7172665-1982_51_20.jpg
Digital In Arbeit

Wie man Kosten senken kann

Werbung
Werbung
Werbung

Die beiden letzten Jahrzehnte brachten nicht nur auf dem Sektor der meisten Wirtschaftsgüter eine unkoordinierte Angebotsausweitung, sondern machten auch vor dem Gesundheitswesen nicht halt. Der Anteil der Kosten für Gesundheit am Sozialprodukt ist in fast allen europäischen Staaten stark gestiegen. Die Erweiterung der objektiven Ansprüche durch den Gesetzgeber führte zu einer ungeahnten Steigerung der subjektiven Ansprüche der Versicherten an das System.

Unter dem Motto „Alles nehmen, was das System hergibt" vollzog sich der Wandel von einer Leistungsgesellschaft zu einer Anspruchsgesellschaft, deren überdehnter Erwartungshorizont sich in einer häufigeren und intensiveren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen niederschlägt. Die Antwort auf steigende Versicherungsbeiträge ist der gezielte Mehrkonsum medizinischer Güter.

In unserer Gesellschaft hat eine weitgehende Zerstörung des Vorsorgegedankens um sich gegriffen. An seine Stelle trat ein finanziell aufwendiges Bereitstellungssystem. Die große Zahl an Ärzten, Akutbetten und teuren Apparaturen verursacht gigantische Kosten — unabhängig davon, in welchem Maße die Einrichtungen benötigt bzw. genutzt werden.

Die immer rascher steigenden Beiträge führen dem Staatsbürger vor Augen, daß er Kostenträger eines Systems ist, das ihn heute bei großen Risken (z. B. Pflegefälle) nicht überall voll schützt, ihm aber in Bagatellfällen (z. B. Kopfwehpulver auf Krankenscheck und eine Woche Krankenstand) eine Uberversorgung präsentiert. Die auf Kostenersparnis ausgerichtete Pauschalhonorie-rung für alle Dienstleistungen der niedergelassenen Ärzte oder Spitäler hat genau das Gegenteil bewirkt.

In den überfüllten Arztpraxen werden meist leichtere Fälle behandelt und schon mittelschwere Fälle müssen an die wesentlich teureren Spitäler weiterverwiesen werden. Ganze Krankenhausabteilungen, die man für Schwerkranke schuf, werden auf diese Weise blockiert.

Kostendämpfende Maßnahmen wurden in einer Reihe von Staaten ergriffen — auf unterschiedliche Weise und mit ebenso unterschiedlichem Erfolg. Bisher gibt es zwar interessante Ansätze, aber keine allgemein gültige Methode, wie man die weltweite Kostenexplosion im Gesundheitswesen in den Griff bekommt. Die bisherigen Bemühungen lassen jedoch erkennen: Da Ärzte, Krankenhäuser, Patienten und pharmazeutische Betriebe die Verursacher der Ausgaben sind, kann eine wirksame Kostenbekämpfung nur mit Maßnahmen, die alle Genannten betreffen, erfolgen.

Nach internationaler Auffassung liegt in der Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten und Spitälern der erste Ansatzpunkt, die Kosten wirksam zu senken.

In Bayern etwa gelang es durch den sogenannten „Bayern-Vertrag", den 1979 die gesetzlichen Krankenversicherungsträger mit der frei praktizierenden Ärzteschaft und der kassenärztlichen Vereinigung abschlössen, die Kostensteigerung der letzten Jahre stark einzudämmen. Das Vertragswerk geht von der Tatsache aus, daß der frei praktizierende Arzt die entscheidende Rolle für die Kosten im Gesundheitswesen spielt. Er kann im Rahmen des medizinisch Erforderlichen am ehesten ökonomisch handeln, indem er die teure stationäre Behandlung im Krankenhaus auf ein wirklich notwendiges Maß senkt und selbst möglichst viel diagnostiziert und behandelt. Er vermag aber auch am besten, die gezielte Verordnung von Arzneien und physikalischen Leistungen durchzuführen.

