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Die kranke Krankenkasse

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Die soziale Sicherung — nach dem Zerfall der Großfamilie unbestritten eine der Hauptaufgaben des modernen Staatswesens — ist im Spannungfeld „Freiheit—Bindung— Gleichheit“ beheimatet. Ihrer konkrete Gestartungsform im Spannungsfeld widerspiegelt die gesellschaftspolitischen Leitbilder ihrer Gestalter.

Ziel jeder Sozialpolitik und damit der sozialen Sicherung war und ist, den Menschen aus seiner Not zu befreien, aus der Not der Krankheit, des Alters, der Arbeitsunfähigkeit, der Arbeitslosigkeit. Freiheit wollten die Kämpfer für die ersten Einrichtungen der sozialen Sicherung schaffen. Verständlich, daß sie angesichts der Größe der Aufgabe und ihrer revolutionären Begeisterung für das Neue, den Gedanken der Solidarität, des „Einer für alle, alle für einen“, keinen Gedanken an die alte Weisheit verschwendeten, daß alles im Leben seinen Preis hat. Die aus dem Zusammenschluß der Vielen erstrebte „Situationsfreiheit“ muß notwendigerweise mit einer Einschränkung der „Gestaltungsfreiheit“ erkauft werden.

Krankheit und Alter, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, ja selbst der Tod des Familienernährers haben im modernen Sozialstaat in wirtschaftlicher Hinsicht viel von ihren Schrecken verloren. Für Krankenbehandlung, Krankengeld, Alters- und Hinterbliebenenpensionen und Invalidenrente ist mit wenigen Ausnahmen gesorgt. Die Situationsfreiheit ist weitgehend gesichert. Der Preis dafür sind hohe Soziallasten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ebenso wie für große Gruppen freiberuflich Tätiger, ein gesetzlich oder durch Satzungen und Krankenordnungen bis ins Letzte geregeltes System, das keinen Raum für individuelle Gestaltung oder differenzierte Verhaltensweisen läßt. Die Gestaltungsfreiheit ist über weite Gebiete empfindlich eingeschränkt. Das System der sozialen Krankenversicherung ist in Österreich aus der historischen Entwicklung heraus sehr bunt und vielfältig, sachlich wie territorial unterschiedlich gegliedert, ohne daß eine einheitliche Grundidee erkennbar wäre. Verzichtet man auf für eine gesellschaftliche Wertung überflüssige Details, kann man vier Gruppen erkennen:

• „ASVG-Kassen“, Gebietskrankenkassen, Betriebskrankenkas-sen, Landwirtschaftskrankenkassen, die Versicherungsanstalten der Eisenbahnen sowie des Bergbaues.

• Die Beamtenkrankenversicherung und die ähnlich organisierten Krankenfürsorgeanstalten (Gemeinde Wien, Oberösterreichische Lehrer usw.).

• Die Selbständigenkrankenkas-sen.

• Die Bauernkrankenkasse.

Allen gemeinsam ist die ambulante ärztliche Behandlung auf Krankenschein (in der Bauernkrankenkasse im Gesetz vorgesehen, mangels vertraglicher Vereinbarungen mit den Ärzten aber bisher nicht realisiert), bei der Beamtenkrankenversicherung und den Selbständigen-Kran-kenkassen mit Selbstbehalten, sonst völlig auf Kassenkosten. Ebenso bieten alle den Ersatz der Medikamentenkosten abzüglich einer Rezeptgebühr und — bei den Selbständi-gen-Krankenkassen — eines Selbst-behaltes sowie Ersatz der Kosten von Heilbehelfen, durchwegs mit Selbstbehalt. Übereinstimmend bieten allo Krankenkassen die Krankenbehandlung in der allgemeinen Gebührenklasse öffentlicher Krankenhäuser, die Bauernkrankenkasse berechnet für alle ihre Versicherten, die ASVG-Kassen für die mitver-sdcherten Angehörigen einen zehn-prozentdgen Selbstbehalt in den ersten vier Wochen. Die Kassen der Unselbständigen (ausgenommen Beamtenkrankenversicherung) entrichten überdies ein Kranken- und ein Familiengeld, alle Kassen noch kleinere Nebenleistungen. Erfaßt sind durch die Krankenversicherung rund 95 Prozent aller Österreicher, die übrigen haben die

Möglichkeit, sich freiwillig einem Krankenversicherungsträger anzuschließen. Nur fÜT den Selbständigen kann der krankheitsbedingte Verdienstausfall zum Problem werden.

Den Ärzten — die in der Mehrzahl in einem Vertragsverhältnia zu einem oder mehreren Versicherungsträgern stehen — bietet die soziale Krankenversicherung ein gesichertes Einkommen. Ein Kassenvertrag ist beinahe wie ein Angestelltenverhältnis.

