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Das soziale Netz ist neu zu knüpfen

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Eine gründliche Erneuerung des Sozialversicherungssystems ist vorrangig, meint ÖAAB-Chef Herbert Kohlmeier. Sie bietet die aktuelle Herausforderung an die Politiker aller Lager.

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Eine gründliche Erneuerung des Sozialversicherungssystems ist vorrangig, meint ÖAAB-Chef Herbert Kohlmeier. Sie bietet die aktuelle Herausforderung an die Politiker aller Lager.

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Die wachsende Uberzeugung, daß unsere soziale Sicherheit reformbedürftig ist, hat im wesentlichen zwei Ursachen: einerseits die bestehende Finanzkrise, andererseits das Empfinden, daß die geltenden Gesetze den heutigen Bedürfnissen und Anforderungen einer modernen Sozialpolitik nicht mehr entsprechen.

Diesen Erkenntnissen steht aber auch Unwille zur Reform gegenüber. Gibt es doch keine eigentliche finanzielle Notsituation der Sozialversicherung, sondern vielmehr eine Budgetkrise, welche auf die sozialen Einrichtungen übergreift und von hier aus vorrangig bekämpft werden soll.

Dazu kommt, daß die Bevölkerung auf notwendige Neuerungen viel zu wenig vorbereitet wurde. Im Gegenteü: Jahrzehntelang hat man gepredigt, daß in der Sozialpolitik das eherne Gesetz des „niemals zurück" gelte, während man jetzt einschneidende Ände-

rangen zur Diskussion stellt, welche man teils beschönigt, teils als „Sicherungsmaßnahmen für die Sicherheit" rechtfertigen möchte.

Man wäre daher heute versucht, der Prozedur, also dem „wie" kommender Änderungen noch mehr Bedeutung zuzumessen, als den Inhalten, dem „was".

Die Situation ruft naturgemäß nach einem breiten Konsens der politischen Kräfte. An Versuchen, einen solchen herbeizuführen, fehlte und fehlt es nicht. Niemand kann aber übersehen, daß man die Volkspartei in der heutigen Situation mit einer gewünschten Zustimmung nicht überfordern darf.

Bei der letzten Regierungsbildung wußte jedermann, daß gewaltige Probleme heranstehen, und wenn man der ÖVP unter fadenscheinigen Gründen — in Wahrheit der ungestörten Machtausübung zuliebe — die Tür vor der Nase zugeschlagen hat, erklärte man damit eben, daß man auf ihre Mitwirkung verzichte.

Es entbindet dies allerdings die Opposition nicht der Aufgabe, ihre Vorstellungen darzulegen. Der Wähler honoriert eine „Ätsch"-Haltung nicht. Er nimmt eine Strategie des „Schmorenlassens im eigenen Saft" nicht als Alternative an.

Wenn man heute zu einer notwendigen Reform Stellung bezieht, muß man vorerst unterscheiden, ob man einen Weg der kleinen Schritte oder eine mutige Gesamtlösung vorzieht. Die Erfahrungen der letzten Zeit machen diese Entscheidung eher leicht.

Die Diskussion, die Minister Daliinger vor der Präsentation seiner ASVG-Novelle abführte, diente weniger der sachlichen Vorbereitung, als einem Abte-sten, wie weit er gehen könnte, wobei das Ergebnis gegenüber ursprünglichen Vorstellungen zurückblieb. Die Auseinandersetzungen wirkten zeitweilig geradezu qualvoll, ließen die Vermutung späteren Nachholens offen und dienten auf diese Weise mehr der Verunsicherung als der notwendigen Klärung.

Es würde also alles dafür sprechen, reinen Tisch zu machen. Es muß alarmieren, wenn die Meinungsforschung heute eindeutig ergibt, daß binnen kurzem das Vertrauen in die staatlichen Versorgungseinrichtungen rapid abgenommen hat.

Private Versicherer verzeich-

nen ein nie dagewesenes Interesse an Vertragsabschlüssen, so gut wie jeder stellt sich die Frage, was er einmal an Leistungen überhaupt noch zu erwarten habe. An die Stelle sozialer Sicherheit trat in einer noch vor wenigen Jahren unvorstellbaren Weise soziale Unsicherheit.

Diese Situation schreit geradezu nach einer zügig durchgeführten Neukonstruktion. Diese muß vor allem das arg gestörte Vertrauen in den Sozialstaat wieder herstellen. Gerade er verlangt ja die Beachtung des uralten Rechtsgrundsatzes „pacta sunt servanda", also die Wahrung wohlerworbener Rechte und durch Beiträge erwachsener Anwartschaften.

Auf die deklarierten Grandsätze der Sozialversicherung muß Verlaß sein, sonst verliert sie den Anspruch auf diesen Namen. Das bedeutet vor allem, daß Leistungskürzungen, die man für notwendig erachtet, auf die Versicherten beschränkt werden, die noch nicht ein größeres Maß an den Rechten, die man einschränken will, durch längere Beitragszahlung erworben haben.

