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Krise der sozialen Sicherheit?

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Es war beim Sdilußvortrag der vom Katholischen Sozialwerk für Österreich einberufenen „Sozialen Woche“, als sich spontan meine Blicke mit denen des Leiters eines Arbeitskreises trafen: Hatten wir nicht erst einige Tage vorher über dasselbe Thema gesprochen und hatte ich dem katholischen Wissenschaftler nicht fast wörtlich dasselbe gesagt, was uns, jetzt allen der Vortragende im vollendeten Französisch erklärte: daß sich die .soziale Sicherheit“ in einer Krise befände? Und daß sie, die man mit Recht als größte Errungenschaft der Neuzeit preise, auch unvorhergesehene und unerwünschte Folgen aufweise, die imstande seien, das ganze kunstvolle Gebäude zu gefährden. Ich erinnerte mich genau, daß mein seinerzeitiger Gesprächspartner meine Mitteilungen und Angaben nicht ganz glaubwürdig und etwas einseitig fand. Und nun war er einigermaßen überrascht, aus dem Munde eines vorurteilslosen und von österreichischen Krankenkasseninteressen sicherlich unberührten französischen Wissenschafters die gleichen Feststellungen zu hören wie seinerzeit von mir...

In der Entwicklung der europäischen Sozialpolitik kann nämlich eine gewisse Gleichartigkeit beobachtet werden, die teilweise ihren Grund sicherlich in einer fast gleichmäßigen Entwicklung der technischen Möglichkeiten hat. Die sozialpolitischen Maßnahmen in den verschiedenen Ländern gingen fast überall vom Armenrecht aus, durch das der Staat und die Gemeinden ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit garantierten. Die Fürsorgemaßnahmen wurden durch sie erweitert und ergänzt, insbesonders wurden immer mehr Menschen in den be-fürsorgten und anspruchsberechtigten Personenkreis einbezogen. Am Endpunkt dieser Entwicklung steht der moderne Sozialstaat, der als seine wichtigste Aufgabe die Gewährleistung der sozialen Sicherheit ansieht. Er erfüllt diese Aufgabe in verschiedener Art und Weise, je nach der sozialen Tradition des Landes, zumeist durch Benützung der von Arbeitern und Angestellten geschaffenen Selbsthilfeeinrichtungen, der Kranken- und Rentenkassen, sowie durch öffentliche Fürsorgeeinrichtungen, Invaliden- und Arbeitsämter. In Österreich wurde ein System der sozialen Sicherheit entwickelt, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann und ziemlich umfassend ist. Durch -die sozialpolitische Gesetzgebung wurden diese Selbsthilfekassen allmählich umgewandelt in die heutigen Krankenkassen und Sozialversicherungsinstitute. Dadurch ergab sich zwar optisch eine Trennung von den Fürsorgemaßnahmen der öffentlichen Hand, in der Praxis ergaben sich jedoch immer mehr Berührungs- und Uber-schneidungspunkte, so daß heute die Trennung der Versicherungsleistungen von den Fürsorgeleistungen längst ihren Sinn verloren hat, da die Krankenkassen und andere Sozialversicherungsträger weitestgehend mit Fürsorgeausgaben belastet sind, die weit über den Versicherungszweck hinausgehen. Heute sind alle Maßnahmen der sozialen Fürsorge, der sozialen Sicherheit und der Pflege der Volksgesundheit Betätigungsgebiete des modernen Staates, die er allerdings zum Teil anderen Organen überläßt. Man muß sich der inneren Zusammenhänge zwischen den Fürsorge- und Versiche-rungszweigen bewußt sein, um erkennen zu können, wo die Möglichkeiten einer von allen geforderten künftigen Reform liegen. Jedenfalls besteht hier die Möglichkeit großer Vereinfachungen und Reformen.

Die Träger der sozialen Sicherheit in Österreich, die Sozialversicherungsinstitute, sind in den letzten Jahren in Not geraten. Und sie stehen im Mittelpunkt nicht immer sachlich geführter Diskussionen. Sie sind zwar dem Namen nach noch „Versicherungsinstitute“, in Wahrheit aber eine dem Beschäftigten und seinem Arbeitgeber auferlegte

Sondersteuer; nicht Ausdruck einer Riske oder einer Leistungshoffhung, sondern eine dem Einkommen angemessene, prozentuelle, nicht in die Zukunft wirkende, sondern die Leistungen an andere in der Gegenwart ermöglichende Abgabe. Die Teilung dieses Beitrages in einen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag ist nur mehr eine verwaltungsmäßige, aus der Vergangenheit stammende Tatsache, die Verwaltungskosten und außerdem Mehrarbeit verursacht. Das Ausmaß der Leistungen hat mit den Beiträgen nichts mehr oder nicht mehr viel zu t u n, während in einer wirklichen „Versicherung“ der Beitrag, die „Prämie“, weitestgehend von der Riske abhängt, so daß Prämienerhöhungen beim Steigen und Erstattungen beim Sinken der Riske üblich sind. Obschon in der Sozialversicherung der Konnex zwischen Beitrag und Leistung längst überholt wurde, spukt der Prämienbegriff, der dem Versicherungsbeitrag diametral entgegengesetzt ist, in den Köpfen der Versicherten und der Erfüllungsgehilfen herum.

Die Sozialversicherung muß Leistungen auch dort erbringen, wo überhaupt keine oder nur geringfügige Beiträge bezahlt wurden, oder Leistungen müssen in einem Ausmali erbracht werden, das versicherungsmathema-tlsdi durch Beiträge nie gedeckt werden kann.