Die Wartezimmer sind überfüllt und zwingen zu rationeller Behandlung. Die Gleichartigkeit der Verträge, die praktisch die Einkommensmöglichkeiten der Ärzte fixieren, vertreibt sie aus den Landgebieten und ist damit eine der Wurzeln des Land-ärzteproblems. Für die Verschrei -bung der Medikamente bestehen bei den großen Kassen — bezeichnenderweise nicht bei den kleinen Kassen der Selbständigen — strenge Vorschriften, was, wann und in welchem Umfang verschrieben werden darf. Heilbehelfe gibt es in Einheitsausführung, der Träger einer „Krankenkassenfassung“ etwa fühlt sich sozial diskriminiert. Krankengeldbezieher und Hausarzt werden von Kontrolloren und Gruppenärzten überprüft. Die allgemeine Gebührenklasse der Krankenanstalten leidet sehr oft unter mangelhafter Einrichtung der Krankensäle und Überforderung der Ärzte und des Pflegepersonals. Zudem werden die Pflegegebühren nicht primär nach dein tatsächlichen Kosten, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Kassen bestimmt. Das daraus resultierende „Von der Hand in den Mund leben“ der Krankenanstalten lähmt das gesamte Spitalswesen.

Das in den ASVG-Kassen durchwegs übliche Pauschalhonorar zwingt den Arzt, pro Schein möglichst wenige Verrichtungen zu setzen. Er verweist nach ein, zwei Ordinationen oder Visiten an den Facharzt oder in das Krankenhaus. Der Fall ist für ihn wirtschaftlich nicht mehr tragbar.

Starre Bindungen, Gleichmacherei, enge Vorschriften ohne Möglichkeit individueller Entscheidungen stehen im Widerstreit zur erträumten Freiheit — das Spannungsfeld ist umrissen.

Volkswirtschaftlich bedeutet das die Bindung namhafter Kapitalbeträge für einen an sich guten Zweck, die mit zweifelhafter Effizienz angelegt werden. Die Notschreie der spitalserhaltenden Gemeinden lassen ahnen, welche Lasten das System und die daraus resultierenden — derzeit bei ungefähr 2,5 Milliarden Schilling jährlich stehenden — Defizite der Krankenanstalten ihnen auflasten. Wer kein realistisches Budget hat, wer von einem Tag zum anderen lebt, wirtschaftet schlecht — das Karussell dreht sich und die Verluste wachsen.

Noch wesentlicher erscheint aber, daß das derzeitige System der sozialen Krankenversicherung im Durchschnittsösterreicher den Eindruck entstehen ließ, Kranksein wäre eine Angelegenheit, die vornehmlich die anderen angehe. Die Gesellschaft habe für die Betreuung, die Medikation, den Ersatz des Verdienstentganges zu sorgen — schließlich zahlt er ja jeden Monat dafür. Er hat den Sinn dafür verloren, daß Gesundheit eine höchst persönliche Angelegenheit ist, die vor allem eigene Anstrengungen verlangt. Wie eine Meinungsumfrage der privaten Krankenversicherung im Jahre 1969 ergab, hatten die Befragten meist keine Ahnung, wie hoch ihr Beitrag ist und was die Kasse dafür zu leisten hat. Irgendwie erinnerten sie sich dunkel, daß die Leistungen sehr bescheiden wären. Anders war es mit den privat krankenversicherten Personen: Sie wußten sowohl über die Höhe ihrer Beiträge als auch über die Höhe der zu erwartenden Leistungen erstaunlich gut Bescheid.

Der Gedanke liegt nahe, daß es ein System zu suchen gilt, das mehr persönliche Entscheidungs- und mehr Gestaltungsfreiheit bietet, Gleichheit und Bindung ins rechte Verhältnis zur angestrebten Freiheit setzt.

