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WIRTSCHAFTSETHIK HAT KONJUNKTUR

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Mit welcher inneren Einstellung werden wir das dritte Jahrtausend unserer Zeitrechnung einläuten? Wird das Wirtschaftsleben noch brutaler oder wird sich ein Geist der Verantwortung durchsetzen, vielleicht gar durchsetzen müssen?

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Mit welcher inneren Einstellung werden wir das dritte Jahrtausend unserer Zeitrechnung einläuten? Wird das Wirtschaftsleben noch brutaler oder wird sich ein Geist der Verantwortung durchsetzen, vielleicht gar durchsetzen müssen?

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Jahrtausendwenden scheinen eine außerordentliche Herausforderung für Fragen nach der Zukunft darzustellen. Um das Jahr 1000 breitete sich in der von der christlichen Zeitrechnung beherrschten Welt große Angst aus: man erwartete das Jüngste Gericht und damit das Ende der Welt.

Nun nähern wir uns dem Jahr 2000 und wieder gibt es Weltuntergangsstimmung. Diesmal sind es allerdings nicht himmlische Ereignisse, die uns das Ende der Welt androhen, sondern sehr irdische. Was uns nun zunehmend begründete Angst macht, sind die Folgen der Art und Weise, wie wir Menschen im letzten Drittel oder gar nur Viertel dieses auslaufenden Jahrtausends mit der Natur und mit unse-resgleichen (Beispiel: Problem der Armut) umgegangen sind beziehungsweise immer noch umgehen.

Das große Umdenken wird (wieder einmal) gefordert, eine neue Ethik müsse her, insbesondere in bezug auf die alles dominierende Wirtschaft, auf Technik und Politik, aber auch in bezug auf die manchmal wirklich besorgniserregenden Entwicklungen der Forschung, der Medizin und so weiter. Nun stellt sich so'manchem freilich die Frage, ob der in letzter Zeit auffallend lauter werdende Ruf nach Ethik bloß eine Modeerscheinung ist oder tatsächlich das Symptom eines Paradigmawechsels.

Prognosen über künftige Wert- und Einstellungsstrukturen sind, insbesondere unter Bedingungen moderner -oder postmoderner - Gesellschaften, äußerst schwer zu machen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Veränderungsgeschwindigkeit immer größer beziehungsweise die „Halbwertszeit" immer knapper wird (unter Halbwertszeit versteht man in diesem - umgangssprachlichen - Sinne die Zeitspanne, in der die Hälfte dessen, was man an materiellen und immateriellen - zum Beispiel Wissen - Gütern erworben hat, wertlos geworden ist), sondern auch deshalb, weil ein radikaler Einstellungswandel immer ein gerüttelt Maß an Betroffenheit voraussetzt (die Katastrophe von Tschernobyl scheint zum Beispiel ganz offenkundig noch nicht allzuviel verändert zu haben).

Die Zeit steht nicht still. Ständig erwachsen aus dem Bestehenden neue Strömungen und Tendenzen; diese setzen sich aber nicht einfach durch, sondern sie aktivieren immer auch die Selbstbehauptung des Hergebrachten. So rührt in aller Regel ein gut Teil der Aufmerksamkeit, die das Neue erregt, aus der simplen Tatsache her, daß es energisch genug bekämpft wird.

Aus diesem Kräftemessen kann nun idealtypisch dreierlei hervorgehen: entweder bleibt alles beim alten; oder das Neue setzt sich durch; oder es entwickelt sich etwas ganz anderes.

Wenn das Letztere geschieht, wenn sich also (unter dem Druck des Neuen) weder das Alte länger behaupten noch (zufolge der ungebrochenen Kraft des Alten) das Neue durchsetzen kann, dann muß sich zwangsläufig etwas ganz anderes herausbilden, etwas, mit dem sich dann eben doch (fast) alle identifizieren oder zumindest abfinden können. Wenn sich das Neue nahezu widerstandslos durchsetzen kann, weil es geradezu überfällig war, reden wir gern von einem Durchbruch oder einer revolutionären Neuerung. Wenn das der Fall ist, heißt das allerdings noch nicht, daß das Alte damit endgültig und für immer ausgelöscht ist, in den meisten Fällen kommt es nämlich irgendwann wieder, freilich oft erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten (das trifft, kann man wohl sagen, nun auch auf die Ethik zu). Wenn sich das Neue nicht durchsetzen kann, wenn es also so sang- und klanglos untergeht, wie es gekommen ist, dann war das Neue nur eine Mode (und genau das ist es, was viele angesichts des gegenwärtigen „Ethik-Booms" befürchten).