Dieses Gebot wird man vor allem für die Pensionsversicherung zu beachten haben. Es ist in diesem Sinn unvertretbar, den Erwerbstätigen „dynamisierte" Beiträge abzuverlangen, den in Ruhestand befindlichen aber die Gegenleistung zu verweigern, wie es Dallinger mit seiner gebremsten Anpassungsformel plant. Lebensstandard darf nicht eine Funktion von Lebensdauer sein, zunehmende Armut nicht eine Konsequenz der Erreichung hohen Alters.

Richtig ist allerdings die Tendenz des Sozialministers, die bisherige deutliche Bevorzugung der Versicherten mit wenig Beitragszeiten abzubauen. Hier würde sich die Möglichkeit einer totalen Neuordnung anbieten:

Die Absage an das bisherige Prinzip einer — unfinanzierbaren — Art Gehaltsfortzahlung im Alter zu Minimalbedingungen und die Einführung einer wirtschaftlichen Betrachtung der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Generationenvertrag. Sie müßte bei regelmäßiger Erwerbstätigkeit zu einer Wahrung des Lebensstandards im Alter führen; dies bis zur Grenze des Gehaltsniveaus von Angestellten des höheren Mittelbaues.

Eine derartige wirtschaftskonforme Betrachtungsweise darf natürlich das Prinzip des sozialen Riskenausgleichs nicht vernachlässigen, ebensowenig familienpolitische Gesichtspunkte.

Hier nimmt die Verwirrung der Geister freilich eher zu: Die Linke stellt die Versorgung der Witwen erst überhaupt in Frage und geht dann vor dem Aufstand der vereinten Frauen in die Knie. Die Rechte verteidigt zwar die Ansprüche der Hinterbliebenen, verschweigt aber, daß es um den Ersatz von Unterhalt geht, dessen Verlust man prüfen muß — und

zwar auch bei Witwern, was man eher unbeachtet in Frage stellt.

Finanziell nicht so gewichtig, aber von der Sache her noch eindeutiger ergibt sich die Aufgabe einer Neukonstruktion der Unfallversicherung. Hier fehlt es derzeit noch gänzlich an einer Vereinheitlichung des Ersatzes verlorenen Erwerbs gemeinsam mit dem Pensionssystem. In einer modernen Sozialversicherung wird die Übertragung einer Aufgabe an mehrere Versicherungszweige, die völlig unabhängig voneinander vorgehen, auf die Dauer nicht Platz haben dürfen.

Eine ganze Fülle von möglichen, ja notwendigen Anpassungen ergibt sich auch in der Krankenversicherung. Das System ist erstarrt. Es blieb vielfach in der Bedarfsstruktur des frühindustriellen Zeitalters stecken und wurde zum Aktionsfeld einer Macht-und Geldteilung, an der Staat, verschwenderisch agierende Krankenanstalten und extrem zünftlerisch agierende Ärztekartelle um ihren Besitzstand streiten. Der Kranke und sein wahrer Bedarf bleiben oft auf der Strek-ke, das Unbehagen der Betroffenen wächst.

In dieser Situation stellt die Volkspartei eine Auflockerung des Systems zur Diskussion, das dem Versicherten die Wahl zwischen verschiedenen, gleich teuren Leistungsvarianten ermöglicht und die verkümmerte Selbstverwaltung entscheidend beleben will. Wettbewerb und Markt sollen nicht oberste Prinzipien des sozialen Geschehens sein; sie aber gänzlich zu verbannen, ist ebenso falsch — was nicht nur für diesen Bereich gilt.

Wer an eine Reform der Sozialversicherung denkt, wird auch der Eigenvorsorge einen angemessenen Platz zuweisen müssen. Es ist nicht nur finanziell geboten, sondern auch der gewünschten

„Der Bürger weiß, daß er keine sozialen Geschenke zu erwarten hat."

Entwicklung zu höherer persönlicher Verantwortung dienlich, die staatliche Riskenabdeckung auf eine ausreichende Grundvorsorge zu konzentrieren, das Mehr aber an eine öffentlich geförderte Eigenvorsorge abzutreten.

Eine gründliche Erneuerung des Systems bleibt also — unabhängig von den heutigen Machtkonstellationen — vorrangige Aufgabe der Politik. Der Versuchung, das Pro und Kontra der notwendigen Schritte in parteipolitisches Kleingeld umzumünzen, wird bis zur nächsten Wahl kaum widerstanden werden können. Sollte es aber nicht wenigstens einen stillen Konsens über wesentliche Linien geben, vorläufig bis zur Neuformierung der politischen Kräfte?

Der Bürger wartet mit zunehmender Verdrossenheit. Er weiß längst, daß er keine Geschenke oder soziale „Zuckerln" mehr zu erwarten hat.

Man sollte sich nicht zuletzt der sozialen Sicherheit zuliebe darauf besinnen, was Regieren bedeutet. Die Freude oder auch das Mißbehagen am politischen Amt ist den Wählern total gleichgültig, Machtkämpfe und nutzlose Attacken machen ihn verärgert. Ob Politik in Österreich wieder einen echten Handlungsspielraum in Sachfragen gewinnt, wird sich nicht zuletzt am Thema Soziale Sicherheit erweisen.

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