Die Sozialversicherung muß beispielsweise gerade für die untersten Beitragsklassen erfahrungsgemäß die größten Leistungen erbringen, Leistungen, .die bei Anwendung versicherungsmathematischer Grundsätze einen Beitrag erfordern würden, der ein Vielfaches des heutigen Beitrages ausmacht.

Wir müssen all unser Denken von jahrzehntelangen Vorstellungen, die zum Ballast wurden, befreien, bevor wir' uns überhaupt mit Problemen der sozialen Sicherheit beschäftigen. Und als zweites müssen wir die politische Brille bei der Beschäftigung mit solchen Problemen ablegen, weil sie den Blick für die tatsächlichen Verhältnisse trübt und zu einer falschen Stellungnahme zwangsläufig verführt.

Wo ist die Fehlerquelle?

Daß die österreichischen Sozialversicherungseinrichtungen in Not geraten sind, ist nicht Schuld ihrer zum Teil sozialistischen Leitungen, die sich bestimmt bemühen, ihre gewiß nicht leichte Aufgabe zu lösen. Es wird vielleicht heute nirgends so intensiv — und billig — gearbeitet und „geleitet“, wie gerade bei den Sozialversicherungsträgern, deren Anteil an Verwaltungskosten von Jahr zu Jahr sinkt. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von einer „Sdiuld“ der Sozialisten sprechen kann, so liegt sie eher auf einem anderen Gebiet. Sie gingen und gehen von einem Menschenbild ajus, das es nicht gibt. Sie hatten bei der Gründung und Propagierung ihrer Institute — womit sie eine wichtige Mission erfüllten, die eigentlich nach dem Rundschreiben „Rerum Novarum“ den Christen zugestanden wäre — übersehen, daß der Zustand der Hilfsbedürftigkeit auch willkürlich herbeigeführt werden könne, ja, daß es unmöglich ist, ihn objektiv einwandfrei festzustellen. Sie sind der großen modernen Täuschung unterlegen, den Geschichtsverlauf voraussehen und gestalten zu können. Solange jedoch Menschen leben, werden an ihnen alle Theorien zuschanden werden, weil es zuletzt an ihnen liegt, was aus ihnen und ihren Lebensformen wird. Und der Mensch ist in seinen Tiefen unfaßbar, unwäg- und unmeßbar, unberechenbar. Im Entscheidenden kann er nicht das abschieben, worauf es ankommt, kann sich nicht auf Geschichte, Milieu, wirtschaftliche Lage und so fort ausreden. Aber die Menschen tarnen 6ich gern, um geschützter zu sein, und fliehen aus der Unfreiheit und Zwanghaftigkeit der technisierten Zivilisation, die zuletzt alle unbefriedigt läßt, in den Krankenstand und Rentenbezug. In der Vermassung unserer Zeit liegt so viel Unfreiheit beschlossen, daß viele einen kurzen Ausflug in die Freiheit dann sehen, wenn sie den Vorschriften und der Zwanghaftigkeit ein Schnippchen schlagen. Damit soll durchaus nicht etwa behauptet werden, daß alle Hilfsbedürftigen Schauspieler seien, es soll nur aufgezeigt werden, daß es keinen objektiven Maßstab für den Grad der

Hilfsbedürftigkeit gibt. Wir wollen und dürfen nicht die Tatsache übersehen, daß die Zahl der sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ ständig wächst und daß sie an Umfang und Gewicht zunehmen, wir dürfen auch nicht an den Feststellungen namhafter Wissenschaftler Amerikas und Europas vorbeigehen, die berichteten, daß nach ihren Untersuchungen 60 bis ?0 Prosent aller Krankheiten durch Zivilisationsschäden verursacht werden oder auf hysterischer Grundlage (im weitgehendem Sinne) beruhen und daß darin die Hauptursache der Krise der sozialen Sicherheit zu erblicken ist.

Jedenfalls kann gesagt werden, daß die Krise nicht von der Sozialversicherung selbst verursacht worden ist, sondern daß sie nur aus der allgemeinen Lage erklärt werden kann. Sie wäre nicht möglich, ohne ein allgemein verbreitetes Verhalten der Menschen, das sie vorbereitet und herbeiführt. Die am Steuer der Sozialversicherung Sitzenden müssen lediglich notwendige Konsequenzen ziehen. Und sie müssen dies vielfach entgegen ihrer persönlichen Auffassung tun.. Es ist das Leben selbst, das für praktische Probleme Lösungen sucht, und die Steuermänner sind oftmals nur Medien wirksamer, doch unsichtbarerer Kräfte.

Wenn nun gesagt werden muß, daß der Sozialismus vom Liberalismus den Hang wir Utopie und den Glauben an sie geerbt hat, so darf man andererseits nicht die Tatsache übersehen, datt den konservativen Kreisen wegen der Entfernung Von der lebendigen Problematik vielfach das notwendige Verständnis für Fragen einef modernen Sozialpolitik mangelt, daß sie sich nicht immer vom Gesichtspunkt kleiner Augenblicks- oder Gruppeninteressen lösen können. In der Praxis erweist sich diese Haltung sehr oft als Schrittmacher der Bestrebungen jener, die man bekämpfen und treffen will. Kampf ist trotzdem notwendig, ebenso wie Kritik, um die Weite des Horizonts zu gewinnen, um die Erfahrung und das gute Wollen vieler zu vereinen, jedoch nur dort, wo ein Kampf oder eine Kritik sachlich berechtigt sind.

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