Angelpunkt all dieser Überlegungen ist der Arzt, seine Stellung im Gesundheitswesen und die Art, wie er seine Aufgabe lösen kann und löst. Betrachtet man das Verhältnis Arzt-Patient-Kassen ungetrübt von sozialromantischen Vorstellungen, wird sehr bald deutlich, daß in diesem System ökonomische Gesetzmäßigkeiten wirksam werden. Philipp Herder-Dorneich hat in der deutschen Sozialenquetenkommis-sion diese Gesetzmäßigkeit erstmals aufgezeigt und damit allgemeine Zustimmung gefunden. Nach seinen Feststellungen entfaltet sich das Verhältnis Arzt—Patient in einem Markt für Gesundheitsleistungen. Diesem Markt fehlt aber eine autonome Nachfrage und der wirksame Steuerungsmechanismus des Preises und der Kaufkraft. Der Arzt bietet auf diesem Markt ja nicht nur seine Leistungen an, er bestimmt auch sehr wesentlich die Nachfrage: er stellt die Krankheit fest, steuert die Therapie, sagt sich zum Hausbesuch an oder lädt in die Ordination ein. Wird auf dem normalen Markt das nahezu . unbeschränkte Verlangen der Konsumenten nach den Gütern des Marktes durch ihre beschränkten Mittel in Grenzen gehalten, so steht dem Konsumbedürfnis an Gesundheitsleistungen dann nichts im Wege, wenn alles von einem Dritten, der Kasse, zu bezahlen ist. Die Krankenversicherung hat zu allen Zeiten versucht, hier einzuhaken und durch ihre Honorarpolitik und Vorschriften den Markt in den Griff zu bekommen. Sie hat damit das Pferd vom Schwanz aufgezäumt, weil sie nicht das Konsumverlangen in geordnete Bahnen gelenkt, sondern nur den Preis gedrückt hat, um finanziell über die Runden zu kommen. Eine leistungsgerechte Entlohnung durch ein sinnvoll gestaltetes Einzelleistungshonorar oder das von Theodor Tomandl in die Diskussion geworfene „Zeithonorar“ mit einem leistungsabhängigen Zuschlagshonorar könnte bessere Lösungen bringen. Sie führen den Arzt weg von der Quantität zur Qualität. Die schwierige, lang dauernde Behandlung wird interessant und lukrativ, der Wald- und Wiesenfall uninteressant — bei den ASVG-Kassen ist es derzeit im allgemeinen umgekehrt. Die Vorteile liegen auf der Hand. Auch der Steuerungsfaktor Preis muß in geeigneter Weise reaktiviert werden. Unglücklicherweise ist dieser Punkt emotional ungeheuer belastet. Die im Schatten der Konjunktur lebenden alten Menschen, die kinderreichen Familien und die chronisch Kranken können ohne weiteres ausgenommen bleiben. Wer meint, ein eigener Beitrag würde die Versicherten hindern, eine notwendige Behandlung zu suchen, wird bei näherer Betrachtung erkennen müssen, daß mangelndes Verantwortungsbewußtsein ohnehin nicht durch den Krankenschein ersetzt werden kann. In einer Zeit, in der „Demokratisierung“ zum großen Schlagwort .geworden ist, muß man den Menschen auch zutrauen, den rechten Augenblick für den Weg zum Arzt zu erkennen. Die Ersparnis etwa in der Höhe eines Straßenbahnfahrscheines kann da sicher nichts mehr dazutun. Allerdings ist — es wurde schon gesagt — durch jahrzehntelange Erziehung vieles verdorben. Wir wünschen uns zu allen Gelegenheiten vor allem Gesundheit und bezeichnen sie gerne als das Wichtigste. Es fällt uns aber doch schwer, für dieses vielzitierte höchste Out dann und wann ein paar Schillinge auf den Tisch eines Arztes oder einer Apotheke zu legen. Doch gibt es keine andere Methode, den heute weit verbreiteten Gedanken an ein „Recht auf Krankheit“ umzumünzen in die Erkenntnis, daß eine Krankenbehandlung jedenfalls Geld, viel Geld kostet. Überdies könnte mit einem solchen System eine echte Wahlmöglichkeit zwischen allen Ärzten geschaffen werden. Beim Nichtvertragsarzt ist einfach der Selbstbehalt höher.

Es bleibt die Neugestaltung des Spitalswesens als dringendes Gebot. Zu denken wäre an die innere Struktur der Krankenhäuser, der Verwaltung und an die Behandlungsmethoden. Auch hier der Ruf nach mehr Gestaltungsfreiheit Weit über eine Million Österreicher ist privat zusatzkrankenversichert und ermöglicht sich damit wirtschaftlich eine Behandlung in der gehobenen Gebührenklasse. Da derartige Versicherungen zumeist in den krankheitsanfälligen höheren Altersstufen abgeschlossen werden, ist die Dichte der Versicherten etwa ab dem 40. Lebensjahr wesentlich höher, als es die genannte Ziffer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung vermuten läßt. Der Gesetzgeber aber gestattet nicht mehr als 20 Prozent „Klassebetten“ in den öffentlichen Krankenanstalten, die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt löst die Klasse-abteilungen in ihren Unfallkrankenhäusern überhaupt auf. Mancherorts ist es schon schwerer, ein Bett in der zweiten Klasse zu bekommen als in der dritten. Wo liegt der Sinn? Schon die Spitalsenquete hat eine Änderung dieses Zustandes verlangt. Es blieb bisher bei der Forderung. Angemerkt sei hier, daß mit dem Ruf nach einer höheren Anzahl von

Klassebetten nicht die Meinung jener unterstützt werden soll, die auch die Kosten eines Aufenthaltes in der zweiten Gebührenklasse durch die Pflichtversicherung gedeckt wissen wollen. Das ist eindeutig das Gebiet der Eigenvorsorge und damit der privaten Versicherung.