Durch diese Maßnahmen trägt der niedergelassene Arzt dazu bei, die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Patienten auch im Hinblick auf ihre .volkswirtschaftliche Bedeutung zu erhalten. Um nun Kosteneinsparungen in der erwähnten Art zu ermöglichen, wurde durch den „Bayern-Vertrag" den frei praktizierenden Ärzten eine Überschreitung des bisher beschränkten Honorarzuwachses gestattet, wenn Einsparungen bei anderen Versorgungsformen erzielt werden können.

Auch in den Niederlanden befürwortet man eine Verlagerung der Gesundheitspflege von der zweiten Linie (Krankenhaus) nach der ersten Linie (Hausarzt, Hauspflege). Daher zielt die Regierungspolitik seit einigen Jahren dahin, die Anzahl der teuren Akutbetten in den Spitälern zu senken.

In Österreich könnte eine verstärkte Zusammenarbeit die Verweildauer in Spitälern senken. Für die Patienten würde die medizinische Versorgung dadurch zugänglicher und weniger zeitaufwendig werden. Bei Befragung von Experten im Rahmen einer „Studie über die zukünftige Entwicklung des österreichischen Gesundheitswesens" wurde eine Kooperation im Rahmen der Diagnostik, Therapie und Nachsorge vorgeschlagen.

Ein interessanter Vorschlag ist die Einführung einer einheitlichen Befundmappe, die der Patient oder praktische Arzt aufbewahrt. Diese Befundmappe könnte im Bedarfsfall im Spital als anerkanntes Diagnosematerial verwendet werden. Dabei würden zeitraubende Doppelgleisigkeiten bei Untersuchungen vermieden werden.

Experten vertreten die Auffassung, daß niedergelassene Ärzte Krankenhauseinrichtungen gegen ein festgesetztes Entgelt auf begrenzte Zeit benützen könnten. Dies gilt insbesondere für Operationen durch Ärzte, die nicht dem betreffenden Krankenhaus angehören. Viele Operationssäle sind ja heute ungenügend ausgelastet. Das Belegprinzip existiert bereits in Ansätzen. Im Zuge einer weiteren Kooperation könnten auch Apparategemeinschaften bzw. Gruppenpraxen entstehen. Unter Apparategemeinschaften versteht man, daß mehrere Ärzte zwar in Einzelpraxen ordinieren, aber gemeinsam Apparaturen für Labor und physikalische Medizin nutzen. Bei der Gruppenpraxis ordinieren praktische Ärzte und Fachärzte mehrerer Fachrichtungen in einem räumlichen Komplex.

Uber ein Drittel der „Akutpflegetage" könnte in den kostengünstigeren Bereich einer gutorganisierten Hauskrankenpflege — etwa nach dem Prinzip der Sozialmedizinischen Zentren in Frankreich — verlagert werden, ohne daß die Qualität der medizinischen Betreuung schlechter würde.

Die Hauskrankenpflege ist allerdings nur eine Alternative. Nachsorge und Leichtpflege im Krankenhaus selbst würden ebenfalls eine Entlastung bringen, da in derartigen Abteilungen die Kosten pro Bett nur etwa halb so hoch wären.

Am schwersten sind erfahrungsgemäß Fehlentwicklungen zu korrigieren, die aus dem Verhalten von Menschen resultieren. Zu ihnen gehören ohne Zweifel ausgeuferte Ansprüche vieler Versicherter. In der Bundesrepublik Deutschland versucht man, mit einer Kombination von Maßnahmen die Kosten in den Griff zu bekommen.

In der privaten Krankenversicherung gewinnt die Beitragsrückerstattung an Versicherte, die keine Leistungsansprüche stellen, wieder an Bedeutung. Sie verhindert zumindest Inanspruchnahmen bei geringen Kdstenhöhen. Dabei versucht man, die Versicherten möglichst früh über die zu erwartenden Rückerstattungen zu informieren, damit sie hinsichtlich ihrer Leistungsinanspruchnahme besser disponieren können.

