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Vorsorge statt Fursorge

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Die in unserer Zeit so verbreitete Existenzangst führt zu einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis, dessen Erfüllung sich die meisten Menschen von einem immer weitergehenden Ausbau der sozialpolitischen Sicherungen erwarten. Je weiter aber unsere Sozialgesetzgebung entwickelt wird, desto erheblicher werden die Zweifel, ob auf diesem, Wiege wirklich jene Geborgenheit des modernen Menschen gefunden werden kann, nach der er so dringend verlangt. Die Sozialpolitik unterliegt einem zunehmenden Vermachtungsprozeß, sie wird immer mehr von den Interessenverbänden beherrscht. Die nicht oder nur unzureichend organisierten Gruppen in der Gesellschaft — denken wir nur an Rentner, kinderreiche Familien, Kleinbauern, Kleingewerbetreibende, Heimarbeiter. Jungakademiker — stehen im Schatten einer vermachteten Sozialpolitik. Wir brauchen in der Sozialpolitik endlich eine Neubesinnung auf die naturgegebenen Aufgaben; dabei geht es um die Schaffung eines Sozialkonzepts, das die Möglichkeiten und Grenzen einer sinnvollen Sozialpolitik aufzuzeigen hätte.

Das GrundzieJ jeder Soiißlpß^&^jrt ^ Schaffung jenes Ausmaßes ah sozialer Sicherheit, das der Naturordnung entspricht, das also nicht die für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebenserfüllung notwendige Freiheit des Einzelmenschen bedroht. Sozialpolitik ist ihrem Wesen nach subsidiär, die Vorsorge des einzelnen für sich und seine Familie hat immer Vorrang! Daher ist es von entscheidender Bedeutung, durch die Sozialgesetzgebung den Leistungswillen nicht zu beeinträchtigen, sondern diesen zu fördern. In diesem Sinn brauchen wir eine produktivitätsbestimmte und -bewußte Sozialpolitik! Solche soziale Investitionen würden ebenso wie die wirtschaftlichen den Wohlstand vermehren. Heute bedroht unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung die Tendenz nach schrankenloser Ausdehnung der sozialen Sicherungen. Es genügt nicht, daß die Sozialpolitik an den Symptomen eines solchen übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses herumkuriert, sondern es geht darum, die ungesunden Auswüchse des Versorgungsdenkens zu überwinden. Wir können einen echten Wohlfahrtsstaat nur schaffen, wenn wir zugleich einen Staat der freien Entfaltungsmöglichkeiten wollen; nur dieser kann die Lasten des Sozialstaates auf die Dauer tragen, nur in einem solchen Staat der Möglichkeiten und Chancen kann das Sicherheitsstreben auf die Dauer auf jenes gesunde Ausmaß beschränkt werden, das die gewöhnlichen Risiken in Rechnung stellt, sich im übrigen aber zu einem bestimmten Teil auch auf Sicherungen aus eigener Kraft verläßt.

Besonders offensichtlich ist das Dilemma unserer Sozialversicherung. Das planlose Hin und Her in der jüngsten Gesetzgebung in diesem Bereich ist weiten Kreisen der Bevölkerung sehr deutlich bewußt geworden: einmal eine gewisse Kostenbeteiligung der Versicherten, dann wieder das Gegenteil; weiter erinnern wir an den Versuch, Mittel des Kinderbeihilfenfonds für die Sanierung der Krankenkassen heranzuziehen. Ein deutliches Anzeichen der Konzeptlosigkeit in diesem Bereich ist auch die Übertragung von Leistungsaufgaben der Gesundheitsverwaltung an die Sozialversicherung. Gerade die Sanierung der Krankenkassen ist ein Problem, mit dem wir in kurzer Zeit wieder zu tun haben werden, weil hier bisher an Stelle dauerhafter Lösungen nur Flickwerk gesetzt wurde. Auch im Bereich der übrigen Sozialversicherung sind die Fehlentwicklungen immer offensichtlicher: Die Hypertrophie der Versicherungsbürokratie, die zunehmende Konzentration und Zentralisierung bringt einen Ver-machtungsprozeß besonderer Art mit sich, der nicht nur die Freizügigkeit der Versicherten bedroht, sondern auch die wirkliche soziale Sicherheit fühlbar vermindert, weil der einzelne einer übermächtigen und mehr und mehr unkontrollierbaren Bürokratie entgegentritt, die im Versicherten allmählich:“ eine'' Btttstetreär sieht. Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Sozialversicherung zwar Sicherungen- .Jür^dmi-bedeutende Kosten bringt, aber dann an Leistungen spart, wenn wirkliche Katastrophen im Leben der Versicherten eintreten; so wird sie immer mehr zweckwidrig.