Wer je stationäre Behandlung in Anspruch genommen hat, weiß um die Schwierigkeiten, ein Bett zu bekommen. Er mußte aber oft auch,zu seiner Verwunderung erkennen, daß es manchmal noch schwerer ist, aus diesem Bett wieder herauszukommen. Aus geheiligter Tradition wird — akute Fälle ausgenommen — erst ab dem dritten Tag wirklich behandelt. Bis dahin sind für zumeist ohnehin schon vom einweisenden Arzt veranlaßte Untersuchungen neuerlich erhebliche Kosten aufgelaufen. Ebenso entspricht es langjähriger Übung, daß am Wochenende weder behandelt noch untersucht noch entlassen wird. Zwei Tage mehr »auf der Pflegegebührenrechnung sind rasch erreicht. Mit Recht zweifeln Spitalsärzte und Patienten an der Möglichkeit einer intensiven Nachbehandlung. Also wird der Spitalsaufenthalt weiter ausgedehnt. Die leistungsgerechte Honorierung der ambulanten Behandlung in Verbindung mit einem ausgebauten Heimpflegedienst (Tomandl) — warum sollten die Kassen in den Städten nicht organisieren können, was private Vereinigungen in vielen Landgemeinden eingerichtet haben?

Schließlich wäre auch das Beitragssystem einer Überlegung wert. Dabei müßte berücksichtigt werden, daß das gesamte System der sozialen Sicherung nicht nur auf dem Beitrag der Konsumenten der Gesundhedts-leistungen, sondern auch auf der Bereitschaft der die Leistungen Erbringenden beruht, diese zu Sozialtarifen zu verrechnen. Sind dies» Sozial-tarife aber gegenüber allen gerechtfertigt? Die Selbständigen-Kranken-kassen haben diese Frage verneint und eine Abstufung eingeführt, In den Verhandlungen um die Bauernkrankenkasse wurden ebenfalls Vorschläge in dieser Richtung gemacht. Die ASVG-Kassen und die Beamtenkrankenkasse beharren auf ihrem System. Wenn man sich zu einer Versicherungspflichtgrenze nach deutschem Muster oder einer

Versicherungsberechtigunigsgrenze entschließen könnte, wäre der Weg zu einer drastischen Erhöhung der Höchistbemessungsgrundlage oder ihrer Streichung — eventuell verbunden mit einer Senkung des Beitragssatzes — frei. Für das Krankengeld müßte dann allerdings eine spezielle Regelung gefunden werden, etwa im Sinne eines in Verwaltungsgemeinschaft arbeitenden eigenen Versicherungsträgers.

Das Ziel aller dieser Vorschläge ist klar: Hebung der Eigenverantwortlichkeit bei allen Beteiligten. Nur durch diese und nicht durch noch so minutiöse Vorschriften, Ordnungen und Kontrollen kann die soziale Sicherung im Krankheitsfall in volkswirtschaftlich gesunder und medizinisch ausreichender Weise verwirklicht werden. Dazu käme noch die Forderung, von der bloß reagierenden Sozialpolitik zur agierenden Gesundheitspolitik fortzuschreiten.

Mehr Gestaltungsfreiheit bei unter den heutigen Gegebenheiten zumutbarer eigener Leistung im Krankheitsfall ist zu fordern, sieht man in der freien Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft das Ziel der Politik. Alles andere ist Vermassung, Unterwerfung des Menschen unter den Apparat, der ihm das Denken und Handeln abnimmt, gegen das Versprechen, in der Not dann um so wirkungsvoller zu helfen.

Gerade die Jugend will ihr Leben selbst gestalten. Sie läßt sich nicht damit trösten, daß es ihr „gut gehen wird, wenn es ihr schlecht geht“. Vorsorge ist notwendig, die Gesellschaft hat die Verpflichtung, die Einrichtungen dafür zu schaffen und den einzelnen gegebenenfalls auch mit Gesetzesgewalt dazu zu bringen, seine persönliche Freiheit zu sichern. Sie hüte sich davor, im Namen dieser Freiheit die Menschen unter einen Glassturz zu stellen und sie damit lebensuntüchitig zu machen.

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