehen wird. Bei den Jungen sieht man, vor allem bei den Geschlechterrollen, dass die besten Jahre für emanzipierte Männer- und Frauenrollen hinter uns liegen und die Jüngeren wieder das weniger anstrengende traditionelle Bild suchen.

die furche: Sowohl Frauen als auch Männer?

Zulehner: Beide.

die furche: Ihr Projekt ist Teil der Europäischen Wertestudie. Gibt es in Europa gemeinsame Trends, eine einheitliche Werteskala?

Zulehner: Das war ja eines der wichtigsten Ergebnisse aller europäischen Studien, dass jedes Land ein Sonderfall ist. Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber wenn man zum Beispiel den sehr sensiblen religiösen Bereich nimmt, haben wir in Europa hochreligiöse Kulturen wie Kroatien, welches noch stabiler religiös ist als Polen - oder Irland, dort gab es einen unglaublichen Einbruch in den letzten 10 Jahren dank der EU-Förderung und der Modernisierung. Ich glaube, dass dieses Inselreich eine derartig rasche Modernisierung durchgemacht hat, dass dort noch gilt, wie wir in der 70er Jahren gesagt haben, dass eine bestimmte Form der Modernisierung auch eine massive Erschütterung in traditioneller Form von Kirchlichkeit ist. Da sind die Werte wirklich unglaublich eingebrochen.

Wie übrigens auch in Belgien und Holland. Wie es sich dann auswirkt, zeigt, dass es genau die selben Länder sind, die die Euthanasiedebatte führen, Und da zeigt sich schon, dass vom kulturellen Hintergrund her sehr wohl auch der Gang der Politik mitgestaltet wird. Es gibt nicht nur die religiösen Kulturen, sondern wir haben mitten in Europa zwei atheistische Kulturen, nämlich die Ostdeutschen und die Tschechen.

Die Ostdeutschen sind so atheistisch wie die Bayern katholisch, so volkskirchlich atheistisch, dass es überhaupt keine Anzeichen dafür gibt, dass die Jungen dort in Ostdeutschland wieder in die Kirche hineinwachsen würden, was in anderen postkommunistischen Ländern am ehesten der Fall ist, wo sich gerade die Jugend sichtlich der Kirche mit einem wirklichen Gottesglauben auch messbar zuwendet.

die furche: Sie sehen also keine einheitliche europäische Werteskala?

Zulehner: Überhaupt nicht. Es gibt ein paar Basisvorstellungen wie, dass man sich das Leben selbst bestimmt, dass man das Beste aus dem Leben herausholen soll, aber sonst? Ja, dass die Familie in ganz Europa eine hohe Priorität hat - jetzt kann man fragen, weil wir sie für wichtig halten oder weil sie uns fehlt. Bei den jugendsoziologischen Studien wird Treue für sehr wichtig gehalten, wenn man die Realitäten ansieht, dann ist das eher ein Traumwert als ein Realitätswert.

die furche: Das Wort von einer "Wertegemeinschaft", das im Zuge der Sanktionen gegen Österreich gefallen ist, scheint also nicht zuzutreffen ...

Zulehner: Die europäische Wertestudie ist genau aus dieser Fragestellung entstanden. Man wollte wissen, ob es neben dem wirtschaftlichen Projekt auch so etwas gibt wie eine ausreichende Wertebasis. Diese Frage ist eigentlich nie hinlänglich oder positiv beantwortet worden, was auch heißt, dass es einer Politik bedarf, die wieder werteproduktiv sein könnte. Wenn man sich bemüht, über das wirtschaftliche Konzept Europas hinaus ein Solidareuropa herbeizuführen, ein Europa der Gerechtigkeit, der verbesserten Lebenschancen für möglichst viele, dann wäre das ein Stück Werteproduktion. Aber wie schwer wir uns mit bestimmten Werten tun, zeigt die BSE-Krise. Es wird noch zeigen die Euthanasiedebatte und wie wir mit Gentechnik und Menschenklonen umgehen. Dort fallen die Entscheidungen, ob wir Spitzenwerte besitzen oder ob nicht letztlich doch wieder nur ein sogenannter Wert am Schluss ausschlaggebend ist: Was nützt meiner nationalen Wirtschaft am meisten?

Das Gespräch führte Heiner Boberski.

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