Für die Neuordnung der Sozialversicherung hätten folgende Grundsätze zn gelten: Soziale Sicherheit läßt sich durch soziale Fürsorge, Versicherung und Versorgung verwirklichen. Der Eigenverantwortung des Menschen entspricht am meisten das Versicherungsprinzip; dem immer weiteren Vordringen des Versorgungsprinzips wären daher gewisse Grenzen zu setzen. Die soziale Fürsorge aber wäre immer mehr durch echte Versicherung zu ersetzen, weil ein fester Anspruch auf eine Rente oder andere soziale Leistung eine bessere Sicherheit schafft als die Abhängigkeit von Ermessensentscheidungen einer Fürsorgestelle. Es steht außer Zweifel, daß die Sozialversicherung noch nach verschiedenen Richtungen erweitert werden muß. Wenn Gruppen einbezogen werden, die heute ein hohes existentielles Risiko zu tragen haben, für die etwa eine Erkrankung zur Katastrophe werden kann — denken wir nur an Kleinbauern —, so ist es offensichtlich, daß hier durch eine Sozialversicherung nicht die persönliche Freiheit verringert, sondern eine solche erst begründet wird. Anderseits aber ist die Ausdehnung einer Zwangsversicherung auf Kreise, die eine solche Versicherung weder wünschen noch brauchen, abzulehnen. Dem weiteren Ausbau der Sozialversicherung hätten also exakte Untersuchungen über das Versicherungsbedürfnis vorauszugehen. Das Subsidiaritätsprinzip als Gliederungsprinzip verlangt an sich eine möglichst weitgehende Dezentralisation; sicher ist eine Auflösung bestehender Institute eine Utopie, immerhin sollte aber der sehr fühlbaren Tendenz nach immer weiterer Zentralisierung, nach Ausdehnung der Risikogemeinschaften auf die gesamte Bevölkerung entgegengewirkt werden. Eine Sozialversicherung unter Berücksichtigung berufsgemeinschaftlicher Gegebenheiten und durch Institute mittlerer Größe ist ohne Zweifel wirtschaftlicher als die Zusammenfassung in Mammutinstituten mit einem völlig anonymen und unpersönlichen Betrieb, bei dem die Inanspruchnahme ungebührender Versicherungsleistungen viel weniger verhindert werden kann. Von den Mammutinstituten ist nur noch ein Schritt zur völligen Verstaatlichung der Sozialversicherung, bei der es dann aber durch die Abhängigkeit der gesamten Bevölkerung vom Staat eine wirkliche soziale Sicherheit nicht mehr geben würde.

Es ist ausdrücklich vor einer völligen Egalisierung in unserer Sozialpolitik zu warnen. Eine solche Sozialpolitik ist insofern sinnwidrig und gemeinwohlwidrig, als sie die in der Natur der Sache gelegenen Unterschiede in der Bevölkerung — vor allem in der Leistungsfähigkeit (Kostenbeteiligung) - nicht berücksichtigt.

Echte soziale Sicherheit läßt sich heute nicht mehr allein durch Vorsorge für die üblichen Risiken des Lebens, wie Krankheit, Alter, Tod des Versorgers, Unfall, Niederkunft, gewährleisten, sondern nur durch eine dauernde Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Existenz. Dies bedingt aber eine entsprechende Einkommens- und Eigentumspolitik: Eine Einkommenspolitik, die sich das Ziel setzt, die Einkommen aller heute benachteiligten Bevölkerungsgruppen allmählich anzuheben und eine der sozialen Gerechtigkeit mehr entsprechende Einkommensverteilung zu erreichen, erfordert die Koordinierung einer Fülle wirt-schafts- und sozialpolitischer Maßnahmen; eine Politik der sozialen Sicherheit geht daher weit über die Sozialpolitik hinaus. Die Tatsache, daß alle kollektiven Sicherungen nicht ausreichen, eine wirkliche Geborgenheit des modernen Menschen herbeizuführen, drängt zu Maßnahmen, eine breite Streuung des Privateigentums zu erreichen. Selbst wenn nur in Notfällen darüber verfügt wird, bleibt die Sicherheitsfunktion des Eigentums doch erhalten und gewinnt auch über das Wirtschaftliche hinaus eine Bedeutung, und zwar für die Formung der Persönlichkeit, für eine gewisse Eigenständigkeit und Eigenverantwortung. Mit diesen Werten sind aber die wichtigsten Voraussetzungen gegeben, das übersteigerte Sicherheitsstreben auf ein gesundes Maß zurückzuführen.

Die Erarbeitung eines Sozialkonzepts auf weite Sicht an Stelle einer von den Interessen des Augenblicks diktierten Sozialpolitik wird für eine aus christlichem Geist kommende, am Grundwert der Freiheit orientierte Gesellschaftsauffassung so vordringlich, weil die Überlassung der sozialpolitischen Initiative an die Sozialisten mit untrüglicher Sicherheit den Versorgungsstaat bringt. Noch immer ist in den nichtmarxistischen Parteien und Gruppen ein gewisses Ressentiment im Bereich der Sozialpolitik nicht überwunden, noch immer wird eine Verteidigungsstellung vorgezogen, anstatt eigene sozialpolitische Initiative zu entfalten. Daher liegt eine der großen Chancen des Sozialismus in der Sozialpolitik. Es ist einer der fundamentalen Grundsätze der katholischen Soziallehre, daß eine sinnvolle Sozialpolitik immer dahin zu arbeiten hat, den Weg zu wirklicher sozialer Reform zu bereiten; um dieses Einmünden der Sozialpolitik in die Sozialreform zu gewährleisten, ist ein nach klaren Ordnungsprinzipien erarbeitetes Sozialkonzept unerläßlich.

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