Wie ist es eigentlich zu dieser Konjunktur der Ethik gekommen? Zweifellos war die Serie von Skandalen, die das Vertrauen der Bevölkerung insbesondere in die Mächtigen im Lande (und wie man weiß, nicht nur in diesem Lande) schwer erschütterte, ein gewichtiger Auslöser. Aber das war eben doch nur ein Auslöser, die eigentlichen Gründe liegen tiefer und reichen weiter zurück, so etwa in die sechziger Jahre.

Die Arbeitswelt entfremdet

Damals begann ein bis heute offenbar nicht abgeschlossener Bewußtseinswandel, dessen Leitwerte im wesentlichen Befreiung (Emanzipation) und Selbstverantwortung waren. Die Arbeitswelt wurde als Ort der Entfremdung gesehen, in der das Menschsein und die Vernunft nicht das sein konnten, was sie sein könnten, in der sie gewissermaßen halbiert wurden, den traditionellen Autoritäten und Machtinstanzen wurde mit einer bis dahin jedenfalls in dieser Breite ganz unbekannten Respektlosigkeit, manchmal auch mit offenem Widerstand begegnet, soziale Strukturen, Institutionen, Gewohnheiten wurden nicht länger einfach als gegeben hingenommen, sondern mußten sich gefallen lassen, auf ihre Legitimität hin hinterfragt zu werden; vor diesem Hintergrund mußte die enorme Zunahme der Berufstätigkeit der Frauen gewissermaßen zwangsläufig zur Thematisierung derGleichberech-tigung führen und so weiter.

Zu diesen Veränderungen kam dann freilich noch die einer breiten Öffentlichkeit zuteil gewordene Einsicht in die „Grenzen des Wachstums" (bekräftigt durch den „Ölschock"), in den Wahnsinn und die unermeßlichen Kosten der Rüstungsindustrie (die sich vor dem Hintergrund des allabendlich auf Millionen Fernsehschirmen beobachtbaren Elends in der Dritten Welt nur umso absurder ausnahmen), die mitunter bereits bedrückend sinnenfällig gewordene Zerstörung der Umwelt (sterbende Wälder-, Ölpesten auf den Ozeanen) und. so weiter.

Moderne Gesellschaften haben sich zudem in eine Fülle hochspezialisierter, auf ihrem Gebiet zwar äußerst leistungsfähiger, aufs, Ganze gesehen aber blinder Einheiten ausdifferenziert, also zum Beispiel in Juristen, Techniker, Ökonomen, Politiker und so weiter. Das führt dann dazu, daß die Juristen ein bestimmtes Problem nur aus der Perspektive der gegebenen Rechtslage für lösbar halten, für die Techniker ist dasselbe Problem allerdings ein rein technisches (oder eben gar keines), für die Ökonomen muß sich die Sache rechnen, das Problem wird ihnen also zu einem der Wirtschaftlichkeit, die Politiker wiederum denken bei der Problemlösung nur an Fragen der Durchsetzbarkeit beziehungsweise an die aus ihr entstehenden Stimmengewinne oder -Verluste und so weiter. Entscheidend ist, daß all diese Experten nicht wirklich miteinander reden können, daß sie die Standpunkte der anderen nicht wirklich verstehen können. Komplexe Probleme können aber nur gelöst werden, wenn alle Perspektiven berücksichtigt werden - und die lassen sich nicht einfach addieren. So geht es dann zu wie in dem alten chinesischen Stück „Der Kreidekreis", in dem bekanntlich zwei Frauen um ein Kind streiten. Der Richter zeichnet einen Kreidekreis, stellt das Kind hinein und fordert die Frauen auf, das Kind bei je einer Hand zu nehmen -die wahre Mutter werde die Kraft haben, das Kind zu sich aus dem Kreis zu ziehen.

Glaube an „unsichtbare Hand"

Die Pointe in dem Stück ist natürlich: die wahre Mutter zeigt sich gerade daran, daß sie das Kind nicht zerreißen will, sondern es losläßt - dafür gibt es beim „wahren" Experten jedoch keine Entsprechung - und so sehen die Lösungen der großen Probleme dann auch aus.

Über all dem ging schließlich der Glaube an den Fortschritt, ging der Glaube an die „unsichtbare Hand", die alle selbstsüchtigen Aktionen und

Borniertheiten schon zum allgemeinen Wohl umwenden sollte, gewissermaßen zwangsläufig verloren. Der Slogan „The business of business is business - und nicht so etwas wie Verantwortung, Ethik und so weiter" (M. Friedmann) ist immer noch ein stilistisches Meisterstück, sachlich überzeugen kann er aber nicht mehr. Fortan ist es (wieder) nötig, gerade nicht nur an den eigenen Vorteil zu denken, sondern auch an die anderen, ist es nötig, das Ganze im Auge zu behalten und nicht nur den schmalen Streifen, den die Scheuklappen des Spezialisten freigeben, ist es nötig, selbst Initiativen zu ergreifen und Verantwortung zu übernehmen, die über das Geschäftemachen mitunter weit hinausgeht. Interessanterweise läßt sich diese Einstellung in letzter Zeit tatsächl ich bei einer wachsenden Zahl von Führungskräften beobachten.

Die Ethik ist also wieder da und sie hat sich in der Praxis ebenso rasch ausgebreitet wie in den Universitäten. Selbstverständlich setzt auch sie sich nicht ohne Gegenwehr durch: Während die einen für mehr Ethik in der Wirtschaft plädieren, verlangen andere schon wieder mehr „fighting spirit" von den Managern. Freilich muß eine allgemein akzeptierbare Ethik heute ein anderes Profil aufweisen als vor hundert, zweihundert, oder zweitausend Jahren. In gewisser Hinsicht haben wir es tatsächlich mit einer neuen Ethik zu tun, denn die Geschichte hat sowohl das Spektrum der Fragen verändert, die von der Ethik zu beantworten sind, als auch die Möglichkeiten, verbindliche Antworten auf solche Fragen zu geben.

Es ist in diesem Rahmen leider nicht möglich, die Konturen der neuen Ethik, die sich vermutlich auf Dauer durchsetzen werden, zu erörtern, nur so viel: Die neue Ethik wird gewiß toleranter sein müssen, und zwar in einem mehrfachen Sinn: sie wird nicht nur für Toleranz plädieren (weil die Welt ständig enger wird und die Kulturen näher zusammenrücken), sondern auch in sich selbst toleranter sein - sie wird also auf entweder/oder Auffassungen verzichten (entweder sind Normen absolut begründbar oder gar nicht, entweder ist eine Handlung gut oder sie ist es nicht und so weiter) und sich mit Präferenzen begnügen müssen (A ist B vorzuziehen, ohne deshalb schon als letztbegründet oder zweifellos gut gelten zu können).

Weiters wird die neue Ethik zwar auch nicht umhin kommen, Verzicht und Selbstbeherrschung einzufordern, aber sie wird primär darauf angelegt sein, Möglichkeiten zu eröffnen, Handlungsspielräume, Freiheiten zu vergrößern. Gelassenheit, Sinnlichkeit werden nicht verfemte, sondern wichtige Werte, ebenso das Intuitive, Spielerische (eine bemerkenswerte Bestätigung findet das im übrigen auch in Untersuchungen über herausragende Führungspersönlichkeiten).

Prognosen sind schwer zu machen. Zehn Jahre vergehen schnell und dennoch kann sich unglaublich viel verändern. Wird sich die Ethik in den Führungsetagen, im Wirtschaftsleben überhaupt durchsetzen und behaupten können? Angesichts der gegenwärtigen und auf uns zukommenden Weltlage könnte die Frage nur „nein" lauten, wenn es eine Alternative zur Ethik gäbe. Eine solche ist aber nicht in Sicht. Das gilt es zu begreifen.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Wirtschaftsuniversität Wien.

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