Ein Relaunch für die Republik!

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Welche Aufgaben soll der Staat übernehmen, was kann er getrost anderen überlassen? Diese Diskussion ist überfällig.

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Welche Aufgaben soll der Staat übernehmen, was kann er getrost anderen überlassen? Diese Diskussion ist überfällig.

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Immer öfter hört man heute die Meinung, daß es zwischen den politischen Parteien in Österreich eigentlich keine ideologischen Konflikte mehr gebe. Zu sehr hätten sich vor allem die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP einander angenähert. Alles dränge sich heute eben in der vielzitierten "Mitte".

Das stimmt freilich nur sehr bedingt. Wenn auch die Fragen der Wirtschaftsordnung nach dem weltweiten Scheitern des Sozialismus außer Streit stehen (in manchen Belangen sind Klimas Sozialdemokraten "kapitalistischer" als die Schwarzen), gibt es darüber hinaus eine ganze Menge von Themen, wo sehr wohl grundsätzliche oder weltanschauliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Nur: Es geht heute nicht mehr um Verstaatlichung oder Planwirtschaft, sondern um etwas anderes, nämlich um eine prinzipielle Grenzziehung hinsichtlich der Aufgaben des Staates.

Hier gelten freilich die alten Klischees von "links" und "rechts" nicht mehr. Alle politischen Kräfte (übrigens auch die Kirchen!) beziehen in dieser Frage inkonsequente und oft auch überraschende Positionen. Unser kritischer Blick muß also neu orientiert werden, um die aktuellen Linien der Auseinandersetzung zu erkennen.

Geradezu schlaglichtartig wird die Situation erhellt, wenn - wieder einmal - die Verwaltungsreform zur Diskussion steht. Redet man dann über den Staatsapparat und dessen Umfang sowie Finanzierung, kommt man an der prinzipiellen Frage nicht vorbei, wofür man eigentlich das Heer von Hunderttausenden öffentlich Bediensteten wirklich braucht. Eines steht jedenfalls fest und ist inzwischen zum Gemeinplatz politischer Befunde geworden: Jeder will vom Staat, daß dieser möglichst umfassend und effizient seine Ordnungsfunktion wahrnimmt, aber dann herrscht allgemeines Erschrecken, wenn sich die Legionen der dafür notwendigen Gesetzeshüter formieren. Allzu oft führt dann der scheinbare Ausweg zu einer verlogenen und schädlichen "Lösung" des Problems: Man nimmt in Kauf, daß immer mehr der heiß begehrten Vorschriften einfach nur auf dem Papier stehen und gar nicht mehr konsequent durchgesetzt werden können. Das fügt nicht nur dem Staat schweren Schaden zu, insofern es den notwendigen Respekt diesem gegenüber untergräbt, sondern teilt auch die Bürger in zwei Kategorien: einerseits die gesetzestreuen Braven, die gleichsam die Dummen sind, und andererseits die Schlauen, Rücksichtslosen, die zwar alle Vorteile nutzen wollen, aber den nur schwer überschaubaren öffentlichen Pflichtenkatalog möglichst ignorieren.

Das ist das eigentliche Dilemma des heutigen Staates. Es ist Folge unseres Systems der Parteiendemokratie. Die Republik wurde zum Vehikel, auf das die um Wählerstimmen Werbenden ihre zahlreichen und teuren Zusagen ans Volk packen. Der Politologe Heinrich Schneider meinte unlängst, die Dinge hätten sich eigentlich schon bis zur Auffassung entwickelt, "die Allgemeinheit, das heißt der Staat, ist im Grunde überhaupt für mein ganzes Wohlergehen zuständig". Kein Fuhrmann auf dem Kutschbock erhob sich rechtzeitig, um Einhalt zu gebieten und vor der Überladung zu warnen. Nun ächzt und stöhnt unser Fuhrwerk und droht im tiefen Boden stecken zu bleiben. So ertönt nun der Ruf, überflüssigen Ballast abzuwerfen. Dann wird eilig irgendwo hingelangt und man privatisiert, lagert aus oder schnürt Sparpakete, die den Transport erleichtern sollen.

Was geht also noch bei unserer lieben Republik - und zwar nicht nur jetzt, sondern auf Dauer? Was soll und kann dieser mittlerweile heillos überforderte Staat bewältigen? Um diese Grundsatzfrage wird unsere Regierung ebenso wie die anderer Länder nicht herumkommen. Jedes Zögern bei ihrer Beantwortung, jedes Beschönigen oder Vertrösten verschlimmert die Lage nur noch. Es muß daher unbedingt ein nationaler Konsens darüber gebildet werden, was Aufgabe des Staates und seines teuren Apparats ist und was eben nicht. Das ist natürlich ebenso schwierig, wie es notwendig ist (und wäre eigentliche Aufgabe einer großen Koalition).

Jedes Entlassen der Bürger aus der Obsorge in die eigene Verantwortung ist schmerzlich und schafft Unruhe. Wählerstimmen drohen verloren zu gehen und Klientelen die Treue aufzukündigen. Die bisherigen Bemühungen - und die gibt es, was der Gerechtigkeit zuliebe gesagt werden muß, sehr wohl - zeigten die Untiefen jedes Entlastungskurses. Man wartete (allzu)oft zu, bis die bitteren Umstände (Milliardenkosten) oder die Regeln der EU erzwangen, reinen Tisch zu machen. Sonst würde die Republik noch heute Banken führen, Maschinen und Stahl erzeugen, Telefonanschlüsse "bewilligen" oder die Gebäude des ehemaligen kaiserlichen Hofes hofrätlich ausländischen Besuchern öffnen.

Manches von diesem Rückzug des Staates ist nicht einmal so schlecht über die mühsamen Runden gebracht worden. Freilich ist damit aber erst ein Teil, und zwar nicht einmal ein großer, von der notwendigen Grenzziehung geschehen. Weites Gelände blieb unvermessen und harrt noch der politischen Kommassierung, damit fruchtbarer Boden besser genutzt werden kann.

Wenden wir uns also diesen Bereichen zu und tun wir das in Form eines Fragenkatalogs. Er mag auf viele geradezu bedrückend wirken, aber er zeigt nur einen Ausschnitt dessen, was zu klären wäre. Ist also der Staat nur für die Schulen oder auch für die Aufbewahrung und Erziehung der Kinder zuständig? Hat er sich darum zu kümmern, daß wir im Alter nicht nur grundversorgt sind, sondern auch unseren gewohnten Lebensstandard halten können? Muß er Mütter in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder versorgen? Hat er genauestens vorzuschreiben, was einer gelernt haben muß, um einen eigenen Betrieb aufzumachen? Soll er Personen, die ihr Geld sehr günstig veranlagen wollen, das Risiko dafür abzunehmen? Ist es seine Sache, zu entscheiden, wie viele Nierensteinzertrümmerer an welchen Orten stehen? Damit sind Bereiche angesprochen, in denen unser Gemeinwesen - zumindest auf Dauer - wohl eher überfordert wird.

Andere Problemkreise wiederum deuten hingegen auf einen voreiligen oder geradezu leichtsinnigen Rückzug des Staates hin. Ist dieser also etwa dafür verantwortlich, daß wir ein effizientes Verteidigungssystem haben, oder kann er sich mit wohlmeinenden Friedensinitiativen auf dem Boden der Neutralität begnügen und einfach wegsehen, wenn wir gegen-über immer mehr unberechenbaren Staaten in die Reichweite von Raketen mit atomaren, chemischen und bakteriellen Waffen geraten?

Setzen wir fort: Wie weit ist die Rechtsordnung dafür verantwortlich, wer welche Medien mit welchen Mitteln unter welchen Auflagen und mit welchen Förderungen betreibt? Ist zu überwachen, zu welchen Stunden Geschäfte oder Lokale ihre Tore geöffnet haben oder wer Zahnkronen zu welchen Preisen herstellen darf?

Jeder ist eingeladen, diese Liste aus eigener Sicht zu ergänzen. Überall finden wir dasselbe Phänomen vor: Regelungswut und Freiheitswunsch treffen aufeinander. Beidem wird scheinbar nachgegeben, um niemanden zu verärgern. Auf diese Weise verstrickt und verwirrt sich der Staat in Detailfragen, die oft geradezu lächerlich sind. Regelungen werden hervorgebracht, die nur mehr als Karikaturen einer wohlverstandenen Rechtsordnung angesehen werden können. Rund um dieses Geschehen weisen besonnene Leute händeringend darauf hin, daß die so erzeugte Flut von Normen jede vernünftige Verwaltungsreform unmöglich macht.

Fassen wir also zusammen und wiederholen wir: Es wird zu einer politischen Überlebensfrage dieser Parteiendemokratie, ob sie imstande ist, zu einer vernünftigen neuen Abgrenzung der Staatsaufgaben zu kommen. Eine solche existiert derzeit nicht. Schon ein Blick auf die Verfassung zeigt, welche Unzahl abstruser Sonderregelungen produziert wurde, um - immer wieder! - dem Staat die Möglichkeit zur Erlassung von Vorschriften auch dort zu eröffnen, wo er eigentlich nichts zu suchen hat (bei der Beschränkung von Taxikonzessionen etwa). Die Verantwortlichen scheinen noch immer nicht wahrhaben zu wollen, in welch unmögliche Situation sie sich selbst manövriert haben. Sie erklären sich einerseits für buchstäblich alles zuständig, haben aber andererseits immer weniger die Möglichkeit, alle schon bestehenden gesetzlichen Verpflichtungen durchzusetzen. Macht und Ohnmacht des Gemeinwesens wohnen heute unmittelbar nebeneinander. Die an sich florierende Firma Österreich leistet sich Zweige, die konkursverdächtig sind. Sie drohen den ganzen gesunden Betrieb in Gefahr zu bringen. Um es in der neudeutschen Sprache auszudrücken: ein Relaunch ist für das Unternehmen Staat überfällig geworden. Was gut ist, soll tüchtig produziert und unter die Leute gebracht, also auch beworben werden. Was überflüssig ist, gehört - begleitet von vernünftigen Sozialplänen - rasch abgestoßen. Nur: Wie schaffen das Politiker, die sich alle paar Jahre einem Votum jener Wähler ausgesetzt sehen, denen sie bis vor kurzem erklärt haben: "anything goes"? Die Lösung kann ja nicht darin bestehen, am alten Gewand Flicken anzubringen und zu hoffen, daß das ganze noch eine Weile halten und ganz gut aussehen werde.

Schon seit längerem beschäftigt man sich mit der Idee, einmal alle gewohnten Betrachtungsweisen zu verlassen und die Dinge unbefangen, gleichsam von außen anzusehen. Also sich etwa die Frage zu stellen, wie man ein bestimmtes System gestalten würde, wenn man es erst heute, aber mit den mittlerweile gewonnenen Erfahrungen neu errichten müßte. Oder einfach das Prinzip "zero base budgeting" ernst zu nehmen und nicht mehr das einfach weiter zu zahlen, was Produkt früherer Auseinandersetzungen war, sondern überall die Sinnhaftigkeit an sich zu prüfen, bevor man den öffentlichen Geldhahn öffnet. Ein solches radikales Umdenken gelang aber bisher nicht. Gute Vorsätze konnten den fatalen Zustand nicht beseitigen, wie er zuletzt anläßlich der Beratungen über die geplante Steuerreform deutlich sichtbar wurde. Jede wirklich mutige Änderung zöge Konsequenzen nach sich, welche die bisherige mühselige Balance in Gefahr brächten. Also verlegt man sich nun wieder auf das "Geschenk" einer allgemeinen, nur diffus erkennbaren "Entlastung". Der Staat hat sich in eine solche Unzahl von Geber-und-Nehmer-Beziehungen verstrickt und sich selbst so viel an Verpflichtungen aufgebürdet, daß er seine Gestaltungsfähigkeit eingebüßt hat. Dieser Befund ist erschreckend.

Es war bereits die Rede von der Verwaltungsreform. Sie erscheint angesichts der Umstände eigentlich zu kurz gegriffen. Was wir benötigen, ist nichts weniger als eine Staatsreform, die entschlossen in die Wege zu leiten wäre. Sie kann nicht von den Kräften bewältigt werden, die sich um das tägliche politische Geschäft und die Zustimmung bei ständig aufeinander folgenden Wahlen kümmern müssen. Nachdenkkapazität wäre jetzt gefragt, unbefangenes, ruhiges und gründliches Prüfen der Frage, wie ein moderner Sozialstaat im dritten Jahrtausend aussehen soll.

Der Streit um den prinzipiellen Charakter der Wirtschafts- und Sozialordnung, der unser zu Ende gehendes Jahrhundert bis aufs Blut gepeinigt hat, ist ausgestanden. Dabei darf man es aber nicht bewenden lassen. Zu sehr droht ein Abgleiten in ein schwammiges Gebilde mit kapitalistischen, liberalen und staatsinterventionistischen Elementen, aber ohne klare Konturen. Die besten Köpfe der Republik wären also jetzt zu versammeln. Sie hätten das zu bewältigen, was leider den Grundsatzdenkern in den politischen Parteien nicht mehr gelingt. Sie hätten in einer solchen Staatsreform-Kommission eine wunderbare Aufgabe. Deren Beginn wäre, den Katalog der bisherigen Staatstätigkeiten zu durchforsten und alles zu benennen, was auch in Zukunft Aufgabe der Gemeinschaft sein soll Als Richtschnur müßte jenes Prinzip gelten, das aus der katholischen Soziallehre kommt und inzwischen zum Allgemeingut wurde, nämlich das der Subsidiarität. Sie ist im Artikel 3b des Vertrages von Maastricht als durchgehend geltendes Baugesetz der Europäischen Union genannt. Dem könnte eine entsprechende Gesamtreform der Bundesverfassung folgen, welche die längst überfällige Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu regelt.

Worauf wird also eigentlich noch gewartet?

Zum Thema: Die Aufgaben der öffentlichen Hand Mit dem vorliegenden Beitrag von Herbert Kohlmaier möchte die Furche eine Diskussion befördern, die längst intensiv geführt werden müßte: Was sind die Aufgaben des Staates, wo ist seine ordnende Funktion in welchem Ausmaß vonnöten? Kohlmaier diagnostiziert für Österreich zurecht einen Mix aus "kapitalistischen, liberalen und staatsinterventionistischen Elementen, aber ohne klare Konturen". Das überrascht nicht, weil es eben kein klares Konzept, kein geordnetes Bemühen der Regierungsverantwortlichen um eine Neudefinition der Staatsaufgaben gibt; statt dessen dominiert die Anlaßgesetzgebung, und Debatten wie etwa jene über die Gewerbeordnung erwecken den Eindruck, jämmerlich der Entwicklung hinterherzuhumpeln. RM

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