Auch die genaue Prüfung durch den Versicherer, ob Leistungsansprüche wirklich zu Recht bestehen, stellt eine wichtige Maßnahme für die Zukunft dar. Falsche Großzügigkeit der Versicherer im Einzelfall belastet nicht nur die Versicherten, sondern provoziert noch weiter ausufernde Ansprüche. Schließlich ist die Aufklärung der Versicherten in zwei Richtungen notwendig: Steigerung der Leistungsansprüche bedeutet auf lange Sicht Steigerung der Prämien. Andererseits spart eine gesündere Lebensweise und eine Besinnung auf vernünftige Vorsorge vor Krankheiten nicht nur Kosten zugunsten aller, sondern nützt auch dem aufgeschlossenen Versicherten selbst.

Demgegenüber schafft in der gesetzlichen Krankenversicherung die Selbstbeteiligung der Versicherten, wenn sie nicht zu hoch, aber ausreichend fühlbar ist, Bewußtsein und Vorsicht bei Inanspruchnahme der Leistung. In Luxemburg schlagen einige Experten sogar vor, die Lohnfortzahlung während der ersten Krankentage zu verringern bzw. unbezahlte Karenztage einzuführen.

Auch der Hinweis, Privatpatienten mögen bei ihren Gesprächen mit Spitalsärzten und -Verwaltern die Kostenfrage berühren, hat bereits in einigen europäischen Ländern Wirkungen gezeigt. So gibt es etwa in Belgien in der Stadt Leu (Löwen) ein Spital, in dem der Patient über alle Kosten detailliert benachrichtigt wird. Jede Mahlzeit, jede Tablette oder Injektion ist — wie in einem Supermarkt — mit einer Preisetikette ausgestattet. Auch für jede Arztvisite wird ein Beleg überreicht.

Immerhin zeigt in Belgien die Entwicklung der Zuwachsraten im Gesundheitswesen ständig rückläufige Tendenz.

In Österreich wird zur Beseitigung des ökonomischen Anreizes für Spitäler, lieber weniger Patienten länger als mehr Patienten kürzer zu behandeln, von Experten die Einrichtung der degressiven Pflegegebühr vorgeschlagen. Dies würde eine volle Pflegegebühr nur für die ersten Tage im Hinblick auf die diagnostischen und therapeutischen Leistungen bedeuten, während — je nach Krankheit - ab einem bestimmten, festzulegenden Pflegetag nur noch der Kostenersatz für die „Hotelfunktion" ausbezahlt wird. Diese Art der degressiven Pflegesätze würde auch die Bereitschaft der Krankenhäuser zur Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten fördern.

In der BRD wurde noch 1981 (damals war die Inflationsrate höher als 1982) von Wirtschaftsexperten und dem Bundesverband der pharmazeutischen Industrie die Auffassung vertreten, daß bei der Entwicklung der Arzneimittelumsätze den pharmazeutischen Herstellern ein Verzicht auf Preiserhöhungen für mindestens ein Jahr zugemutet werden kann. In Zukunft soll eine Empfehlung der Marktbeteiligten, und zwar der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, der Apotheker und der Pharmaindustrie, dazu beitragen, über einheitliche Packungsgrößen von Arzneimitteln den Ärzten eine therapiegerechte und damit kostensenkende Verordnung der Medikamente zu erleichtern.

Es ist ferner beabsichtigt, die Ärzte durch eine Verbesserung der Information über Verordnungsverhalten bei den Bemühungen um wirtschaftliche und zweckmäßige Verordnungsweise zu unterstützen.

Die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen im Gesundheitswesen ermöglicht einen Ausweg aus dem Kostendilemma. Sie bedeutet eine Rückkehr des Staatsbürgers zum Vorsorgegedanken in der Weise, daß sich jeder fragt: Welcher Bedarf ist entbehrlich?

Diese Frage kann jedoch nur dann ehrlich beantwortet werden, wenn der einzelne finanziell mitverantwortlich ist. Finanzielle Mitverantwortung bedeutet die Übernahme eines beschränkten finanziellen Anteils an den Kosten, die er selbst verursacht. Das gilt für Ärzte, Spitalserhalter und Pharmazeuten ebenso wie für Patienten.

Der Autor ist Generaldirektor der Austria Versicherungen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung